
Seit Jahrzehnten sind die Grauen Wölfe für politische Gewalt gegen Linke in der Türkei und in Deutschland verantwortlich. Dabei bedienen sie sich in vielen Städten hierzulande auch integrativer Angebote über ihnen nahestehende Moscheevereine, werden von der Kommunalpolitik hofiert und sogar in Proteste gegen die AfD eingebunden. Als Erkennungszeichen gilt der so genannte Wolfsgruß, dessen Verwendung durch einen türkischen Fußballnationalspieler die rechtsextreme Organisation im Sommer 2024 in den Fokus der Öffentlichkeit rückte.
Über die Grauen Wölfe sprachen wir mit Ismail Küpeli. Er ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich mit Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus in Deutschland und in der Türkei. Seine Dissertation über die kurdische Frage in der Türkei an der Universität zu Köln erschien im Juni 2022 im transcript Verlag. Küpelis neues Buch «Graue Wölfe. Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland» erscheint Mitte 2025 im Unrast Verlag. Das Interview führte Henning Obens, Leiter des Bereichs Politische Kommunikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Henning Obens: Die Grauen Wölfe waren ein großes Thema während der Fußball-EM der Männer 2024, nachdem der Verteidiger der türkischen Nationalmannschaft Merih Demiral den Wolfsgruß gezeigt hatte. Inwieweit haben die Grauen Wölfe von den Auseinandersetzungen darum profitiert?
Ismail Küpeli: Die Verbindung von Fußball und extremer Rechte ist stark und hat eine lange Geschichte in der Türkei. Demirals Geste wurde relativiert und umgedeutet zu einem türkischen Symbol, so als sei der Wolfsgruß einfach der Gruß der Türken per se. Das ist hanebüchen! Es ist ein politisches Symbol und wird sowohl in der Türkei als auch hier in Europa eindeutig mit den Grauen Wölfen in Verbindung gebracht. Aufgrund der Normalisierung der Rechten in der Türkei, aber auch innerhalb türkischer Communities im Ausland, werden die extrem rechten Ideologien dahinter, Rassismus, Antisemitismus und Gewalt gegen Andersdenkende nicht wahrgenommen. Sie gelten als legitime, normale politische Kraft. Die Berichterstattung sorgte zugleich für mehr Aufmerksamkeit, vor allem in der deutschen Öffentlichkeit, und das Bewusstsein, dass die Grauen Wölfe keine exotische kleine Gruppierung am Rand sind, sondern tatsächlich eine reale Kraft. Das ist positiv und eröffnet die Chance, die Aufklärungsarbeit zu den Grauen Wölfen noch breiter zugänglich zu machen.
Die Grauen Wölfe verstehen sich als aktive Kämpfer gegen die vermeintlichen inneren und äußeren Feinde des türkischen Nationalstaats.
Was ist die ideologische Basis der Grauen Wölfe? Inwieweit steht sie in der Tradition des Faschismus oder des Ultranationalismus und hat mit einer islamistischen Auslegung des Islam zu tun?
Zu Beginn in den 1940er Jahren gab es offene Fragen etwa zum Islam sowie eine große Übereinstimmung mit der türkischen Staatsideologie beim Nationalismus. Was die Ideologie der Grauen Wölfe vom Staatsnationalismus unterscheidet, ist die Sicht darauf, wer der legitime Akteur ist, um die Gefahren zu bekämpfen, die von inneren und äußeren Feinden der Türkei ausgehen. Die Grauen Wölfe verstehen sich als aktive Kämpfer gegen diese vermeintlichen inneren und äußeren Feinde. Aus ihrer Sicht reicht der türkische Staat als Beschützer der Nation nicht aus. Es muss eine zusätzliche Kraft geben als Akteurin auf der Straße, die tatsächliche Gewalt organisieren kann.
Gleich einer faschistischen Zivilgesellschaft?
Wenn man so will, ja. Die Grauen Wölfe sind Partei und Bewegung zugleich. Ende der 1960er Jahre wurde die Partei der nationalistischen Bewegung gegründet (MHP). Parallel entstand eine Bewegung, die auf politische Gewalt fokussiert ist. Die Grauen Wölfe kennen keine Grenzen, keine Regeln. Der Kampf muss aus ihrer Sicht unerbittlich geführt werden. Diese Rolle hat sie über Jahrzehnte in immer wieder neue Formen gegossen. Dabei können sich die Grauen Wölfe auf Setzungen seitens des Staats beziehen. Wenn es beispielsweise um Armenier geht, die bereits von der Jungtürkischen Bewegung – den Vorgängern der Kemalisten – als innere Feinde ausgemacht wurden, wenn es um türkische Juden geht, wenn es um Russland und um den Westen geht. Auch der antikurdische Rassismus basiert auf Narrativen, die vom Staat bereits vor gut 100 Jahren formuliert wurden. Anfangs gab es noch eine gewisse Distanz zum Islam. Ein Teil der Bewegung wollte eine urtürkische Religion finden, da er den Islam aus rassistischen Motiven für arabisch und somit fremd hielt. Diese Teilbewegung hat sich allerdings in den 1970er Jahren aufgelöst.
Türkentum und Islam, Nation und Glaube werden als untrennbar betrachtet.
Wie gelang diese Umorientierung?
Über die sogenannte türkische islamische Synthese: Türkentum und Islam, Nation und Glaube werden als untrennbar betrachtet. Die türkische Nation ist ohne den Islam nicht vorstellbar, der Islam nicht ohne türkische Dominanz. Die MHP hat es damit geschafft, große Teile der muslimischen Bevölkerung zu erreichen.
Die Bezugnahme des türkischen Nationalismus auf die Mythologie des Turan, wird das von der allgemeinen Staatsideologie abgedeckt oder inwieweit wird das spezifisch von der MHP oder von den Grauen Wölfen anders ausgedeutet?
Mit Turan ist die Vorstellung eines Großtürkischen Reiches gemeint, das angeblich von China bis Mitteleuropa existierte und wieder errichtet werden soll. Der türkische Staat verfolgt dieses Ziel freilich weder außenpolitisch, militärisch noch realpolitisch. Er versteht die Türkei als Regionalmacht, die in Libyen, Syrien, im Irak intervenieren soll. Aber die Utopie eines Großreichs wird nicht umgesetzt. Allenfalls spielt Turan noch eine symbolische Rolle bei Anspielungen auf frühere türkische Reiche. Für die Grauen Wölfe dagegen ist Turan nach wie vor ein Ziel, die Großmacht Türkei taucht auch in der Ideologie der MHP-Führung immer noch auf.
Heute ist die MHP nicht mehr die einzige Kraft der türkischen extremen Rechten.
n welchem Verhältnis stehen die Grauen Wölfe zu anderen Parteien und Organisationen in der Türkei?
Die Liste der Parlamentsparteien war lange Zeit sehr kurz. Es gab den klassischen staatsnationalistischen, laizistischen Block – über viele Jahre hauptsächlich die CHP mit ihren Abspaltungen. Daneben rechtskonservative, islamistische Parteien, heutzutage zählt dazu die AKP. Und auf der Seite der extremen Rechten die MHP, die Partei der Grauen Wölfe. Es gab zwar auch linke Parteien, die spielten allerdings nie eine große Rolle.
Heute ist die MHP nicht mehr die einzige Kraft der extremen Rechten. Es haben sich verschiedene Parteien abgespalten, etwa die «Gute Partei» (İYİ Partisi) unter Meral Akşener, die Bezüge zu den Turan-Vorstellungen aufweist. Sie versucht sich als moderat darzustellen und ist im Unterschied zur MHP weiterhin Teil der Opposition. Einen Achtungserfolg bei den jüngsten Parlamentswahlen erzielte die «Partei des Sieges» (Zafar Partisi). Sie setzt auf noch extremeren und offeneren Rassismus insbesondere gegenüber den Geflüchteten und den Migrant*innen beispielsweise aus Syrien. Zugleich lässt sie den antikurdischen Rassismus weiter eskalieren. MHP, Gute Partei und die Partei des Sieges vereinen zusammen etwa ein Viertel der Wählerstimmen in der Türkei auf sich.
MHP: Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalistischen Bewegung, faschistisch)
CHP: Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, kemalistisch)
AKP: Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, rechstpopulistische Erdoğan-Partei)
Welches Ausmaß hat die organisierte politische Gewalt der türkischen extremen Rechten?
Die Grauen Wölfe sind für hunderte politische Morde in der Türkei in den 1970er Jahren verantwortlich, insbesondere an Linken. Es gab auch Massaker wie etwa gegen die Aleviten in Maraş. Das Pogrom in Sivas 1993 war ein Kooperationsprojekt mit Islamisten. In den 1980er und 1990er Jahren waren die Grauen Wölfe insbesondere wichtig als Terrorinstrument im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Sie waren nicht nur in Polizei und Armee zu finden, sondern auch in Todesschwadronen und paramilitärischen Gruppen. Spätestens seit 2015 spielen die Grauen Wölfe diese Rolle wieder. Auch in Deutschland verübten sie politische Morde, etwa an einem Gewerkschafter in West-Berlin 1980 oder in den 1990er Jahren in Köln. Die Hauptzielgruppe sind linke Kurden. Mehrere Morde und Gewalttaten sind bis heute nicht aufgeklärt.
Wie sehen die Strukturen der Grauen Wölfe in Deutschland aus?
Wie die konservativ-islamische Tendenz hat sich auch die extreme Rechte hauptsächlich über Moscheevereine organisiert. Im Fall der Grauen Wölfe ist der wichtigste Player die Türkische Föderation, ein Verband mit etwa 7.000 Mitgliedern und sichtbar präsent in fast allen westdeutschen Städten. Daneben gibt es noch die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (Avrupa Türk-İslam Birliği, ATİB) – Mitglied im Zentralrat der Muslime – und der Verband der türkischen Kulturvereine in Europa (Avrupa Türk Birliği, ATB), die stärker aus einer islamistischen Richtung kommen.
Die Moscheeverbände sind die wichtigste Säule für die türkische extreme Rechte in Deutschland, die insgesamt über 10.000 Menschen mobilisieren kann. Ihre Rolle in den Stadtteilen ist nicht zu unterschätzen. Sie stellen nicht nur Gebetsräume zur Verfügung. In den großen Gebäudekomplexen finden sich Schulungsräume, soziale Treffpunkte, es werden Nachhilfe gegeben sowie kulturelle und soziale Angebote gemacht, die – wie etwa in Duisburg – andernorts vielfach fehlen. Unpolitische Leute geraten so in den Einflussbereich der Grauen Wölfe. Bei muslimischen Beerdigungen etwa haben die Angehörigen nur die Wahl zwischen einer Moschee von DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) oder einer Moschee der Türkischen Föderation. Aktuelle Organisierungsstrukturen sind auch Sportvereine, zum Beispiel im Fußball. Sie spielen für die Mobilisierung von jungen Männern eine wichtige Rolle. Auch den Kampfsport gilt es besser zu beobachten.
Einige gewalttätige Netzwerke wurden verboten oder haben sich aufgelöst. Die Rocker- und Motorradclubs wie Osman Germania und Turan e.V. brachten organisierte Kriminalität, rechtsextreme Ideologie und Männlichkeitskult zusammen. Die Netzwerke dürften sich inzwischen neu organisiert haben, sind dabei vorsichtiger bei ihrer Außendarstellung.
Es existieren Berichte über Gespräche zwischen Politikern von MHP und CSU, von denen die Entstehung der Grauen Wölfe in Deutschland unterstützt wurde.
Welches politische Kalkül steckte hinter der Organisierung in Deutschland?
Nach dem Militärputsch 1980 sind viele Linke, vor allem Kurd*innen, nach Deutschland geflüchtet. Die türkische Regierung war besorgt, dass es zu einer Politisierung der Migrant*innen in Deutschland kommt, und dass die linken Aktivist*innen die Gastarbeitergeneration gegen die türkische Regierung mobilisieren. Die deutschen Konservativen ihrerseits befürchteten eine politisch linke, gewerkschaftliche Organisierung in Form von Arbeitskämpfen. Da kamen rechte Akteure wie die Grauen Wölfe genau richtig. Es existieren Berichte über Gespräche zwischen Politikern von MHP und CSU, von denen die Entstehung der Grauen Wölfe in Deutschland unterstützt wurde.
Welche Motive gab es dafür?
Zentral war der Antikommunismus. CSU-Chef Strauß & Co. sahen in den Grauen Wölfen einen Bündnispartner im Kampf gegen die Linke. Es gab damals diese sehr starke ideologische Klammer: Wir sind Rechte, ihr seid Rechte, wir werden euch dabei helfen hier Fuß zu fassen, damit ihr die Kommunisten in die Schranken weist. Die Grauen Wölfe konnten sich dadurch sehr schnell etablieren.
Ismail Küpeli:
«Graue Wölfe. Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland»
Unrast Verlag, 2025
Inwiefern hat die Ausgrenzung von Einwander*innen aus der Türkei in Deutschland den Aufstieg der Grauen Wölfe begünstigt?
Sie erleben Diskriminierung und Rassismus, was die Grauen Wölfe geschickt nutzen. Sie machen ein identitäres Angebot, durch das sich die Betroffenen gleichwertig oder sogar Anderen überlegen fühlen können. Die Moscheevereine wurden sehr lange in der Kommunal- wie Integrationspolitik als Kooperationspartner angesehen. Sie werden bis heute hofiert und nicht als rechtsextrem und demokratiefeindlich betrachtet. Oberbürgermeister sowie Abgeordnete von CDU und SPD besuchen diese Vereine, halten Reden und lassen sich mit deren Vertretern ablichten. Nur gelegentlich kommt öffentliche Kritik auf. Dies führt zu einer massiven Normalisierung.
Zivilgesellschaftliches Engagement gegen die Grauen Wölfe findet in der Regel ehrenamtlich und ohne staatliche Unterstützung statt.
In Frankreich sind die Grauen Wölfe im Jahr 2020 verboten worden. Eine sinnvolle Forderung auch für die Bundesrepublik?
Die Verbotsdebatte in Deutschland kam zu unvermittelt und ließ wichtige Fragen offen, etwa wer die gewalttätigen Gruppierungen sind und wen sie bedrohen. Es geht schon damit los, dass sich der wichtigste Player gar nicht «Graue Wölfe» nennt. Aufgelöst werden müsste die Türkische Föderation. Zu einem Verbot der großen Moscheeverbände der Grauen Wölfe ist die Bundesregierung aber nicht bereit. Innen- und außenpolitisch würden sich zu viele Schwierigkeiten auftun. De facto würde ja der Partner von Staatspräsident Erdoğan in Deutschland eliminiert. Ein Verbot einzelner gewalttätiger Gruppen dagegen halte ich für möglich. Zudem braucht es breit angelegte politische Bildungs- und Präventionsarbeit. Zivilgesellschaftliches Engagement gegen die Grauen Wölfe findet in der Regel ehrenamtlich und ohne staatliche Unterstützung statt. Nicht mal eine Handvoll von Projekten, die massiv unterfinanziert sind, sollen für ganz Deutschland das Problem bearbeiten. Absurd!
Eine antifaschistische Haltung schließt jegliche Kooperation mit den Grauen Wölfen aus.
Was muss auf kommunaler Ebene getan werden, um den Grauen Wölfen das Wasser abzugraben?
Sie müssen als rechtsextreme faschistoide Organisation markiert werden. Es muss bekannt sein, dass ein Verein der Türkischen Föderation in Duisburg, in Köln, in Berlin ein rechtsextremer Akteur ist und somit kein Partner für demokratische Kräfte. Dadurch würde auch der Weg der Grauen Wölfe in die Volksparteien verbaut. Mancheiner hat ja dort Karriere gemacht und Stadtpolitik mitgestaltet. SPD, CDU und CSU müssen sich endlich von den Grauen Wölfen deutlich distanzieren. Auch das Ansehen der Vereine als unpolitische Kooperationspartner müsste aufhören. Nicht selten haben sie bei Integrationsfesten in deutschen Städten einen Stand neben zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie treten auf, als seien sie ganz normale türkische Vereine.
Selbst bei der Mobilisierung gegen die AfD sind sie mit Logo dabei. Die linksliberale Öffentlichkeit ist gefordert, klare Grenzen zu ziehen: Eine antifaschistische Haltung schließt jegliche Kooperation mit den Grauen Wölfen aus. Dadurch würden auch Stimmen in der migrantischen Community gegen die Grauen Wölfe gestärkt. Ihre Kritik wird leider oft noch heruntergespielt oder im Sinne eines großen Bündnisses ganz ignoriert. Das muss aufhören.