Interview | Partizipation / Bürgerrechte - Rosalux International - Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak Die Zukunft Rojavas

Perspektiven der Demokratischen Selbstverwaltung in Nordost-Syrien

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Der Platz der Freiheit in Kobane nach der Zerstörung der Stadt durch den Islamischen Staat (2015) Foto: Kerem Çelik

In den mehrheitlich kurdischen Gebieten im Norden und Osten Syriens hat sich im Zuge des Arabischen Frühlings eine Selbstverwaltung gegründet, die international unter dem Namen «Rojava» bekannt wurde. Seit im Dezember letzten Jahres das Assad-Regime gestürzt wurde, geht es auch um die Zukunft dieser «Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien». Über die aktuelle Lage sprach Katja Hermann, Referentin für Westasien der Rosa-Luxemburg-Stiftung, mit Lukas Hoffmann, politischer Referent der deutschen Vertretung der Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien.

Katja Hermann: Mit dem Fall des Assad-Regimes und der Gestaltung des sogenannten neuen Syriens verändert sich auch die Situation der Selbstverwaltung. Bevor wir darüber sprechen, lass uns einen Blick zurückwerfen. Kannst du kurz darstellen, wie das Verhältnis zwischen dem Assad-Regime und der Selbstverwaltung war?

Lukas Hoffmann: Das Verhältnis hatte einen sehr sensiblen Status quo. Durch die Etablierung der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien gab es den erfolgreichen Kampf gegen den Islamischen Staat. Die Selbstverwaltung und die Bevölkerung vor Ort wurden damit zu einem politischen Akteur, der nicht mehr ignoriert werden konnte. Und die Selbstverwaltung hat sich stets auch um Verhandlungen mit Assad bemüht, die dieser aber immer blockiert hat. Gespräche gab es lediglich auf einer sehr niedrigen Ebene. Assad hat zum Beispiel den Flughafen in Qamischli kontrolliert, und natürlich ist man, wenn man regionale Autonomie anstrebt, schon rechtlich auf die Zustimmung und Anerkennung durch den Zentralstaat angewiesen – so, wie das auch mit Katalonien in Spanien oder mit Südtirol in Italien der Fall ist. Deswegen gab es das Angebot, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Deren Blockade durch Assad hat dem Regime geschadet und dazu beigetragen, dass dessen Sturz so schnell erfolgte.

Wie wurde der Zusammenbruch des Regimes in den Gebieten der Selbstverwaltung wahrgenommen?

Mit sehr großer Freude! In einigen Städten wurden Assad-Statuen gestürzt, das war berührend. Aus den Foltergefängnissen wurden auch viele Kurd*innen befreit, zusammen mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen. Kurd*innen waren unter dem Assad-Regime, wie auch andere ethnische Minderheiten und religiöse Gruppen, weitgehend entrechtet. Frauen und Mädchen litten unter den patriarchalen Aspekten dieser Diktatur, es gab sexualisierte Gewalt, Kinderehen etc. Die Leute haben einfach eine große Erleichterung gespürt. Sie hoffen auf ein neues Syrien.

Zugleich gibt es natürlich auch Grund zur Sorge. Die maßgebliche Miliz, die zusammen mit anderen bewaffneten Kräften Assad stürzte, ist die Hai’at Tahrir al-Sham (Komitee zur Befreiung Syriens, HTS), die jetzt den Übergangspräsidenten Ahmed Al-Scharaa stellt. Die HTS vertritt ein islamistisches und konservatives Weltbild, das dem demokratischen Experiment, welches in Nord- und Ostsyrien bereits seit mehr als zehn Jahren gelebt wird, entgegensteht. Das bereitet den Menschen große Sorge. Hinzu kommt, dass die Türkei und die mit ihr verbündete islamistische Miliz, die sogenannte Syrische Nationale Armee (SNA), die Gelegenheit dafür genutzt haben, die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur erneut brutal anzugreifen.

Mit Blick auf die jüngsten Angriffe der Türkei auf die Selbstverwaltung, was ist das Ziel der Türkei und ihrer Verbündeten?

Ihr Ziel ist, die Selbstverwaltung als politischen Akteur und die Vielfalt der ethnischen und religiösen Gruppen in Nord- und Ostsyrien zu zerstören. Das hat wiederum zwei Gründe. Zum einen sind es geopolitische Interessen: Nord- und Ostsyrien ist eine interessante Region, es gibt dort sehr viele Rohstoffe wie beispielsweise Erdöl und Getreide. Es liegt daher im Interesse der Türkei, dieses Gebiet zu kontrollieren. Mit Blick auf die regionale Dynamik versucht die Türkei sich dort bereits seit dem Beginn des Arabischen Frühlings 2011 als wichtige regionale Macht zu positionieren. Das geht mit Expansionsstreben einher und bezieht auch andere Länder wie den Irak – und dort wiederum die kurdischen Gebiete – ein.

Zum anderen sind es politische Gründe: Die Werte, auf denen die Selbstverwaltung basiert – wie Geschlechtergerechtigkeit, Demokratie, Pluralismus und dezentrale Verwaltung – widersprechen der Art und Weise, wie Präsident Erdoğans Partei, die Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP), die Türkei umgestaltet hat. Ihr Ziel ist es, dieses politische Projekt zu beenden.

Die Türkei verfolgt seit mindestens zwei Jahren die Strategie, mit Drohnenangriffen die Bevölkerung in die Flucht zu treiben. Außerdem will sie die zivile Infrastruktur zerstören. Beides sind eindeutig Kriegsverbrechen. Derzeit konzentrieren sich die Angriffe auf den Tischrin-Staudamm am Euphrat, der sehr bedeutsam ist für die Wasser- und Energieversorgung der Region. Den Demokratischen Kräften Syriens (SDF), den Verteidigungskräften vor Ort, gelingt es bislang jedoch, die Angriffe zurückzuschlagen.

Es ist deshalb sehr wichtig zu betonen, dass der Bürgerkrieg in Syrien noch keineswegs vorbei ist. Es besteht zwar die historische Chance, den Übergang von der militärischen zu einer zivilen Konfliktaustragung zu bewerkstelligen, aber solange die Türkei und die SNA-Miliz ihre Angriffe nicht einstellen, können die Syrer*innen diese Chance nicht nutzen. Und es ist ebenfalls wichtig festzuhalten, dass die Selbstverwaltung ihre Hände in alle Richtungen für Verhandlungen ausstreckt. Es gab zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs ja bereits Verhandlungen mit der Türkei, da waren Spitzenpolitiker aus Nord- und Ostsyrien in der Türkei – daran könnte man nun anknüpfen.

Du sagst, dass die Selbstverwaltung ihre Hände in alle Richtungen für Verhandlungen ausstreckt. Wie sieht sie denn ihre Rolle im sogenannten neuen Syrien und wie verhandelt sie mit Damaskus?

Zunächst einmal ist es so, dass die Selbstverwaltung aus einer Position der Stärke heraus agiert. Der syrische Interims-Präsident, Al-Scharaa, spricht ja davon, dass er in den nächsten vier bis fünf Jahren eine neue Verfassung ausarbeiten möchte. In Nord- und Ostsyrien gibt es bereits mehr als zehn Jahre gelebte Erfahrung mit nicht-diktatorischen Formen von Regierung und Verwaltung. Es gibt Erfahrungen damit, dass sunnitisch-arabische Menschen mit Kurd*innen, Jesid*innen und Angehörigen anderer Gruppen zusammenleben. Das geschieht, wie anderswo auch, nicht immer konfliktfrei, aber sie haben es ganz gut hingekriegt. Auf diese Erfahrung kann man aufbauen – das ist das Angebot der Selbstverwaltung.

Das ist der eine Punkt; der andere ist, dass die Selbstverwaltung sich klar zur territorialen Integrität Syriens bekennt. Es geht nicht darum, sich abzuspalten, sondern darum, ein Teil des neuen Syriens zu werden, mit einer regionalen Autonomie. Das bedeutet, dass die Kurd*innen und andere Gruppen – die Drus*innen im Süden etwa erheben ähnliche Forderungen – ihre eigenen Gebiete teilweise selbst verwalten können.

Die Voraussetzung hierfür ist, dass der Übergang gelingt zu einer zivilen Konfliktaustragung, zu einem politischen Dialog, der den Namen auch verdient hat. Wenn man allerdings die «Siegeskonferenz» in Damaskus Ende Januar zugrunde legt, auf der Al-Scharaa sich zum Übergangspräsidenten küren ließ, steht dies offensichtlich in Frage. Dort zugegen waren fast ausschließlich Männer in Militäranzügen, darunter auch manche, die Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung in Afrin begangen haben. Wenn dies das neue Syrien sein soll, dann muss man skeptisch bleiben.

Erfreulich ist, dass es dennoch Verhandlungen zwischen der Selbstverwaltung und der neuen Regierung in Damaskus gibt.

Ortschaft in Rojava im Nordosten Syriens Foto: Ferhat Arslan

Welche Position vertritt denn Damaskus zur kurdischen Frage und zu den Vorschlägen, die von der Selbstverwaltung kommen?

Das ist derzeit noch schwer zu sagen. Es gibt erst seit Ende Dezember Verhandlungen zwischen Damaskus und der Selbstverwaltung. Diese drehen sich hauptsächlich um vier Fragen. Erstens: In welcher Form werden die SDF in die syrische Armee integriert? Beide Seiten sind sich einig, dass dieser Schritt vollzogen werden soll, die Frage ist nur, in welcher Form das geschehen kann.

Eng damit verknüpft ist die zweite Frage: Wie kann der erfolgreiche Kampf gegen den IS fortgesetzt werden, und was passiert mit den knapp 40.000 Frauen und Kindern aus IS-Familien in den Lagern in Nord- und Ostsyrien und den 10.000 IS-Terroristen in den Gefängnissen, die von der Selbstverwaltung kontrolliert werden? Das ist eine tickende Zeitbombe. Will man, dass jemand wie Al-Scharaa, der früher bei Al-Qaida war, das kontrolliert? Will man, dass jemand wie der türkische Außenminister, Hakan Fidan, der als Geheimdienstchef die türkische Unterstützung für den IS maßgeblich in die Wege geleitet hatte, hierüber die Kontrolle ausübt? Oder bevorzugt man, dass das weiterhin in bewährter Art und Weise geschieht, also durch die Zusammenarbeit zwischen SDF und der internationalen Anti-IS-Koalition, zu der ja auch Deutschland zählt?

Drittens: Wie können die Ressourcen des Nordens, also insbesondere Getreide und Öl, gerecht auf ganz Syrien aufgeteilt werden? Auch da scheint eine Einigung möglich.

Und viertens: Wie kann eine dezentrale Verwaltung aussehen, die das Recht der lokalen Bevölkerung auf Selbstverwaltung, also auf eine demokratische Autonomie, sicherstellt? Da geht es nicht nur um die Kurd*innen, sondern es geht um die Frage, ob das neue Syrien auch wirklich inklusiv und stabil sein wird, weil es nämlich nur stabil sein kann, wenn es inklusiv ist. Und das muss sich in der Verfassung des Landes widerspiegeln.

Gibt es von Damaskus, also von Regierungsseite, schon ein Signal zu diesen Vorschlägen?

Es gab einen Tweet des neuen Außenministers, Asaad al-Schaibani, in kurdischer Sprache. Es war das erste Mal, dass ein offizieller Vertreter der syrischen Regierung sich auf Kurdisch äußert, und ist schon deshalb symbolisch sehr bedeutsam. Al-Schaibani schrieb, die Kurd*innen seien ein Teil Syriens und würden sich an der Neugestaltung des Landes beteiligen.

Die große Frage – die auch deshalb wichtig ist, damit die Menschen in Deutschland den Unterschied verstehen – lautet: Geht es lediglich um kulturelle Rechte für Kurd*innen und die anderen Bevölkerungsgruppen, oder geht es auch um politische Rechte? Mir scheint, es geht eben auch um letzteres, um die Anerkennung als politischer Akteur. Da gibt es noch Vorbehalte. Ich denke jedoch, dass diese Anerkennung erfolgen muss, wenn man die historische Chance für ein neues, friedliches Syrien nutzen möchte.

Man darf auch nicht vergessen, dass die neue Regierung in Damaskus erst vor zwei Monaten an die Macht kam. Sie agiert zunächst einmal zurückhaltend, sehr pragmatisch, und redet mit vielen Akteuren. Das ist gut. Man sollte jetzt nicht überhastet handeln, sondern sich Zeit lassen und den Prozess ernst nehmen.

Wie schätzt du die Rolle der USA ein, die bisher ja mit der Selbstverwaltung kooperiert haben?

Der Westen, die USA, die EU, die NATO: Alle haben in den letzten zehn Jahren gesehen, dass die Selbstverwaltung und die SDF als Partner im Kampf gegen den IS unverzichtbar sind. Da gibt es eine gute Kooperation. Gleichzeitig ist derzeit noch nicht absehbar, wie Donald Trumps Regionalpolitik tatsächlich aussehen wird. Auf die eine oder andere Überraschung wird man sich wohl einstellen müssen.

Fest steht, dass die Zukunft Syriens stark von externen Akteuren abhängt. Dabei geht es nicht nur um die USA, sondern auch um Israel und die Türkei – da gibt es große Spannungen. Werden diese zu einer Eskalation in Syrien führen? Und wer würde dann darunter leiden – wieder die Zivilbevölkerung? Oder gibt es eine Möglichkeit, das diplomatisch zu klären?

Wie wird Iran agieren? Die sogenannte Achse des Widerstands ist ja mittlerweile sehr geschwächt. Welche Schlüsse deren Akteure daraus ziehen, ist hingegen noch offen. Auch das spricht dafür, dass man in Syrien jetzt versuchen muss, stabile Verhältnisse herzustellen – und das geht nur, wenn man die Selbstverwaltung ernsthaft einbezieht.

Dann lass uns jetzt den Blick auf Deutschland richten. Worin siehst du die Rolle der Bundesrepublik mit Blick auf die kurdische Frage, und welche Erwartungen hast du?

Wir haben uns sehr gefreut, dass Außenministerin Annalena Baerbock sich bereits vor Weihnachten sehr klar geäußert hat, als die Türkei offen mit einem Angriff auf Kobane – die Stadt, die symbolisch für den Sieg über den IS steht – drohte. Da hat Baerbock deutlich gemacht, dass Deutschland damit nicht einverstanden ist. Das war ein sehr positives Signal.

Auch mit Blick auf den Kampf gegen den IS steht die Selbstverwaltung in Kontakt mit der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt. Ehrlicherweise muss man aber zugleich sagen, dass Deutschland enge Beziehungen zur Türkei unterhält und es deswegen schwierig ist, sie zu einer aktiven Unterstützung der Selbstverwaltung zu bewegen.

Das hat sich allerdings mit dem Sturz von Assad teilweise geändert. Es gab im Januar eine erste offizielle Delegation unter der Leitung des Nah- und Mittelostbeauftragten des Auswärtigen Amtes, Dr. Tobias Tunkel. Er hat sich auch mit dem Oberkommandeur der SDF und der Oberkommandeurin der Frauenverteidigungseinheiten getroffen. Es war das erste Mal, dass eine Vertretung des AA die Selbstverwaltung besucht hat, was natürlich ein starkes Signal in Richtung Türkei sendet.

Was kann und sollte die deutsche Linke zur Gestaltung des neuen Syriens beitragen, vor allem mit Blick auf die kurdische Frage?

Aufgrund des Krieges gibt es eine große arabisch-syrische Exilgemeinde und eine große kurdisch-syrische Diaspora in Deutschland. Wichtig ist zunächst einmal, mit diesen Menschen in Kontakt zu kommen, denn für sie sind die Entwicklungen in Syrien keine bloße Nachricht in der Tagesschau; vielmehr sind ihre Familien betroffen, und alles, was dort passiert, ist gewissermaßen Teil ihres Alltags.

Damit ist die Situation in Syrien zugleich ein Teil des deutschen Alltags; das ist wichtig zu verstehen. Es gibt auch sehr viele konkrete zivilgesellschaftliche Kooperationen, die jetzt, wo es ebendiese Chance auf ein neues Syrien gibt, auch noch mal anders begleitet werden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beispielsweise hat beschlossen, das Klinikpartnerschaften-Programm auf Syrien auszuweiten. An diesem Programm können Interessierte übrigens auch teilnehmen, etwa über Aktivengruppen der Gewerkschaft ver.di. Ähnliche Ansätze gibt es im Bereich Ökologie, etwa im Projekt «Solardarity» von medico international, das Solarpanele für Nord- und Ostsyrien kauft, um die durch die Angriffe der Türkei geschwächte Energieinfrastruktur zu stabilisieren.

Von entscheidender Bedeutung in diesem Prozess ist meines Erachtens, dass es mit Blick auf die Selbstverwaltung nicht um Almosen, sondern um politische Rechte und die Anerkennung als politischer Akteur geht. Das ist die zentrale Forderung, die die deutsche und internationale Linke unterstützen sollte.