Analyse | Arbeit / Gewerkschaften - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Alles wird teurer - Kämpfe um Arbeitszeit Zeit für die 4-Tage-Woche

Arbeitszeitverkürzung als linke Alternative zur neoliberalen Agenda

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Lia Becker,

Eine Demonstrantin fordert bei einer DGB-Kundgebung zum 1. Mai auf dem Anger die 4-Tage-Woche.
«Es ist eine Frage der Klassenkämpfe um die Hegemonie, was in einer Gesellschaft als selbstverständlich beziehungsweise normal gilt, welche Vorstellungen von guter Arbeit und einem guten Leben sich gesellschaftlich durchsetzen.» DGB-Kundgebung am 1.5.2021 in Erfurt, Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Michael Reichel

Mit der «Agenda 2030» kündigen sich neue Angriffe auf Sozialstandards von Beschäftigten an. Gerade jetzt braucht es linke Gegenentwürfe, die Arbeitszeitverkürzung und Gute Arbeit ins Zentrum stellen.

Viele Beschäftigte blicken angesichts von Inflation, Wirtschaftskrise und drohenden Entlassungen sorgenvoll in die Zukunft. Gleichzeitig beklagen Wirtschaftswissenschaftler*innen, Manager*innen und Politiker*innen von Union und FDP in einem Chor die vermeintlich «mangelnde Arbeitsmoral» der Generation Z. Sie reagieren auf die Absage einer wachsenden Anzahl keineswegs nur junger Menschen an ein Leben mit 40-Stunden-Vollzeitjob.

Lia Becker ist Referent*in für Zeitdiagnose und Sozialismus bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Dass tatsächlich immer mehr Menschen an Erschöpfung leiden, ist kein Wunder angesichts jahrelanger Arbeitsverdichtung, der Mehrfachbelastung von Frauen* und allen, die unbezahlt Sorgearbeit leisten. Bereits Jahre vor der Pandemie gaben über 40 Prozent der Befragten an, sie seien «sehr häufig oder oft nach der Arbeit zu erschöpft, um sich um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern» (laut DGB Index «Gute Arbeit» 2018). Selbst in Bereichen, in denen die Gewerkschaften noch stark sind, sind Überstunden und Arbeitsstress Normalität statt Ausnahme. Wer über 40 Stunden arbeitet, hat kaum noch Zeit für die notwendige Arbeit im Haushalt, für Kinder und Erholung. Immer mehr Menschen suchen daher nach individuellen Auswegen aus der gesellschaftlichen Reproduktions-, Erschöpfungs- und Sinnkrise. Vor diesem Hintergrund erhält die «alte» linke und feministische Forderung nach radikaler Arbeitszeitverkürzung hin zu einer gerechten Verteilung von Arbeit und Zeit in den letzten Jahren neue Resonanz (vgl. Steinrücke/Zimpelmann 2024).

Im Mittelpunkt der Debatte steht die Idee der 4-Tage-Woche. Erfolgreiche Modellprojekte in einzelnen Betrieben oder landesweit in Schweden zeigen, dass diese eine zeitgemäße Alternative sein kann. Das Ringen um Arbeitszeitverkürzung wird keineswegs nur auf der Ebene der öffentlichen Meinungsbildung ausgetragen. Die IG Metall hatte die Forderung nach einer 4-Tage-Woche mit Lohnausgleich auf die Agenda der letzten Tarifrunde gesetzt. Auch wenn Kampfkraft und Mobilisierung bislang noch nicht für größere Durchbrüche in diese Richtung reichten – für die nächsten Jahre ist das ein wichtiges Signal. Die Partei Die Linke, Teile der Gewerkschaften und Initiativen wie «ArbeitFairTeilen» fordern seit Jahren Schritte in Richtung der 4-Tage-Woche und andere gesetzliche Rahmenbedingungen, die den gewerkschaftlichen Kämpfen um Arbeitszeitverkürzung mehr Durchschlagskraft verleihen könnten – etwa eine Stärkung der Tarifbindung (derzeit arbeiten nur noch weniger als die Hälfte der Beschäftigten mit Tarifvertrag).

Humane Arbeitswelt statt Agenda 2030 – Richtungskämpfe um die «Standortkrise»

Angesichts verschärfter Konkurrenz auf dem Weltmarkt, der Folgen drohender Zölle auf europäische Produkte wie Autos durch die Trump-Regierung und der Auswirkungen der Klimakrise auf Energie- und Rohstoffpreise geht es auch um die Zukunft der industriellen Produktion und des Sozialstaats in Deutschland. Die nicht enden wollenden Krisen haben länger gärende Widersprüche aufbrechen lassen und nähren Ängste um die Zukunft «unseres Wohlstands». Abstiegsängste werden von rechten und autoritär neoliberalen Kräften genutzt und befeuert, mit dem Ziel, die Grundlagen von Sozialstaat und Demokratie weiter zu untergraben. Die notwendige klimaneutrale Transformation der Wirtschaft und Industrie wird ohne soziale Garantien, gute Löhne und Arbeitszeitverkürzung nicht funktionieren.

Zugleich erleben wir derzeit im Bundestagswahlkampf, wie Unternehmensverbände, Springer-Presse und die Union die Weichen für eine neue neoliberale Offensive stellen wollen. Trotz hoher Konzernprofite in den letzten Jahren malen sie das Schreckgespenst eines pauschalen Niedergangs des Standorts Deutschland an die Wand. Als Kur wird eine neue neoliberale Agendapolitik gegen Arbeitsstandards und Sozialstaat propagiert. So fordert insbesondere die Union mit der «Agenda 2030» neben Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen auch niedrigere Steuern für geleistete Überstunden als zweifelhafte Antwort auf die Probleme von Fachkräftemangel und hoher Teilzeitquote. Dabei wären bessere Arbeitsbedingungen, auskömmliche Löhne, Regelungen für mehr Personal, gute Ausbildungsplätze und Übernahmegarantien zusammen mit der gezielten Förderung von Weiterbildung überzeugendere Antworten, wenn es um tatsächlichen Personalmangel geht. Statt einer weiteren fremdbestimmten Flexibilisierung von Arbeitszeiten braucht es eine Umverteilung von überlanger Vollzeitarbeit hin zu mehr Stunden für Teilzeitarbeitskräfte. Dafür müssten jedoch auch Rahmenbedingungen verändert werden, etwa indem die Ganztagsbetreuung ausgebaut und die Pflegearbeit besser finanziert wird.

Doch die Union will mit Kürzungen bei Sozialausgaben und sozialer Infrastruktur in eine ganz andere Richtung. Nicht alles wird im Wahlkampf bereits laut verkündet. Aber wer die Publikationen von Unternehmensverbänden verfolgt, erkennt schnell, wohin der Hase laufen soll. Dazu gehört neben der Forderung nach einem späteren Renteneintrittsalter auch der von BDI-Präsident Russwurm und anderen notorisch wiederholte Ruf nach einer 42-Stunden-Woche. Arbeitszeitflexibilisierung auf Kosten der Löhne ist bereits an der Tagesordnung. Perspektivisch setzen Unternehmensverbände auf eine flexible Kombination von Arbeitszeitverlängerung und -verkürzung (u. a. Kurzarbeit), Lohnsenkungen und Entlassungen als vermeintlichen Weg aus der Standortkrise.

Der neoliberalen Politik ist es gelungen, die gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen, neue Familienmodelle und veränderte Zeitbedürfnisse zu nutzen, um die Arbeitswelt zu flexibilisieren und Löhne zu senken. Gegenwärtige autoritär-neoliberale Politik à la Merz setzt darauf, die in den letzten Jahrzehnten systematisch befeuerte Spaltung in der Arbeitswelt für ihre Zwecke zu nutzen – egal ob es um Tarifverträge und Lohnunterschiede, Rente oder Arbeitszeit geht.

Das neoliberale Prinzip des «Teile und herrsche» setzt an Problemlagen wie Dauerstress und zu niedrige Löhne an, die Beschäftigte unterschiedlich betreffen. Es befördert die individuelle und vereinzelnde Suche nach Antworten, die die Probleme meist nicht wirklich lösen, dafür aber Konkurrenz und gesellschaftliche Spaltungen verstärken. Als «Exit» aus der Überlastung im Job ist für viele die 4-Tage-Woche zu einem konkreten Gedankenspiel oder gar zu einem tatsächlichen Ausprobieren geworden. Gleichzeitig sind viele Beschäftigte mit niedrigen Löhnen gerade angesichts von Inflation und hohen Mieten schlicht auf Vollzeit angewiesen. Auch für diejenigen, die in Berufen mit Personalmangel eh schon am Limit sind, klingt die Idee der 4-Tage-Woche für sich genommen vielleicht wie ein Traum, aber eben nicht wie eine unmittelbare Antwort auf ihre Probleme.

Auf diese unterschiedlichen Interessen und zusammenhängenden Probleme können jedoch durchaus solidarische Antworten gefunden werden. Die in der linken, gewerkschaftlichen und feministischen Debatte diskutierten Ansätze für eine 4-Tage-Woche (vgl. die Beiträge in Steinrücke/Zimpelmann 2024; Lott/Windscheid 2023; Liebig 2021; Riexinger/Becker 2017) zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Umverteilung zugunsten der Beschäftigten durch Arbeitszeitverkürzung und Löhne zusammendenken und der fremdbestimmten Flexibilisierung von Arbeit kollektive Lösungen für mehr Zeit für alle entgegenstellen. Trotz oder gerade wegen Standortkrise und Personalmangel wünschen sich Millionen Beschäftigte in Deutschland weiterhin bessere Löhne, sichere Arbeitsplätze, mit denen sich eine Zukunft aufbauen lässt, und mehr Zeit zum Leben (vgl. WSI 2023).

Kurze Vollzeit für alle

Die Idee der «kurzen Vollzeit» als Teil eines «neuen Normalarbeitsverhältnisses» ist ein Ansatz in der linken Arbeitszeitdebatte, der solche verbindenden Perspektiven im Kampf um gute, sinnvolle und selbstbestimmtere Arbeit für alle ermöglichen soll (Riexinger/Becker 2017): Löhne, die für ein gutes Leben reichen. Arbeit, die zum Leben passt – statt Dauerstress, krankmachenden Arbeitsbedingungen und fremdbestimmter Flexibilisierung. Eine gerechtere Verteilung von Arbeit und Zeit, für ein selbstbestimmteres Leben.

Der Vorschlag zielt darauf, allgemeine Arbeitszeitverkürzung in Richtung kurzer Vollzeit mit der gerechten Verteilung der Arbeit, mehr Zeitsouveränität und einer Demokratisierung von Zeitgestaltung zu verbinden. Es ist eine Frage der (Klassen-)Kämpfe um die Hegemonie, was in einer Gesellschaft als selbstverständlich beziehungsweise normal gilt, welche Vorstellungen von guter Arbeit und einem guten Leben sich gesellschaftlich durchsetzen. Um diesen Kampf gewinnen zu können, braucht es – nicht nur, aber auch – ein mobilisierendes Ziel, eine «konkrete Utopie» (Ernst Bloch). Eine kulturell wie staatlich verankerte Norm kann dazu beitragen, einer neuen solidarischen Weise zu arbeiten und zu leben zum Durchbruch zu verhelfen. Die in der Gesellschaft vorhandenen Wünsche nach mehr selbstbestimmter Zeit und Arbeitszeit sollen so ein Stück weit gebündelt werden.

Eine kurze Vollzeit zwischen 28- und 35-Stunden-Woche als Norm ist auch ein Gegenentwurf zur heutigen gespaltenen wie ungleichen Arbeitsgesellschaft. Es geht auch um gerechte und emanzipatorische Geschlechterbeziehungen. Nur durch Verkürzung der langen Arbeitszeiten wird es möglich, die Erwerbsarbeit in der Gesellschaft, aber auch die Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern gerecht zu verteilen. In diese Richtung weisen die vier zusammenhängenden Säulen für eine «kurze Vollzeit»:

1. «Kurze Vollzeit» als neue Norm

Die kurze Vollzeit zwischen 28 und 35 Stunden pro Woche, für die Beschäftigten (!) flexibel gestaltbar, soll als neue Normalarbeitszeit gesetzlich festgeschrieben werden. Schrittweise könnte sich die Regelzeit in unterschiedlichen Branchen der 28- oder 30-Stunden-Woche annähern. Flankiert durch Gesetze zur Stärkung von Tarifbindung und Flächentarifverträgen und einen Mindestlohn von 16 Euro/Stunde.

2. Korridor für die Arbeitszeit

Das Recht (!) aller Beschäftigten auf eine Mindeststundenzahl von 22 Stunden pro Woche soll gesetzlich geschaffen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit von derzeit 48 auf 40 Stunden gesenkt werden. Überstunden werden gesetzlich begrenzt.

3. Wahlarbeitszeitgesetz und Erweiterung der Mitbestimmung

Ein neues Normalarbeitsverhältnis geht über rein individuelle Wahlarbeitszeiten hinaus, hin zu kollektiver demokratischer Gestaltung: Alle Beschäftigten erhalten das Recht, innerhalb eines Korridors von 20 bis 35 Stunden ihre Arbeitszeit zu bestimmen, zeitweilig zu begrenzen und zu erhöhen. Die verkürzte Arbeitszeit soll mindestens für ein Jahr und maximal sechs Jahre gelten – mit garantiertem Rückkehrrecht auf die ursprüngliche Arbeitszeit. Weil kürzere Arbeit produktiver ist, muss es einen gesetzlich verpflichtenden Teillohnausgleich (mindestens 70 Prozent) geben, der tariflich weiter ausgestaltet werden soll. Statt Zeitkonflikte auf die Einzelnen zu verlagern, will ein Wahlarbeitszeitgesetz mitbestimmte, kollektive, solidarische Lösungen durch «betriebliche Wahlarbeitszeitabkommen» fördern.

Mindestens alle zwei Jahre und vor jeder neuen Tarifrunde wird ein Arbeitszeit-Check durchgeführt, also eine Befragung der Beschäftigten, welche Arbeitszeit sie sich wünschen. Dann wird mitbestimmt geregelt, wie die betrieblichen Arbeitszeiten organisiert werden. Die Besonderheiten kleiner Betriebe und bestimmter Tätigkeiten können in betrieblich mitbestimmten Arbeitszeitkonzepten am besten berücksichtigt werden. Betriebe mit geringerem Umsatz können Hilfe vom Staat bei der Umstellung auf die 4-Tage-Woche bekommen. Diese ist an Bedingungen geknüpft: Arbeitsplatzgarantien und Tarifverträge für gute Arbeit, gesellschaftlich sinnvolle Produkte und Dienstleistungen.

Damit Arbeitszeitverkürzung nicht zu Arbeitsverdichtung führt, sollen frei werdende Stellenanteile umverteilt und verpflichtend besetzt werden. Dafür muss die Mitbestimmung der Betriebsräte über Fragen der Personalbemessung ausgeweitet werden. So können Wahlarbeitszeitabkommen zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen, Auszubildende übernommen und Aufstockungswünsche von Teilzeitbeschäftigten erfüllt werden.

4. Familien- und Weiterbildungszeit und das Recht auf Auszeit – eine Weiterentwicklung der Sozialversicherung

Lohnarbeit soll so geregelt werden, dass sie Sorgearbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkennt und das Recht auf Weiterbildung für alle Beschäftigten verwirklicht. Eltern sollen bis zu acht Jahre (maximal bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres ihrer Kinder) ihre Arbeitszeit auf 20 bis 32 Stunden bei einem teilweisen Lohnausgleich verkürzen können. Einen Zuschlag gibt es, wenn alle Beteiligten auf eine Arbeitszeit reduzieren beziehungsweise aufstocken, die maximal um vier Stunden auseinanderklafft. Die Familienzeit muss auch für andere Betreuungsmodelle wie Mehr-Personen-Elternschaften und Wahlverwandtschaften zugänglich sein.

Alle Beschäftigten erhalten zudem einen Rechtsanspruch auf eine zeitweise Verkürzung ihrer Arbeitszeit für Weiterbildung. Wo Unternehmen Regelungen verweigern, muss eine gesetzliche Verpflichtung greifen: Der Arbeitgeber muss während der Bildungsteilzeit einen Lohnausgleich von mindestens 70 Prozent zahlen. Zur «kurzen Vollzeit» gehört auch, dass alle Beschäftigten das Recht auf eine Auszeit bekommen, in Form von Sabbatzeiten, die auch in verschiedenen Abschnitten genommen werden können. Das Ziel ist, Arbeitszeitverkürzung in bestimmten Lebensphasen zu einem kollektiv abgesicherten Recht zu machen.

Ein Ansatz zur (Teil-)Finanzierung dieser unterschiedlichen Formen von Arbeitszeitverkürzung in bestimmten Lebensphasen kann eine neue Säule der Sozialversicherung sein. Bei Arbeitszeitverkürzung im Rahmen von Familien-, Pflege- oder Weiterbildungszeit muss es einen Teillohnausgleich geben, der durch eine Abgabe von Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten und durch begrenzte staatliche Zuschüsse finanziert werden kann. Für Alleinerziehende soll es einen vollen Lohnersatz und für alle Beschäftigten bis zu einem bestimmten Einkommen einen Ausgleich der Sozialversicherungsbeiträge geben.

Antifaschistische Wirtschaftspolitik und Arbeitszeitverkürzung

Die Agenda von Merz und den Arbeitgeberverbänden für eine hoch flexible wie gespaltene Arbeitswelt richtet sich gegen das Interesse der Beschäftigten an sicherer, planbarer und selbstbestimmter Arbeit. Schlimmer noch: Eine neue neoliberale Agenda 2030 droht Prozesse der Faschisierung wie in den USA zu befeuern. Somit ist das Ringen um Arbeitszeit zu einem Schlüssel-Transformationskonflikt geworden, dessen Ausgang mit darüber entscheidet, ob die Gesellschaft sich in Richtung einer sozial und ökologisch gerechteren Zukunft oder eines zunehmend autoritären Kapitalismus entwickelt.

Um solidarische Arbeitszeitverkürzung als Alternative zu stärken, müssen unterschiedliche Erfahrungen, Wünsche und Begehren angesprochen und zu einer konkreten Utopie miteinander verwoben werden. Es braucht Arbeitskämpfe und tarifpolitische Initiativen, aber eben auch die Perspektive auf eine gerechte und selbstbestimmtere Arbeitszeit für alle, die politisch durchgesetzt und gesetzlich abgesichert werden müsste. So fordert Die Linke Einstiege in die 4-Tage-Woche und bessere Rahmenbedingungen, um gewerkschaftliche Kämpfe darum zu unterstützen. Der öffentliche Dienst könnte dabei – von politischen Rahmenbedingungen einer besseren Finanzierung und mehr Personal flankiert – eine Vorreiterrolle einnehmen. Auch andere Forderungen der Linkspartei weisen in die Richtung besserer Rahmenbedingungen, die den Kampf um Arbeitszeitverkürzung unterstützen: etwa eine armutsfeste Rente sowie eine Lohnoffensive für flächendeckende Tarifverträge, gegen prekäre Arbeit und für einen Mindestlohn.

Nur mit der konkreten Utopie einer sozial-ökologischen Gemeinwohlwirtschaft hat die Linke in der Auseinandersetzung mit der autoritär-neoliberalen Rechten eine Chance. Arbeitszeitverkürzung ist dabei ein Einstiegspunkt, von dem aus Fragen nach Arbeit und Leben aufgeworfen werden können, solidarische gesellschaftliche Beziehungsweisen und eine gemeinwohlorientierte, klimagerechte und demokratische Wirtschaft vorstellbar werden.

In Spanien hat die linke Arbeitsminister*in Anfang Februar einen Gesetzesentwurf zur Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit um 2,5 Stunden mit Lohnausgleich auf den Weg gebracht. Von der Arbeitszeitverkürzung auf 37,5 Stunden/Woche sollen, flankiert von Regelungen für Teilzeitbeschäftigte, alle Beschäftigten in der Privatwirtschaft profitieren. Bis zur 30-Stunden-Woche ist da noch Luft nach unten und muss politisch noch einiges in Bewegung kommen. Aber das Beispiel zeigt: Neben Tarifkämpfen spielt die politische Regulierung der Arbeitszeit eine zentrale Rolle für die Durchsetzung solidarischer Arbeitszeitverkürzung. Die damalige linke Labour-Führung um Jeremy Corbyn entwickelte vor Jahren ein Konzept für eine «Green Industrial Revolution» – mit dem Ziel, durch gesetzliche Regelungen und einen begleitenden Transformationsfonds innerhalb eines Jahrzehnts die 32-Stunden-Woche für alle zu verwirklichen. Auch Die Linke setzt sich für einen Industrie-Transformationsfonds ein, der Mitbestimmung und demokratisches Eigentum in der Wirtschaft stärken soll. Daran anknüpfend kann die Idee einer Sozialversicherung für Arbeitszeitverkürzung dazu beitragen, den Weg in Richtung einer «kurzen Vollzeit für alle» vorstellbarer zu machen. Um das Recht auf teilweisen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung zu finanzieren, kann ein gemeinsamer Fonds geschaffen werden, in den alle Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten einzahlen. Dieser sollte ausschließlich aus Unternehmensbeiträgen finanziert werden. Die Beiträge wirken somit wie eine allgemeine Lohnerhöhung für alle Beschäftigten und als Beitrag zur gemeinwohlorientierten Abschöpfung hoher Konzerngewinne. Sie würden sich an der Produktivitätsentwicklung und Profiten orientieren. So können auch Anreize für gute Tarifverträge, solidarische Arbeitszeitabkommen (s. o.) und sozial gestaltete Klimatransformation geschaffen werden.

«In der momentanen Vielfachkrise könnten eine echte 4-Tage-Woche und ein Neues Normalarbeitsverhältnis nicht nur wirksame Mittel sein, um Krisenphänomene und Transformationskonflikte abzufedern, es besteht außerdem die historische Chance für ein gesellschaftliches Bündnis, das tatsächlich imstande wäre, Mehrheiten für progressive Politik zu organisieren», schreiben Phillip Frey und Stephan Krull in einem Beitrag zur Diskussion um Arbeitszeitverkürzung (2023). Umgekehrt verweisen die weit verbreiteten Wünsche nach einer gerechten Arbeitswelt und das Begehren nach mehr selbstbestimmter Zeit auch auf mögliche gesellschaftliche Triebkräfte für eine sozial-ökologische und antifaschistische Wirtschaftswende.

Literatur:
  • Frey, Philipp/Krull, Stephan (2023): Die Vier-Tage-Woche als Transformationsprojekt, in: LuXemburg Online, November 2023, zeitschrift-luxemburg.de/artikel/vier-tage-woche
  • Liebig, Steffen (2021): Arbeitszeitverkürzung als Konvergenzpunkt? Sozial-ökologische Arbeitskonzepte, Wachstumskritik und gewerkschaftliche Tarifpolitik, Frankfurt a. M./New York.
  • Lott, Yvonne/Windscheid, Eike (2023): 4-Tage-Woche. Vorteile für Beschäftigte und betriebliche Voraussetzungen für verkürzte Arbeitszeiten, WSI Policy Brief Nr. 79, Düsseldorf.
  • Riexinger, Bernd/Becker, Lia (2017): For the many, not the few: Gute Arbeit für Alle! Vorschläge für ein Neues Normalarbeitsverhältnis, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2017, www.sozialismus.de
  • Steinrücke, Margareta/Zimpelmann, Beate (Hrsg.) (2024): Weniger Arbeiten, mehr Leben! Die neue Aktualität von Arbeitszeitverkürzung, Hamburg.