Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Rosalux International - USA / Kanada O Canada!

Trumps Drohungen und die Wende der kanadischen Innenpolitik. Von Joseph Gubbels

Information

Der scheidende kanadische Premierminister Justin Trudeau hält eine Pressekonferenz in der kanadischen Botschaft in Brüssel ab, 12.02.2025.
Der scheidende kanadische Premierminister Justin Trudeau hält eine Pressekonferenz in der kanadischen Botschaft in Brüssel ab, 12.02.2025.
 
 

 

 

Foto: IMAGO / ZUMA Press

Jahrelang drehte sich in der kanadischen Politik fast alles um Justin Trudeau, zuletzt vor allem um dessen sinkende Zustimmungswerte und die Kritik der Opposition. Anfang Januar 2025 kündigte Trudeau nach fast zehn Jahren an der Macht überraschend seinen Rücktritt als Vorsitzender der Liberalen Partei und als Ministerpräsident an. Die war ein allgemeiner Schock, der zunächst die Konservativen zu begünstigen schien, die sich trotz ihres jüngsten Rechtsrucks sicher waren, bei anstehenden Neuwahlen leichtes Spiel zu haben.

Joseph Gubbels ist Mitglied der New Democratic Party und studiert politische Theorie und öffentliche Verwaltung.

Wäre da nicht der zweite Schock, der mit dem erneuten Einzug Trumps ins Weiße Haus zusammenhängt. Bereits vor seinem Amtsantritt hatte Trump dem Nachbarland mit harschen Zöllen gedroht und sogar die staatliche Souveränität Kanadas infrage gestellt. Das hat, zusammen mit einem politischen Schwenk der Liberalen, zu einem gewissen Umdenken in der kanadischen Wählerschaft geführt. Wer vorher den Konservativen zuneigte, überlegt nun, ob es wirklich so eine gute Idee ist, in diesen Zeiten im eigenen Land einer deutlich nach rechts gerückten Partei die Regierungsgeschäfte zu übertragen.

Was diese Dynamik für die Zukunft der kanadischen Politik bedeutet, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sich die linke New Democratic Party in dieser Situation verhält, ob sie es schafft, sich neu zu formieren, und ob sie der aktuellen Herausforderung, die Grundlage der kanadischen Identität neu zu definieren, gerecht werden kann.

Ernüchterung über die Liberale Partei

Die Liberalen haben nach Meinungsumfragen seit Mitte 2023 drastisch an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Dabei hat sich die Wut auf den Ministerpräsidenten und seine Partei bereits seit Längerem angestaut, im Prinzip bereits seit Beginn seiner ersten Amtszeit.

Zunächst hatte sein Sieg 2015 im Land noch großen Enthusiasmus ausgelöst. Doch kurz darauf enttäuschte Trudeau seine Wähler*innen das erste Mal: Anstatt eines seiner wichtigsten Wahlversprechen, das kanadische Wahlsystem zu ändern, einzulösen, beendete er den gerade begonnenen Reformprozess mit der Begründung, es habe keine Einigung über das neue System erzielt werden können. Kürzlich gab er jedoch zu, was viele schon lange vermutet hatten: Er hat deswegen die Wahlreform abgebrochen, weil ihm das nach öffentlichen Konsultationen von einer parteiübergreifenden Kommission vorgeschlagene neue System schlichtweg nicht in den Kram passte.

Die neue liberale Regierung geriet auch deswegen bald unter Beschuss, weil sie die Politik der Konservativen in vielerlei Hinsicht einfach fortsetzte, obwohl sie diese dafür in der Opposition noch scharf kritisiert hatte. So nahm sie beispielsweise die von der Vorgängerregierung vorgenommenen Kürzungen im Gesundheitswesen nicht zurück, warf den Konservativen aber weiterhin vor, für dessen Unterfinanzierung verantwortlich zu sein. Zudem brachen die Liberalen ihr Versprechen, die Methanemissionen zu regulieren, und übernahmen einfach die Ziele der Konservativen für die Senkung der Treibhausgasemissionen, die sie zuvor als völlig unzureichend bezeichnet hatten. Sie verärgerten Umweltschützer*innen außerdem mit der Entscheidung, eine riesige neue LNG-Anlage zu genehmigen und 4,5 Milliarden Dollar für den Kauf und Bau der TMX-Ölpipeline auszugeben, nachdem sich private Investoren aus dem Projekt zurückgezogen hatten.

Auch die Wirtschaftspolitik der Trudeau-Regierung enttäuschte viele Progressive, nicht zuletzt die zwei Steuersenkungen für die «Mittelschicht» in den Jahren 2015 und 2019, von denen in erster Linie die Reichen profitierten. Trudeau brach auf Druck von Lobbyist*innen ebenso sein Wahlkampfversprechen, ein Steuerschlupfloch für Großverdiener zu schließen. Eine weiteres von Trudeau vollmundig angekündigtes Vorhaben, mithilfe der Canada Infrastructure Bank dringend benötigte Investitionen in öffentliche Infrastrukturprojekte zu finanzieren, fiel der Privatisierung zum Opfer. Die Umstellung auf ein Finanzierungsmodell, in dem die Gewinne privater Investoren im Vordergrund stehen, ist nicht nur doppelt so teuer für die Steuerzahler*innen, sondern schwächt auch die Entscheidungsgewalt der öffentlichen Hand. Finanzminister Bill Morneau hat zwar eingeräumt, dass mit dem neuen Modell langfristig höhere Kosten verbunden sein könnten, dieses aber dennoch mit dem Argument verteidigt, es erleichtere die kurzfristige Kreditaufnahme. Dass damit einer Kommerzialisierung und Privatisierung neuer und bereits bestehender öffentlicher Infrastruktur Vorschub geleistet wird, scheint die Liberalen nicht zu stören.

Bis Anfang dieses Jahres sah es so aus, als hätten die Konservativen bei Neuwahlen eine Mehrheit sicher.

Was jedoch vermutlich bis vor Kurzem ihre Aussichten auf einen erneuten Wahlsieg am meisten trübte, ist ihr Versagen, etwas gegen die Wohnungskrise zu unternehmen. Es ist insbesondere in kanadischen Großstädten kaum mehr möglich, erschwinglichen Wohnraum zu finden. Seit den 1980er Jahren haben konservative wie auch liberale Regierungen den sozialen Wohnungsbau stark vernachlässigt, was zu einer erheblichen Unterfinanzierung entsprechender staatlicher Förderprogramme führte. Heute müssen Anspruchsberechtige 14 Jahre lang auf die Zuweisung einer Sozialwohnung warten, es gibt kaum genossenschaftlich verwalteten Wohnraum, und die Preise für auf dem Markt angebotene Wohnungen und Häuser sind in den letzten Jahrzehnten regelrecht explodiert. Derzeit liegen die durchschnittlichen monatlichen Kosten für Wohneigentum bei etwa 60 Prozent des Medianeinkommens (in Großstädten sind es über 80 Prozent, bei Einfamilienhäusern sind es bis zu 125 Prozent). Einfache Beschäftigte können sich schon längst keine eigene Mietwohnung mehr leisten, in Großstädten beträgt das dafür benötigte Einkommen das Doppelte des gesetzlichen Mindestlohns.

Auch in Kanada hat die anhaltend hohe Einwanderung zu einem bisher beispiellosen gesellschaftlichen Backlash geführt, da viele die zahlreichen neuen Migrant*innen für die Wohnungskrise verantwortlich machen. Ein großer Teil der gegenwärtigen Zuwanderung geht auf die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zurück. Die Liberalen haben entsprechende Visaprogramme geändert, um die Nachfrage der Wirtschaft nach temporären Billigarbeiter*innen zu befriedigen. Zudem haben sie es den Universitäten erleichtert, internationale Studierende aus wohlhabenden Familien ins Land zu holen, die mit ihren hohen Studiengebühren in den Provinzen (insbesondere Ontario) die Hochschulbildung mitfinanzieren und dabei helfen, die Steuern und Studiengebühren für Einheimische niedrig zu halten. Inzwischen haben die Liberalen die Studienzulassungen reduziert, und die befristeten wie auch die unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen werden nur noch sehr restriktiv erteilt. Der Ruf der Regierung ist jedenfalls bereits beschädigt und das Vertrauen der Kanadier*innen in das Einwanderungssystem dahin.

Hinzu kommt: Nach zehn Jahren Trudeau-Regierung ist die Einkommensungleichheit in Kanada so hoch wie noch nie und die Vermögensungleichheit nimmt immer rasanter zu, während die jüngsten Fortschritte bei der Armutsbekämpfung weitgehend zunichtegemacht wurden.

Auch an der Außenpolitik der liberalen Regierung gibt es Kritik. So hielt sie an einem umstrittenen Waffengeschäft mit Saudi-Arabien fest mit der Begründung, dieses sei bereits vor ihrer Machtübernahme abgeschlossen worden und könne nicht mehr aufgelöst werden. Später musste sie zugeben, dass letzteres nicht stimmte. Trotz der Proteste von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die seit Jahren eine Beschränkung von Rüstungsexporten fordern, trotz Klagen und zunehmender Beweise dafür, dass die saudische Regierung in Kanada produzierte gepanzerte Fahrzeuge zur Unterdrückung von Unruhen im Inland und zur Kriegführung im Jemen einsetzt, führen die Liberalen die Zusammenarbeit mit dem saudischen Regime fort. Nur nachdem der saudische Journalist Jamal Khashoggi im Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul ermordet worden war, wurden die Rüstungsexporte für kurze Zeit ausgesetzt. Ein Jahr darauf wurden sie wieder aufgenommen – ohne jede weitere Erklärung. Amnesty International beschuldigte Kanada daraufhin, gegen internationale Abkommen zu verstoßen, und in einem Bericht der Vereinten Nationen wurde dem Land vorgeworfen, den Krieg im Jemen anzuheizen. Da die Liberalen die Bemühungen um eine bessere Überwachung von Waffengeschäften blockiert haben, verkaufen kanadische Rüstungskonzerne weiterhin jährlich Kampfgerät im Wert von über einer Milliarde Dollar an autoritäre Regime.

Zusätzlich zu diesen politischen Kontroversen gab es eine Reihe von persönlichen Skandalen, die das Ansehen von Ministerpräsident Trudeau beschädigten. Als Kanada wie die meisten westlichen Länder nach Ende der Corona-Pandemie von einer enormen Inflation erfasst wurde, verstärkte dies noch einmal die Frustration der Bevölkerung. Die über ein Jahrzehnt schwelende Wut auf Trudeau und die Liberalen brach sich Bahn. Anfang dieses Jahres erreichten die Umfragewerte der Liberalen den absoluten Tiefstand in ihrer 158-jährigen Geschichte, und nur noch 19 Prozent der Befragten zeigten sich zufrieden mit Ministerpräsident Trudeau – auch dies der schlechteste Wert seit seinem Amtsantritt.

«Making Canada Great Again»

Von der Ernüchterung über die Liberalen haben seit 2023 fast ausschließlich die Konservativen profitiert. Die heute Konservative Partei Kanadas ging 2003 aus dem Zusammenschluss der gemäßigten Progressive Conservatives und der rechtspopulistischen Partei «Kanadische Reform Neue Allianz» (Reform/Allianz) hervor, wobei bis heute eine gewisse Kluft zwischen beiden Fraktionen weiterbesteht. Die Konservative Partei muss sich nach außen gemäßigt und tolerant geben, um die Wechselwähler*innen im Osten des Landes für sich zu gewinnen. Gleichzeitig muss sie ihre stramm rechte und sozialkonservative Anhängerschaft im Westen bei Laune halten. Seit 2016 gehört dazu eine kleine, aber stetig wachsende Gruppe kanadischer Trump-Fans: Zehn Prozent der Konservativen unterstützen Trumps «Vorschlag», Kanada zu einem Bundesstaat der USA zu machen, 25 Prozent finden diesen zumindest «bedenkenswert».

Die Konservative Partei wird von Pierre Poilievre angeführt, der vor seiner Wahl zum Abgeordneten im Jahr 2004 der Reform/Allianz und dort dem rechten Flügel angehörte. Als die Konservativen ihn 2022 zum Parteivorsitzenden wählten, war dies eine klare Absage an die eher moderaten Positionen, die sein Vorgänger vertreten hatte. Poilievre war einer der ersten Parlamentarier, der den Freedom Convoy unterstützte, eine Aktion von LKW-Fahrer*innen und Impfgegner*innen, die im Januar 2022 aus Protest gegen die Covid-Politik der Regierung die Hauptstadt Ottawa belagerten. Poilievre hat den Kurs der Konservativen Partei seitdem massiv nach rechts verschoben, ihr Ton wurde deutlich aggressiver.

Die meisten Kernforderungen der NDP wurden inzwischen erfüllt.

Poilievre selbst ist in erster Linie ein Fiskalkonservativer, der sich hinsichtlich sozialer Fragen auf einem schmalen Grat bewegt. Anders als seine Vorgänger richtet er sich auch an die radikalisierten Teile der Konservativen inn- und außerhalb der Partei. Er warf Trudeau vor, eine «radikale Gender-Ideologie» zu fördern, griff etliche Argumente rechter Verschwörungstheoretiker auf, zeigte sich mit rechtsextremen Aktivist*innen in der Öffentlichkeit und weigerte sich, drei konservative Abgeordnete zu disziplinieren, die sich mit einem Politiker der Alternative für Deutschland (AfD) getroffen hatten. Dennoch hat Poilievre bisher davon abgesehen, sich gegen das Recht auf Abtreibung auszusprechen (in Kanada steht eine deutliche Mehrheit weiterhin hinter dem Recht auf Abtreibung, obwohl auch hier eine lautstarke Minderheit der Konservativen eine gesetzliche Verschärfung fordert). Er hält sich im Allgemeinen auch von der rassistischen Hetze und der migrationsfeindlichen Rhetorik und Politik fern, die für die heutige nordamerikanische Rechte so charakteristisch sind.

Bis Anfang dieses Jahres sah es so aus, als hätten die Konservativen bei Neuwahlen eine Mehrheit sicher. Poilievre ist es gelungen, seine Partei zur Anti-Trudeau-Stimme zu machen. Er war dem noch amtierenden Ministerpräsidenten beispielsweise vor, mit der Einführung einer CO2-Steuer und erhöhten Staatsausgaben die Inflation im Land angeheizt zu haben und mit seiner zu nachsichtigen Drogen- und Gefängnispolitik für Chaos und Unruhen in den Städten verantwortlich zu sein. Des Weiteren beschuldigt er die Trudeau-Regierung der Überregulierung der Wirtschaft. Diese habe maßgeblich zu ökonomischer Stagnation und zur Immobilienkrise beigetragen.

Doch neben diesen populären Anwürfen verfolgt Poilievre eine Reihe von Vorhaben, die in der Bevölkerung nur auf wenig Zustimmung stoßen. Lediglich 14 Prozent sind für den Plan der Konservativen, das neue Pharmacare-Programm abzuschaffen, nur 23 Prozent befürworten, die zahnärztliche Versorgung einzuschränken, und bloß 25 Prozent sprechen sich wie die Konservativen gegen eine staatlich subventionierte Tagesbetreuung von Kindern aus. Insbesondere das Vorhaben, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk CBC «Mittel zu entziehen» (das heißt ihn abzuschaffen), ist äußerst unbeliebt (lediglich 11 Prozent der Befragten sind dafür). Dennoch waren die Konservativen mit ihrer zentralen Botschaft, die Liberalen hätten «Kanada kaputt gemacht», bis vor Kurzem sehr erfolgreich.

Die Linke unter Druck

Die linke New Democratic Party (NDP) wurde 1961 vom Canadian Labour Congress, bis heute der wichtigste Gewerkschaftsbund in Kanada, und der sozialistischen Co-operative Commonwealth Federation (CCF) gegründet. Nach und nach nahm die NDP (insbesondere unter den jüngsten zentristischen Anführern) sozialdemokratische Züge an. Aber die Partei verfügt immer noch über einen bedeutsamen linken Flügel, zu dem auch mehrere jüngere Abgeordnete zählen, die sich selbst als sozialistisch verstehen. Auch der derzeitige Parteivorsitzende, Jagmeet Singh, hat sich seit 2017 deutlich nach links bewegt. Die NDP unterhält bis heute enge Beziehungen zur Arbeiterbewegung. Viele große Gewerkschaften sind formell mit der Partei verbunden, ihren Vertreter*innen sind bestimmte Quoten in den Führungsgremien der Partei vorbehalten. Trotzdem sagt die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft in Kanada noch wenig über die politische Ausrichtung aus. Gewerkschaftsmitglieder, die im öffentlichen Dienst arbeiten, tendieren dazu, die NDP zu unterstützen, während Gewerkschaftsmitglieder im privaten Sektor, ähnlich wie der Rest der Bevölkerung, in letzter Zeit eher den Konservativen zuneigen.

Jenseits des überall festzustellenden Stadt-Land-Gefälles ist die kanadische Politik besonders stark regional geprägt und lässt sich nicht einfach mit einem Links-rechts-Modell erfassen. Das heißt, dass die NDP in den verschiedenen Wahlbezirken sowohl mit den Liberalen als auch mit den Konservativen konkurriert. Vor allem in Mittel- und Westkanada war die NDP in der Vergangenheit erfolgreich und hat dort einige Provinzregierungen gestellt. Sie hat aber noch nie eine nationale Wahl gewonnen, obwohl sie ein paar Mal kurz davorstand. Die Bedeutung der Neuen Demokraten liegt bis heute vor allem darin, bestimmte Forderungen und Ideen verbreitet, auf Provinzebene Pionierarbeit geleistet und Minderheitsregierungen auf Bundesebene Zugeständnisse abgetrotzt zu haben.

Im Jahr 2021 unterzeichnete Jagmeet Singh eine Vereinbarung, mit der er der liberalen Minderheitsregierung bei Vertrauensabstimmungen Unterstützung zusagte im Gegenzug für die Erfüllung zentraler Forderungen der NDP: ein Verbot des Einsatzes von Streikbrecher*innen, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Unterstützung von Geringverdiener*innen, staatlich subventionierte Kindertagesbetreuung, die Aufnahme der zahnärztlichen Versorgung und verschreibungspflichtiger Medikamente (Pharmacare) in die öffentliche Krankenversicherung und andere. Der Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens ist seit Jahrzehnten ein wesentliches Ziel der NDP. Es war eine NPD-Regierung, die 1962 erstmalig eine öffentliche Gesundheitsversorgung für alle auf regionaler Ebene einführte – ein Konzept, das 1966 dann von der damaligen liberalen Bundesregierung auf Druck der Linken für ganz Kanada übernommen wurde. Heute sind die Kanadier*innen stolz auf ihr nationales Gesundheitssystem. Ein solches System mit durchgesetzt zu haben, wird von der Bevölkerung weithin als größte Errungenschaft der NPD betrachtet. Dafür wurde ihr damaliger Vorsitzender, Tommy Douglas, viele Jahre später vom Fernsehpublikum zu einem der bedeutendsten Landsleute («Greatest Canadian») gewählt.

Die meisten Kernforderungen der NDP wurden inzwischen erfüllt, auch wenn die allgemeine zahnärztliche und Medikamentenversorgung bis heute noch nicht vollständig von der öffentlichen Krankenversicherung abgedeckt wird. Dieser politische Erfolg hat jedoch seinen Preis: Singh gilt weithin als Bündnispartner Trudeaus, obwohl er im September 2024 die Vereinbarung mit der liberalen Regierung offiziell aufkündigte. Seine Zustimmungswerte lagen mit 38 Prozent noch nie so niedrig wie im Moment. Singhs Anhänger*innen argumentieren, es sei wert, diesen Preis zu zahlen. Entscheidend sei, eine konservative Machtübernahme möglichst lange hinauszuzögern und genügend Zeit zu gewinnen, um die neuen Regelungen zur Krankenversicherung so weit umzusetzen, dass sie nicht mehr einfach rückgängig gemacht werden können.

Seine Kritiker*innen werfen Singh dagegen vor, versäumt zu haben, aus der Implosion der Liberalen Kapital zu schlagen. Sie verweisen insbesondere auf die Abwanderung von Teilen der Arbeiterklasse zu den Konservativen. Singh wird auch vorgeworfen, die Wut der Bevölkerung auf die Liberalen nicht überzeugend aufzugreifen und in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Wegen seiner teuren Kleidung, seiner kostspieligen Uhr und seines Autos wurde Singh – was Ausdruck der zunehmenden Verbitterung in der kanadischen Politik ist – des Öfteren als «Salon-Linker» beschimpft. Singh selbst versteht diese Ausstattung als eine Art «Rüstung», mit der er sich, gerade in seiner Zeit als Rechtsanwalt, gegen rassistische Vorurteile zu wappnen suchte.

Der letzte Strohhalm der Liberalen

Die erste große Erschütterung des politischen Status quo in Kanada war die Rücktrittsankündigung Justin Trudeaus. Etliche liberale Abgeordnete hatten sich jahrelang ergebnislos bemüht, ihn zum Rückzug zu bewegen. Dann kam der dramatische Rücktritt der Finanzministerin und stellvertretenden Ministerpräsidentin, Chrystia Freeland. Wenige Tage bevor sie einen wichtigen, aber umstrittenen Bericht zur wirtschaftlichen Lage der Nation vorlegen sollte, hatte Trudeau angekündigt, sie danach ihres Amtes zu entheben und, so wurde gemunkelt, durch Mark Carney zu ersetzen. Anstatt sich ins Schwert zu stürzen, kam Freeland Trudeau zuvor, kündigte selbst ihren Job und warf dem Ministerpräsidenten eklatante Führungsfehler vor.

Dies führte zu einer Revolte in der parlamentarischen Fraktion der Liberalen, die damit endete, dass Trudeau am 6. Januar seinen Rücktritt als Ministerpräsident und Parteivorsitzender ankündigte. Er erklärte, bis Ende März im Amt bleiben zu wollen, und setzte bis dahin die Parlamentsarbeit aus. Das gebe seiner Partei hinreichend Zeit, sich um seine Nachfolge zu kümmern. Der bzw. die neue Parteivorsitzende würde ihn als Ministerpräsident ablösen und als Spitzenkandidat der Liberalen bei den nächsten Wahlen antreten.

Trumps Drohung, Kanada zu annektieren, wurde zunächst als respektlose Stichelei aufgefasst, aber seine ständige Wiederholung dieser Aussage brachte viele Kanadier*innen dazu, sie ernst zu nehmen.

Für die Nachfolge Trudeaus gibt es drei ernst zu nehmende Kandidat*innen. Die Vorsitzende der liberalen Fraktion im Abgeordnetenhaus, Karina Gould, scheint derzeit weit abgeschlagen auf dem dritten Platz zu liegen. Sie kann aber auf die Unterstützung von der Parteibasis zählen, was ihre Chancen deutlich verbessern wird. Chrystia Freeland wurde ursprünglich als Favoritin für die Nachfolge Trudeaus gehandelt, hat aber mit ihren öffentlichen Angriffen auf den scheidenden Ministerpräsidenten offenbar einige ihrer Fraktionskolleg*innen verprellt. Mark Carney, der Mann, der Freeland wohl ablösen sollte, genießt in liberalen Kreisen hohes Ansehen – sowohl wegen seiner Ausbildung in Harvard und Oxford, als auch aufgrund seiner Erfahrungen als Direktor der Bank of Canada, wo er sich während der Finanzkrise 2008 einen Ruf als geschickter Wirtschaftsmanager erwarb, bevor er Direktor der Bank of England wurde.

Alle drei Anwärt*innen auf den Parteivorsitz stehen politisch rechts von Trudeau und haben versprochen, die CO2-Steuer (weitgehend) abzuschaffen, die jüngste Erhöhung der Kapitalertragsteuer rückgängig zu machen und insgesamt eine konservativere Steuerpolitik zu verfolgen. Insbesondere Carney präsentiert sich als Zentrist und kritisiert «die extreme Linke», die «im Staat die Lösung für jedes Problem» sehe und nicht verstehe, dass «wir nicht umverteilen können, was wir nicht haben» – ungeachtet der rekordverdächtigen Einkommens- und Vermögensungleichheit im Land. Carney, der nie in ein politisches Amt gewählt wurde und nicht Gefahr läuft, als Verbündeter Trudeaus wahrgenommen zu werden, stellt sich selbst als «Außenseiter» dar – obwohl er zwölf Jahre lang die Position des obersten Bankers in zwei verschiedenen Ländern innehatte. Ihm werden derzeit die besten Aussichten unterstellt, er gilt als Favorit im Rennen um die Führung der Liberalen. Aber aufgrund der besonderen Spielregeln – Rangfolgewahl und ein gewichtetes Punktesystem, die kleine Wahlkreise begünstigen – ist immer mit Überraschungen zu rechnen.

Die Bedrohung aus Washington

Der zweite große Schock für Kanada war die Wiederwahl Donald Trumps, der Gefallen daran findet und nicht müde wird, dem Nachbarland zu drohen. Zunächst kündigte Trump die Einführung von Zöllen in Höhe von 25 Prozent an, mit denen er Kanada und Mexiko – angeblich für die Duldung des Fentanylhandels und illegaler Migration – bestrafen will. Dabei ist bekannt, dass nur 0,2 Prozent des in den USA konsumierten Fentanyls aus Kanada stammen und nur 1,5 Prozent der an den US-Grenzen aufgehaltenen Migrant*innen. Trump behauptet zudem, die Zölle seien eine Reaktion auf das große Handelsdefizit, mit dem die USA Kanada jährlich angeblich mit 200 Milliarden Dollar «subventionieren». Doch er stellt nicht nur die Art des Defizits falsch dar, sondern lügt auch bei den Zahlen: Das Handelsdefizit der USA gegenüber Kanada beträgt 41 Milliarden US-Dollar; nimmt man jedoch den Energiesektor aus, ergibt sich ein amerikanischer Handelsüberschuss von 63 Milliarden Dollar. Der Grund, warum Trump die Höhe der Zölle auf die Einfuhr von Öl und Elektrizität aus Kanada auf zehn Prozent begrenzen will, zeigt, wie wichtig diese für die dortige Versorgung sind.

Was jedoch die größte Empörung und Irritation hervorgerufen hat, ist Trumps Erklärung, Zölle seien ein «machtvolles wirtschaftliches Instrument», das man nutzen könne, um Kanada zum 51. Bundesstaat der USA zu machen. Seine Drohung, Kanada (zusammen mit Grönland und dem Panamakanal) zu annektieren, wurde zunächst als respektlose Stichelei aufgefasst, aber seine ständige Wiederholung dieser Aussage brachte viele Kanadier*innen dazu, sie ernst zu nehmen. Selbst Trudeau sagte vor laufender Kamera, er halte die Annexion tatsächlich für das erklärte Ziel von Trump.

Am Vorabend des Stichtags, an dem die Strafzölle in Kraft treten sollten, hielt Trudeau eine öffentliche Rede, in der er an die langjährige Freundschaft zwischen den USA und Kanada erinnerte, gleichzeitig aber auch Vergeltungszölle ankündigte. Diese sollten vor allem die von Republikanern regierten US-Bundesstaaten treffen. Die eigenen Landsleute forderte er dazu auf, Geschlossenheit zu zeigen, gezielt kanadische Produkte zu kaufen, Waren aus den USA zu boykottieren und nicht länger dorthin zu reisen. Daraufhin kam es zu einer kurzfristigen Einigung zwischen beiden Regierungen. Trump sagte eine 30-tägige «Aussetzung» der angekündigten Zölle zu, hat inzwischen aber schon wieder seine Meinung geändert und Zölle auf Stahl und Aluminium in Höhe von 25 Prozent bekanntgegeben. Außerdem sprach er davon, Kanada sei «als Land allein nicht lebensfähig», weswegen er weiterhin vorhabe, es zum 51. Bundesstaat der USA zu machen.

Diese Drohungen haben in Kanada zu einer noch nie dagewesenen antiamerikanischen Stimmung geführt: Die US-Hymne wird in den Sportstadien ausgebuht, US-Produkte werden aus den Regalen der Läden genommen, die Boykottaufrufe gegen US-Waren und -Reisen mehren sich. Manche haben sogar vorgeschlagen, die Öl- und Stromlieferungen in die USA einzustellen (was die kanadische Regierung tatsächlich in Erwägung zieht). Und es sind noch radikalere Ideen im Umlauf. Es wird nervös darüber diskutiert, wie es gelingen kann, die eigene Wirtschaft stärker zu diversifizieren, um nicht länger so massiv vom Nachbarland abhängig zu sein. Es gibt Vorschläge, die sich hartnäckigen haltenden Handelsschranken zwischen den Provinzen abzubauen und sich mehr an Europa auszurichten. Manche plädieren gar für einen Beitritt Kanadas zur Europäischen Union – eine Idee, die nach Umfragen ein Drittel der Bürger*innen befürwortet.

Die anhaltenden Drohungen, von der Annexion bis hin zu hohen Handelszöllen, und die damit verbundenen Unsicherheiten haben ein Gefühl von Ausnahmezustand erzeugt, aber auch – nicht zuletzt angesichts der geschlossenen Reaktion des «Teams Kanada» – eine neue Welle des Patriotismus ausgelöst. Erklärten im Dezember 2024 noch 34 Prozent der Kanadier*innen, sie seien «sehr stolz» auf ihr Land, waren es zwei Monate später bereits 44 Prozent.

Dieser Wandel bedeutet zugleich, dass Poilievres «Kanada-ist-kaputt»-Rhetorik deutlich an Popularität verloren hat. Außerdem beraubte ihn der anstehende Wechsel an der Spitze der Liberalen Partei seiner beiden Hauptangriffsziele: Trudeau und die CO2-Steuer. Auch mit seinen ersten Reaktionen auf Trumps Drohungen hat sich Poilievre nicht besonders beliebt gemacht. Anstatt Trumps Anliegen klar zurückzuweisen, übernahm er teilweise dessen Behauptungen und griff im selben Atemzug, in dem er angeblich Kanada verteidigte, erneut die Liberalen und die NDP scharf an. Darüber hinaus wird ihm übelgenommen, dass er Elon Musk dazu aufforderte, in Kanada zu investieren.

Nach diesen Patzern hat sich Poilievre erst einmal aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Noch suchen die Konservativen nach einem Weg, wie sie ihrer Partei und ihrem Spitzenkandidaten wieder neuen Schwung verleihen können. Aktuellen Umfragen zufolge gehen die Zustimmungswerte für die Konservativen zurück. Nur noch 26 Prozent der Kanadier*innen halten Poilievre für den besten Politiker, um mit Trumps Angriffen umzugehen, 40 Prozent sprechen sich für Carney und 13 Prozent für Freeland als künftige*n Regierungschef*in aus. Unabhängig davon, ob dieser Trend länger oder gar bis zu den anstehenden Neuwahlen anhalten wird: Derzeit erscheint es eher unwahrscheinlich, dass der seit über drei Jahren gehegte Plan der Konservativen, die nächste Parlamentswahl zu einer Abstimmung über die CO2-Steuer zu machen, so einfach aufgehen wird.

Ein neues Kanada und eine neue New Democratic Party

Es steht zu erwarten, dass das Hin und Her zwischen Ottawa und Washington über die Zölle in den kommenden Wochen anhalten wird. Die Reaktionen der politischen Elite und der Öffentlichkeit auf diesen Konflikt und Trumps anhaltende Drohungen werden nicht nur Einfluss auf die Dynamik und den Ausgang der nächsten nationalen Wahlen in Kanada haben. Sie werden auch die Politik, die Kultur und die Beziehungen Kanadas zum Rest der Welt grundlegend neu bestimmen.

Das Rennen um die Führung der Liberalen Partei wird bereits am 9. März beendet sein. Der Sieger bzw. die Siegerin wird zwei Wochen Zeit haben, um als Ministerpräsident*in eine neue Richtung vorzugeben, bevor das Parlament am 24. März wieder zusammentritt. Es ist schwer vorherzusagen, ob die Oppositionsparteien die Regierung sofort stürzen werden, allerdings läuft die Frist für die Abhaltung von Neuwahlen im Oktober ab. Entscheidend wird auch sein, wie sich Konservativen (neu) positionieren. Die Partei muss klären, wie sie auf Trumps Drohungen, eine veränderte öffentliche Stimmung und den sich verändernden Kurs der Liberalen Partei reagieren will. Dazu gehört auch, sich gut zu überlegen, wie viel Raum sie den Make-America-Great-Again-Anhänger*innen an der eigenen Basis und in der Fraktion zugesteht.

Mittelfristig könnte es auch zu einem Wiederaufleben der separatistischen Bestrebungen in Québec kommen. Die separatistische Parti Québécois führt derzeit die Umfragen für die nächsten Wahlen auf Provinzebene an (sie sind für Oktober 2026 angesetzt) und hat versprochen, ein drittes Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten. Entsprechende Abstimmungen waren 1980 und 1995 nur knapp gescheitert. Die «Souveränisten» würden mit einem gestärkten Bloc Québécois und noch mehr durch eine Mehrheit der Konservativen auf Bundesebene Auftrieb erhalten, da Québec im Allgemeinen fortschrittlicher tickt als der Rest Kanadas und die Konservativen aus dem Westen seit Langem feindselige Gefühle gegenüber Québec hegen, das ihrer Ansicht nach ungerechtfertigterweise zu stark vom asymmetrischen föderalistischen System Kanadas profitiert.

Die NDP braucht jetzt, da eine der Hauptforderungen, für die sie über Jahrzehnte gekämpft hat, fast erfüllt ist, dringend ein neues übergeordnetes Ziel.

Wie sich die NDP in Zukunft entwickeln wird, ist im Vergleich zu den anderen beiden großen Parteien besonders ungewiss. Und doch könnte ihre potenzielle Neuausrichtung langfristig die am weitesten reichenden Folgen für Kanada haben. Nachdem die NDP jahrelang von den Konservativen als «Steigbügelhalter» der Liberalen angegriffen wurde, hatte die Parteiführung beschlossen, nach dem Rücktritt von Finanzministerin Freeland endlich die Regierung stürzen. Doch Trudeau schickte das Parlament in die Ferien, bevor sie eine Gelegenheit erhielt, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Jetzt sind die Medien dazu übergegangen, Singhs Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen als Versuch zu diskreditieren, die Einheit der Kanadier*innen zu schwächen – ein Vorwurf, den die Liberalen wahrscheinlich dankbar aufgreifen werden, wenn das Parlament Ende März wieder seine Arbeit aufnimmt.

Noch schlimmer ist für die NDP, dass sie von der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Liberalen und Konservativen bisher nicht wirklich profitieren konnte. Als die Trudeau-Regierung an Zustimmung verlor, kam das vor allem den Konservativen zugute, während die Werte für die NDP stagnierten. Jetzt, in einer Situation, in der sich die Liberalen erholen, schwächt dies sowohl die Konservativen als auch die NDP. Vieles deutet darauf hin, dass die NDP sozialkonservative Wähler*innen an die Konservativen verloren hat, während sie gleichzeitig eher progressive Wähler*innen von den Liberalen hinzugewinnen konnte. Die Letzteren scheinen nun zu den Liberalen zurückzukehren, während Erstere bei den Konservativen verbleiben.

Bis zu den Wahlen kann jedoch noch viel passieren. Derzeit scheint die NDP aber erheblich unter Druck zu stehen und keinen rechten Plan zu haben, wie sie sich aufstellen soll. Trotz einiger Ideen von Singh und Abgeordneten vom linken Flügel hat die Partei noch nicht ihre Rolle in der neu entstehenden politischen Landschaft gefunden.

Unabhängig von ihrem Ergebnis bei den nächsten nationalen Wahlen wird die NDP Ende 2025 oder Anfang 2026 mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Parteiführung neu bestimmen. Jagmeet Singh kann große Erfolge bei wichtigen Zielen der NDP vorweisen: Wenn das Vorhaben, die zahnärztliche und die Medikamentenversorgung vollständig in die öffentliche Krankenversicherung aufzunehmen, Bestand haben sollte, dann würde es sich dabei um die bedeutsamste Ausweitung des kanadischen Sozialstaats seit den 1960er Jahren handeln. Damit dürfte Singh vermutlich als einer der besten Parteivorsitzenden der NDP in die Geschichte eingehen. Nach acht Jahren an der Spitze gibt es jedoch inn- und außerhalb der Partei auch vermehrt Kritik an seinem Kurs. Es ist also an der Zeit, dass Singh die Fackel weiterreicht und die Mitglieder über die zukünftige Ausrichtung ihrer Partei abstimmen lässt.

Diese werden viele kritische Entscheidungen über die Identität und Ziele treffen müssen. Soll die NDP eine aktivistische Partei sein, die sich auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit konzentriert, auch wenn das bedeutet, dass sie damit viele aus der Arbeiterklasse verprellt? Oder soll sie sich als eine klassische Arbeiterpartei aufstellen, deren Ziel vor allem darin besteht, den lohnarbeitenden Menschen konkrete Vorteile zu bringen? Oder können diese Ausrichtungen und Zielsetzungen kombiniert werden? Sollte die NDP – so wie die Liberalen weiter nach rechts gerückt sind – sich mehr der Mitte annähern, um sich als eher moderat verstehende Wähler*innen zu gewinnen? Oder sollte sie zu den Wurzeln der sozialistischen Co-operative Commonwealth Federation zurückkehren? Wir werden uns auch mit einer in der Geschichte unserer Partei immer wieder aufgetauchten Frage auseinandersetzen müssen: Sollen wir uns als glaubwürdige Regierungsalternative präsentieren und uns möglichst breit aufstellen? Oder verstehen wir uns vor allem als das «soziale Gewissen» Kanadas und konzentrieren uns darauf, fortschrittliche Politik mit Argumenten, Lobbyarbeit, unserer Tätigkeit in den Provinzen und über die Tolerierung von Minderheitsregierungen voranzubringen?

Außerdem braucht die NDP jetzt, da eine der Hauptforderungen, für die sie über Jahrzehnte gekämpft hat, fast erfüllt ist, dringend ein neues übergeordnetes Ziel. Die NDP war schon immer eine Partei, die sich durch große Ideen auszeichnete. Von daher gehört es zu den Aufgaben der Mitglieder, bald die Grundlagen für das nächste epochemachende Projekt zu schaffen. Wenn die Geschichte des Ausbaus des öffentlichen Gesundheitssystems ein Anhaltspunkt ist, dann könnte dieses neue Leitprojekt eines Tages zum Herzstück eines erneuerten kanadischen Selbstbewusstseins, einer erneuerten kanadischen Identität werden. Die entsprechende Nachfrage ist gerade riesig. Mehr denn je braucht die NDP heute ehrgeizige neue Ideen, so wie Kanada ehrgeizige Neue Demokraten braucht.

Übersetzung von Max Böhnel.