
Man muss dem Herausgeber und dem Dietz-Verlag gratulieren: es ist in mehrfacher Hinsicht verdienstvoll, dass der vorliegende Band pünktlich zum 100. Geburtstag des Politikwissenschaftlers Johannes Agnoli am 22. Februar erschienen ist. Das Buch reiht sich ganz vorn ein in die in den allermeisten Fällen überaus lesens- und empfehlenswerte Reihe der in diesem Verlag seit längerem erscheinenden Miniaturen. Wer nicht mit Agnolis Leben, Wirken und Schreiben vertraut ist, bekommt hier viel auf bestem Niveau geboten, und auch für mehr vertraute, kann die Auffrischung nicht schaden: kurz, pointiert, wohl formuliert und kritisch entwirft der Herausgeber auf 55 Seiten ein politisches wie akademisches Portrait Agnolis, inklusive einer Skizze und Einordnung seiner wichtigsten Veröffentlichungen, der Transformation der Demokratie (1967, in Verbindung mit einem Text von Peter Brückner) und der Staat des Kapital (1975).
Reihentypisch folgt eine Textauswahl, in diesem Fall ein Artikel aus der FAZ (erschienen 1956), ein Brief an Heinz Brakemeier von 1963, ein Rundfunkmanuskript, zum Thema Journalismus in der APO, gesendet 1968, eine von ihm mitverfasste Einleitung zu einem Faschismusband von Alfred Sohn-Rethel (1973), ein Auszug aus dem Artikel Staat des Kapitals, eine Nachbemerkung aus einem Gesprächsband mit Ernst Mandel (1980), eine umwerfende Kritik zur politischen Wissenschaft (sprich: Politikwissenschaft), 1987, eine Rede, die er am 17. November 1989 auf dem Berliner Bebelplatz hielt und ein Artikel aus der Zeitschrift konkret, 1990 veröffentlicht. Vor allem der Ausschnitt aus Der Staat des Kapitals und die Kritik seiner eigenen akademischen Disziplin in Von der kritischen Politologie zur Kritik der Politik sind ebenso lesens- wie bedenkenswert: der prägnante Denk- und Schreibstil Agnolis wird deutlich, ebenso seine Relevanz auch für gegenwärtige Analysen – wenn nicht inhaltlich, dann zumindest in der Art und Weise, wie politische Analyse betrieben werden kann: und zwar mit größter Skepsis gegenüber der – nachvollziehbaren – Idee, man könne mit dem und im Staat irgendwie die Verhältnisse zu einem dauerhaft und grundlegend Besseren wenden, geschweige denn, ‚dem Kapitalismus‘ entkommen oder diesen überwinden.
Was Agnoli besonders macht, ist der seltene Umstand, dass er sein Denken und Wirken als Faschist in Italien begann, dies auch später nicht verschwieg, um dann zu einem Marxisten mit anarchistischem Einschlag zu werden, der als Hochschullehrer, Autor, Aktivist in Berlin und Italien – wo er seit 1991 wohnte und 2003 starb – wirkte. Ebenso besonders ist seine radikale, bissige Kritik des Denkens über Staat und Politik – mehr Agnoli wagen und mitbedenken – das ist für hiesige linke Verhältnisse ein bitter nötiger Zugewinn.
Es ist ein Jammer, dass Agnolis Art des Denkens und Schreibens heute im akademischen Raum kaum noch existiert, im Grunde ja aus verschiedenen, auch strukturellen Gründen fast unmöglich ist. Zugern würde man erfahren, was er zu den aktuellen, unübersichtlichen, radikalen, den Staat umkrempelnden Prozessen in den Vereinigten Staaten zu sagen hätte.
Wer sich von hier aus mit Agnoli weiterbeschäftigen will: im Stuttgarter Schmetterling Verlag wurden seine Schriften neu aufgelegt und sind noch immer erhältlich, nachdem sie zuvor bei Ca Ira in Freiburg erschienen waren, dort aber vor dem Hintergrund von juristischen Auseinandersetzungen nicht länger verlegt werden durften.
Michael Hewener (Hrsg.): Johannes Agnoli oder: Subversion als Wissenschaft, Dietz Verlag, Berlin 2025, 176 Seiten, 14 €.