Feature | Krieg / Frieden - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Stimmen aus Gaza

Ein neuer Sammelband verschafft den unter den israelischen Angriffen leidenden Menschen in Palästina Gehör.

Information

Autorin

Karin A. Gerster,

Kinder spielen am Strand von Khan Yunis trotz des anhaltenden Krieges, 30. Dezember 2024.
Kinder spielen am Strand von Khan Yunis trotz des anhaltenden Krieges, 30. Dezember 2024.  Foto: IMAGO / NurPhoto

In der aktuellen Weltlage ist es von entscheidender Bedeutung, die Stimmen derjenigen zu hören, die direkt von Konflikten und Kriegen betroffen sind. Während Analyst*innen wertvolle Einblicke in die Hintergründe und konkrete Logistik bewaffneter Konflikte liefern, ist es ebenso wichtig, den Menschen vor Ort Gehör zu verschaffen. Diese Notwendigkeit ist seit dem 7. Oktober 2023 besonders dringlich, da die israelische Regierung den Zugang der internationalen Presse nach Gaza eingeschränkt hat. Sowohl in Gaza als auch im Westjordanland sind palästinensische Journalist*innen gezielten Angriffen ausgesetzt, was die Verbreitung verlässlicher Informationen weiter erschwert.

Karin A. Gerster leitet das Regionalbüro Palästina und Jordanien der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Ramallah.

Trotz der vielen Herausforderungen hat eine internationale Gruppe progressiver Journalist*innen es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen in ganz Palästina zu kontaktieren und ihre Geschichten mit der Welt zu teilen. Nichtsdestotrotz bleiben große Teile der Weltöffentlichkeit – insbesondere im Westen – stumm, vernachlässigen ihre Pflicht, Informationen zu überprüfen und verlassen sich stattdessen auf unbestätigte Behauptungen. Angesichts des – inzwischen von einer Waffenruhe unterbrochenen – genozidalen Kriegs in Gaza und der eskalierenden illegalen Besetzung des Westjordanlands und Ostjerusalems zeugt diese mangelnde Bereitschaft zur Überprüfung, gelinde gesagt, von einer großen Verantwortungslosigkeit.

Die Menschen in Gaza sind sich der Zensurmechanismen, die ihre Stimmen in den westlichen Medien zum Schweigen bringen, sehr bewusst. Daher haben sie sich Sozialen Medien wie Instagram, Facebook, X, Telegram und TikTok zugewandt, um ihre Erfahrungen und Perspektiven mitzuteilen. In ihrer von ausländischer Besatzung, Krieg, Zerstörung, künstlich herbeigeführter Hungersnot, Vertreibung und von unzähligen Todesopfern geprägten Lage versuchen diese mutigen Menschen in Gaza, als das anerkannt zu werden, was sie wirklich sind: Menschen mit all ihren Facetten und nicht die stark vereinfachten und klischeehaften Darstellungen, die oft in den Medien zu sehen sind.

Um den Stimmen aus Gaza mehr Gehör zu verschaffen, begannen Mahmoud Muna, Buchhändler und Autor aus Ostjerusalem, und der britische Schriftsteller und Journalist Matthew Teller Anfang 2024 gemeinsam mit Juliette Touma, Leiterin der Kommunikationsabteilung des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) und zuständig für Palästina, Syrien, Libanon und Jordanien, sowie Jayyab Abusafia, einem heute in London lebenden Journalisten aus dem Flüchtlingslager Jabalia, ein gemeinsames Buchprojekt mit dem Titel «Daybreak in Gaza: Stories of Palestinian Lives and Culture» (Morgengrauen in Gaza: Geschichten über das Leben und die Kultur der Palästinenser*innen). Der Sammelband wurde am 3. Oktober 2024 von Saqi Books veröffentlicht und zielt darauf ab, den Menschen aus Gaza und der Gaza-Diaspora eine Stimme zu geben.

Durch Einzelinterviews und die Transkription von WhatsApp-Sprachnachrichten versammelt «Daybreak in Gaza» zahlreiche persönliche Erfahrungsberichte. Der Sammelband beleuchtet nicht nur die menschlichen Kosten des andauernden Krieges, sondern trägt auch dazu bei, den Diskurs über den Krieg selbst zu erweitern, indem er verschiedene Perspektiven präsentiert. Letztlich ist das Buch ein Aufruf, die Menschlichkeit derer anzuerkennen und zu würdigen, die im westlichen Narrativ allzu oft ausgelassen werden.[1]

Empathie, Mitgefühl, Rücksicht, Toleranz, Respekt und Würde – das sind die Eigenschaften, die uns als Menschen verbinden. Doch angesichts des genozidalen Krieges scheinen diese Grundwerte immer mehr in Vergessenheit zu geraten. «Nie wieder» darf keine leere Phrase sein, sondern muss ein globales Gelübde sein, das ausnahmslos in allen Nationen und unter allen Umständen gilt.

Dein Gelübde ist wahr

Foto: Passages Through Genocide

Hiba Abu Nada (1991–2023) war eine palästinensische Schriftstellerin und Pädagogin. Ihr Roman «Oxygen Is Not for the Dead» (Sauerstoff ist nicht für die Toten) wurde 2017 mit dem Sharjah Award for Arab Creativity ausgezeichnet. Kurz nach ihrem letzten Tagebucheintrag vom 20. Oktober 2023 wurden Hiba und ihre Familie bei einem israelischen Luftangriff in ihrem Haus in Chan Yunis getötet.

9. Oktober 2023, 16:52 Uhr

In jedem früheren Krieg gab es eine Art Muster für die Ziele der Entität, einmal waren es Familien, ein anderes Mal Moscheen, ein anderes Mal Straßen, ein anderes Mal Grenzgebiete oder Stadtzentren, ein anderes Mal Hochhäuser, es gab eine Art Plan für die Explosionen, den wir nachvollziehen konnten, wir, die wir unter den Explosionen standen, und daraus konnten wir die Ziele und die Flugbahn ableiten, und wie lange der Krieg dauern würde.

Diesmal gibt es kein Muster, alles wird bombardiert, jeder frühere Krieg wird in diesen Krieg hineingezwängt, Gaza wird vom Norden bis zum Süden in chaotischer, katastrophaler Weise bombardiert, es gibt Massenabschlachtungen, sinnlose Attentate auf alles. Aber es ist unsere Ausdauer und unser Glaube an Gott, der es uns ermöglicht, die Flugzeuge zu betrachten und ruhig zu werden, bevor wir zu weinen beginnen, oder wenn wir nach der Stille zu weinen beginnen und sagen: O Gott, wir haben niemanden außer Dir.

Ein Kriegstagebuch

Foto: Palm Media / MAP

Mohammed Aghaalkurdi wurde 1993 in Gaza-Stadt geboren und arbeitet als Arzt. In seinem Tagebucheintrag beschreibt er zunächst die Schönheit des Meeres und seine aktuelle Bedeutung als Ort zum Waschen und als Nahrungsquelle, gefolgt von einem kindlichen Blick auf den Krieg.

9. Februar 2024

Es ist ein sonniger Tag, und wenn es keinen Krieg gäbe, hätte ich ihn damit verbracht, im offenen Meer zu schwimmen. Als ich auf der Küstenstraße nach Rafah fahre, sehe ich Menschen und Fischer, die sich am Ufer versammeln, während das klare Wasser diejenigen, die zu Hause kein Wasser haben, zum Baden und Waschen einlädt. Die Menschen folgen der Einladung des Meeres. Ich sehe Dutzende, die mit Duschgel und voller Freude ins Wasser laufen. Ich bleibe stehen, um die Szene zu bewundern und etwas über Widerstandsfähigkeit zu lernen. Das fröhliche Lachen der Menschen bringt mich zum Lächeln.

Plötzlich höre ich Motoren aufheulen. Als ich über das Wasser schaue, sehe ich zwei bewaffnete Boote auf den Strand zusteuern. Als sie sich den Fischerbooten nähern, eröffnen sie das Feuer. Alle sind verängstigt und versuchen zu fliehen, während die bewaffneten Boote wahllos weiter feuern. Unser harmloser Akt der Unschuld und Widerstandsfähigkeit – das Fischen und Waschen – stellte keine Bedrohung dar, aber die Besatzungen dieser Boote wollen uns daran erinnern, dass sie nicht nur das Land und den Luftraum kontrollieren, sondern auch das, was wie ein offenes Meer aussieht.

8. April 2024

Mein fünfjähriger Neffe, der süße Omar, hat uns heute zum Lachen gebracht. Er betrachtet dies als einen Krieg gegen die Kinder. Wir hörten, wie er zu seiner Mutter gesagt hat: «Die Erwachsenen können zumindest Kaffee auf dem Markt kaufen. Kinder wie ich finden keine Knabbereien oder Lutscher. Verstehst du jetzt, warum sich dieser Krieg gegen uns richtet und nicht gegen euch?»

Sicherheitszonen

Ibrahim Yaghi ist ein in Gaza lebender palästinensischer Journalist, Menschenrechtsaktivist, Dichter und Schriftsteller. Er beschreibt die ständige israelische Überwachung und die Ironie der «Sicherheitszonen» im Krieg.

Es war 9:00 Uhr am 11. Dezember 2023. Ich saß gerade mit meiner Familie beim Frühstück in unserem Haus in der Al-Meshal-Straße im Stadtteil al-Rimal in Gaza-Stadt, als das Telefon meines Bruders klingelte. Wir konnten an der Vorwahl erkennen, dass es sich nicht um eine Nummer aus Gaza handelte. Mein Cousin Hesham nahm den Anruf über den Lautsprecher entgegen. «Hallo Hesham, hier ist die israelische Armee», sagte eine Stimme auf Arabisch. Im Raum wurde es still. Meine Mutter, meine Tanten und meine Cousins brachen in Tränen aus. «Verlassen Sie Ihr Haus und begeben Sie sich zum humanitären Korridor», sagte die Stimme. «Nehmen Sie Ihre Ausweise und eine weiße Flagge mit. Jetzt.»

Hesham antwortete: «Wir haben fünf ältere Menschen mit chronischen Krankheiten und Verletzungen hier, darunter mein Onkel, der gelähmt ist.»

«Das ist nicht mein Problem», sagte der israelische Soldat, «finden Sie eine Lösung und evakuieren Sie in den Süden, oder Sie und Ihre Familie werden unter den Trümmern sterben.» Damit beendete er das Gespräch.

Irgendwie wusste die israelische Armee, dass sie das Telefon meines Bruders anrufen musste – und irgendwie wussten sie, dass mein Cousin Hesham abnehmen würde. Sie scheinen alles über uns zu wissen. Das haben sie zugegeben. Sie wissen immer, wo wir sind. Sie wissen bei jedem Luftangriff, welche Palästinenser*innen getötet werden. «Alles ist beabsichtigt», hat eine israelische Militärquelle gesagt. «Wir wissen genau, wie viel Kollateralschaden es in jedem Haus gibt.»

Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich konnte weder hören, noch mich bewegen oder denken. Ich sollte anderen helfen, die in größerer Not waren als ich, aber ich war es, der Hilfe brauchte. Dann schrie mein Vater: «Fang an zu packen! Mach dich bereit für das, was kommt, und hilf deinem Onkel.»

Wir brachen um 10:30 Uhr auf und erreichten die Salah al-Din-Straße, die als «sichere» Zone ausgewiesen war. Dort schlossen wir uns Tausenden anderer Flüchtender an und trugen, wie befohlen, eine weiße Flagge, das Symbol der Kapitulation und machten uns auf den Weg. Es waren so viele Menschen unterwegs, dass ich von meiner Familie getrennt wurde. Mit jeder Minute, die verging, wuchs der Hunger in unseren Mägen, eine ständige Erinnerung an unsere verzweifelte Lage. Dieser sogenannte humanitäre Korridor lässt sich auf viele Arten beschreiben, aber human oder angenehm war er nicht. Ich würde ihn einen verdorbenen Korridor nennen. Die Straße stank nach verwesendem Fleisch. Gott allein weiß, wie viele Menschen auf dieser Straße bereits getötet worden waren, ihre verwesenden Leichen lagen überall verstreut um uns herum.

Um 14:30 Uhr war ich mit Tausenden anderen schon seit Stunden unterwegs. Neben mir ging ein älterer Mann, der sichtlich Mühe hatte, Schritt zu halten. Er war dehydriert und kurz vor dem Zusammenbruch und hielt an, um etwas Wasser zu trinken. Dadurch hielt er die Leute hinter sich auf. Das nächste, was ich mitbekam, war, dass er auf dem Boden lag und sein Blut überall in meinem Gesicht war. Israelische Besatzungstruppen hatten ihn kaltblütig vor meinen Augen erschossen. Überall flogen Kugeln. Sie schossen auf uns, um uns zum Laufen zu bringen. Ich hatte eine Verletzung am Knie und die Schmerzen waren unerträglich, aber ich rannte weiter. Ich sah einen israelischen Panzer auf uns zukommen und rannte so schnell ich konnte, obwohl mein Knie nachgeben wollte. Ich stolperte und fiel, verletzte mich am Kopf, stand aber wieder auf und rannte weiter.

Mutter Courage – Nicht Brecht

Hossam al-Madhoun ist Kinderschutzbeauftragter. Er hat sich auf psychologische Unterstützung durch Geschichtenerzählen spezialisiert und ist Mitbegründer des «Theatre for Everybody» in Gaza. Inzwischen wurde er nach Rafah vertrieben, wo er zusammen mit seinem Theaterpartner Jamal al-Rozzi Therapieprogramme für Kinder entwickelt.

17. Dezember 2023

An der Wand der Schule, in der Menschen Schutz gefunden haben, breiten Verkäufer*innen ihre Waren auf kleinen Tischen, Pappkartons oder Plastikplanen auf dem Boden aus. Fleischkonserven, Thunfisch, Bohnen, Zigaretten, Zucker, Reis. Einige verdienen vielleicht 200 US-Dollar, andere kaum 30. Damit versuchen sie, sich für ein oder zwei Tage über Wasser zu halten. Eine Frau mittleren Alters, die den größten Teil ihres Haares mit einem Schleier verhüllt, backt in einem Lehmofen Fladenbrot. Vor ihr hat sich eine Schlange von Menschen gebildet, die darauf warten, das Brot zu kaufen. Ab und zu ruft sie ihren sieben- oder achtjährigen Sohn, damit er Holz ins Feuer unter dem Ofen legt. Es ist eine alltägliche Szene hier rund um die Schulunterkünfte.

Ich stand in der Schlange, als ein Journalist die Frau für ein Interview ansprach. Ohne ihn anzusehen, sagte sie: «Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin.» Der Journalist war geduldig und höflich. Er fragte, ob er sie zur Dokumentation des Marktes und des Lebens in Notunterkünften filmen dürfe. Sie zuckte mit den Schultern und der Reporter gab dem Kameramann ein Zeichen, mit dem Filmen zu beginnen.

«Machen Sie das schon lange?»
«Brot backen? Einen Monat.»
«Haben Sie den Lehmofen gebaut?»
«Nein, ich habe ihn von jemandem gekauft, der ihn gebaut hat, ihn aber nicht mehr benutzen konnte. Er war zu alt für diese Arbeit.»
«Sind Sie von hier? Ich meine, aus dem Nuseirat-Lager?»

(Ein Stück Teig in den Ofen schiebend und es von Zeit zu Zeit mit einem Holzstab wendend): «Nein. Nicht von hier.» (Zu einem Kunden) «Ich habe kein Wechselgeld für hundert Schekel. Besorgen Sie sich Kleingeld und kommen Sie wieder.»

«Woher kommen Sie?»
«Von vielen Orten seit dem 12. Oktober.»
«Woher zum Beispiel?»

«Beit Hanun. Als die Bombenangriffe begannen, wurden mein ältester Sohn und mein Schwiegervater getötet. Die Bomben haben das Haus eines Nachbarn getroffen. Sie wurden alle getötet.» (Sie hört auf zu sprechen und setzt ihre Arbeit fort. Der Journalist lässt ihr Zeit. Sie hebt den Kopf, schaut den Journalisten eine Sekunde lang an, wendet sich dann wieder dem Ofen zu und redet weiter).

«Wir zogen zu meiner Familie ins Al-Shati-Flüchtlingslager. Ich war mit meinem kleinen Sohn auf dem Markt, als wir eine große Explosion von einem Luftangriff hörten. Ich nahm mein Gemüse und rannte nach Hause. Sie hatten ein naheliegendes Haus bombardiert und meine Eltern und mein Mann wurden getötet. Ich erkannte meinen Mann an seinen Füßen, die unter den Trümmern hervorschauten, denn zwei Jahre zuvor hatte er bei einem Arbeitsunfall in Israel einen Zeh verloren. Er hatte auf dem Bau gearbeitet. Mein armer Mann hat bis zu seinem Tod nicht aufgehört zu arbeiten.» (Zu ihrem kleinen Sohn) «Genug Holz, wir sind fast fertig.» (Zu einem Kunden) «Das macht vier Schekel.»

Sie schaut den Journalisten an. Er hält ihr immer noch das Mikrofon hin, die Kamera ist auf sie gerichtet. «Also sind wir nach Al-Zahra gezogen, zu meiner Schwester, die dort verheiratet ist und lebt. Die Bombenangriffe folgten uns. Meine Tochter und meine Schwiegermutter wurden getötet. Dann kamen wir hierher – ich und dieser kleine Junge, der Sohn meiner Schwester und meine verletzte Schwester. Wir sind jetzt in dieser Schule.» (Sie zeigt auf das Gebäude hinter sich.)

«Wie kommen Sie zurecht? Verteilt UNWRA Lebensmittel an der Schule?»

«Ja. Sie kommen alle paar Tage und geben jeder Familie ein paar Dosen mit Lebensmitteln, Gebäck, Seife – gerade genug für einen Tag. Wir sind jedenfalls noch am Leben.»

«Was ist mit Wasser? Hygiene? Toiletten?»

«Ich stehe um 4 Uhr auf, um mich in die Schlange vor der Toilette einzureihen. Zu dieser Zeit stehen dort zwischen sieben und 15 Leute an. Wenn ich später aufstehe, sind es 50 oder 60. Wir erledigen unser Geschäft und legen uns wieder schlafen. Sie verteilen Plastikwasserflaschen, aber ich trinke das Wasser nicht. Ich verkaufe sie, um etwas Geld zu verdienen. Wir überleben.»

«Was machen andere Frauen?»

«Es gab eine schwangere Frau, der wir geholfen haben, ihr Kind in unserem Klassenzimmer zur Welt zu bringen. Sie hatte Glück, es ging gut. Wir kümmern uns in unserem Klassenzimmer umeinander. Sie passen auf meine Schwester und ihre zweijährige Tochter auf, wenn ich nicht da bin. Nicht wie in anderen Schulräumen. Den ganzen Tag hört man Schreie, Gebrüll, Fluchen, Streit.»

«Woher bekommen Sie das Holz für Ihren Ofen?»

«Am Anfang war es einfach: Ich sammelte Holzstücke auf den Straßen und in den Obstgärten in der Nähe. Dann begann ich, es von Holzhändler*innen zu kaufen. Es kostete 1,20 Schekel pro Kilo. Jetzt sind es drei Schekel, weil es kein Kochgas oder Brennstoff gibt. Alles ist knapp.»

Sie beginnt aufzuräumen. Sie löscht das Feuer, sammelt die übriggebliebenen Holzscheite ein und deckt den Ofen mit einem Stück Stoff ab. Sie geht mit ihrem Sohn zur Schule. Der Kameramann folgt ihr mit seinem Objektiv.

Wir tun unser Bestes

Foto: Al-Haq

Abu al-Saeed al-Sousi ist Besitzer eines Falafel-Ladens. Er sprach im März 2024 mit der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al-Haq.

Ich bin euer Bruder Abu al-Saeed al-Sousi, Besitzer des ältesten Falafel-Ladens im Gazastreifen. Während der Angriffe im Jahr 2021 wurde unser Laden im Stadtteil Al-Rimal zerstört – das gesamte Gebäude wurde zerstört. Wir haben hart gearbeitet und Gott sei Dank ein neues Geschäft in Tal Al-Hawa und eines in Al-Nasr in der Nähe des Bahloul-Kreisverkehrs eröffnet.

Jetzt sind alle drei Läden, die Fabrik und die gesamte Produktionslinie zerstört und wir mussten nach Deir al-Balah umziehen. Hier haben wir wieder bei Null angefangen, mit sehr einfacher Ausstattung. Es war wirklich schwierig, auch nur die einfachen Küchenutensilien aufzutreiben, die wir jetzt benutzen, einschließlich der Pfanne. Wir kochen über einem Holzfeuer, aber das Holz gibt nicht genug Wärme und es dauert ewig. Die Leute stehen hier zwei Stunden an, um Falafel zu bekommen – das ist einfach unzumutbar. Holz ist schwierig, es ist so mühsam, Falafel auf diese Weise herzustellen, aber wir tun unser Bestes, mehr können wir nicht tun – es gibt keinen Strom, kein Gas, aber wir machen weiter.

Früher haben wir acht Falafelbällchen für einen Schekel verkauft. Jetzt verkaufen wir drei für einen Schekel, und das nur, weil wir den Menschen helfen wollen. Warum? Früher konnten wir ein Kilo Kichererbsen für vier Schekel kaufen – heute kostet es 16 oder 17 Schekel, wenn man überhaupt welche findet. Heute bekommt man sie vielleicht, morgen schon nicht mehr. Und Petersilie gibt es überhaupt nicht. Es gibt kein Gemüse. Und es gibt überhaupt kein Brot, weder für Falafel noch für sonst etwas.

Es ist ein Kampf ums Überleben. Wir kämpfen darum, einfach am Leben zu bleiben. Wir kämpfen darum, unsere Existenz zu erhalten. Ich hoffe, dass wir eines Tages, so Gott will, zurückkehren und das Geschäft wiederaufbauen können.

Meine Stimme ist mein Leben

Foto: Nour Halaby

Haifa Farajallah ist eine in Gaza lebende Sängerin und Musikerin. Sie ist Teil der lokalen afrikanischen Gemeinschaft und wurde inzwischen nach Al Mawasi in Rafah vertrieben.

Mai 2024
 

Meine Tage vor dem Krieg waren von Musik erfüllt. Ich konnte es kaum erwarten, mit der Arbeit fertig zu sein, um den ganzen Abend und bis spät in die Nacht hinein in mein musikalisches Leben einzutauchen, Musik zu hören, zu spielen und zu singen. Mit meiner Stimme bestreite ich meinen Lebensunterhalt, sie ist das Schönste in meinem Leben. Ich arbeite als Sprecherin fürs Radio und für Werbespots, aber an erster Stelle bin ich Sängerin, singe Volkslieder und arbeite mit Bands und Musikinstitutionen im Gazastreifen zusammen.

Ich bin schon in Frankreich und in Ägypten aufgetreten, aber ich war noch nie in Jerusalem oder im Westjordanland. Das ist mein größter Traum: die Musikszene in der anderen Hälfte dieses Landes zu erleben und andere Künstler*innen kennenzulernen. Einmal habe ich am Internationalen Frauentag in Gaza gesungen. Ich war die einzige Frau – die ganze Band bestand aus Männern. Mein Solo war das Anti-Besatzungs-Lied «Yumma Mweil al-Hawa», das die berühmte Zeile enthält: «O Mutter, ich kann Wunden in meinem Fleisch leichter ertragen als die Herrschaft der Bösen über mein Leben». Während ich sang, blickte ich auf drei Hamas-Männer von der Polizei in der ersten Reihe. Sie machten drohende Gesten. Die Veranstaltung ging weiter, aber ich war sehr beunruhigt. Zum Glück ist mir damals nichts Schlimmes passiert.

Ich möchte auch über einen anderen Aspekt meiner Identität sprechen. Ich gehöre zur afrikanischen Gemeinschaft in Gaza. Ich glaube, wir machen etwa zwei Prozent der Bevölkerung aus. Manche fragen, woher wir kommen. Meine Familie stammt aus Bir-al-Saba (Beer Ssheva) und laut meinem Vater davor von der arabischen Halbinsel, aber ich weiß es nicht genau. Ich würde es gerne nach dem Krieg herausfinden.

Auch innerhalb der afrikanischen Gemeinschaft hier gibt es Vielfalt, aber soweit ich weiß, sind die verschiedenen Familien nicht miteinander verbunden. Ich liebe die Tatsache, dass wir als People of Colour Teil der gemischten, kosmopolitischen und vielfältigen palästinensischen Gesellschaft sind – aber die physischen und politischen Barrieren in Gaza bedeuten, dass wir keine Beziehungen zu anderen afrikanisch-palästinensischen Gemeinschaften haben. Als ich nach Frankreich reiste, war ich sehr stolz auf meine palästinensische Identität, aber ich traf viele Menschen afrikanischer Herkunft, die mich als eine der ihren betrachteten. Eine Frau sagte mir sogar, wenn ich mich in Palästina diskriminiert fühlen sollte, würden sie mich in Frankreich aufnehmen.

Es gibt Diskriminierung hier. Wenn wir Gegenden von Gaza betreten, in denen die Menschen nicht daran gewöhnt sind, People of Colour zu sehen, stoßen wir auf Getuschel, Kommentare oder feindselige Blicke. Dieser Rassismus entsteht aus Unwissenheit. Ich glaube, dass ich aufgrund meiner Hautfarbe – und auch aufgrund von Sexismus – berufliche Chancen eingebüßt habe. Es gibt viele tief verwurzelte Stigmata: Schwarze Männer haben es leicht, hellhäutige Frauen zu heiraten, aber für mich als Schwarze Frau ist es sehr schwierig, einen Ehemann zu finden, der nicht Schwarz ist. Das ergibt keinen Sinn und ist sehr bedauerlich. Ich bin Palästinenserin. Ich bleibe in Palästina. Ich liebe Musik und habe vor, damit weiterzumachen.

Übersetzung von Camilla Elle & Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective.

Die Übersetzung der Passage von Hiba Abu Nada («Dein Gelübde ist wahr») wurde übernommen von: www.gazapassages.com/hiba-abu-nada/deutsch​​​


[1]  Ich möchte allen Autor*innen aus Gaza für ihre ergreifenden Beiträge von Herzen danken und hoffe, dass sie noch am Leben sind. Mein besonderer Dank gilt Mahmoud Muna, Matthew Teller, Juliette Touma, Jayyab Abusafia und der Herausgeberin Elisabeth Briggs für ihr Vertrauen und die Möglichkeit, diese wichtigen Texte hier zu veröffentlichen.