1. Einige Bemerkungen zu Besonderheiten des Wahl- und Parteiensystems
Der Sejm mit 460 Sitzen wird über eine Mischform aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht gewählt. Die Parteien stellen in den einzelnen Wahlkreisen ihre jeweiligen Wahllisten mit einer festen Reihenfolge ihrer Kandidaten auf. Die Wähler kreuzen aber nur einen einzigen Namen auf einer Wahlliste an. Dadurch gilt die Stimme für die jeweilige Partei und zugleich für den angekreuzten Kandidaten. Es ziehen die Kandidaten mit den meisten Stimmen entsprechend der Gesamtstimmen der Partei in das Parlament ein. Für Parteien besteht eine 5-Prozent-Hürde, für Wahlbündnisse aus mehreren Gruppierungen eine 8-Prozent-Hürde. Der deutschen Minderheit steht automatisch ein Sitz im Sejm zu.
Der Senat mit 100 Sitzen wird nach reinem Mehrheitswahlrecht gewählt. Aus jedem Wahlkreis kommt nur der jeweilige Gewinner in den Senat (wie in Deutschland bei den Direktmandaten für den Bundestag oder die Landtage/Senate). Es können also auch Einzel- oder parteiunabhängige Kandidaten einziehen.
Mit landesweiten Listen traten zu den Sejm-Wahlen folgende Parteien an:
- Bürgerplattform (PO); größte Regierungspartei mit Ministerpräsident Donald Tusk als Spitzenkandidaten;
- Bauernpartei (PSL); Koalitionspartner mit dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Waldemar Pawlak als Spitzenkandidaten;
- Recht und Gerechtigkeit (PiS); größte Oppositionspartei mit Jarosław Kaczyński als Spitzenkandidaten;
- Demokratische Linksallianz (SLD); sozialdemokratisch ausgerichtet, mit Grzegorz Napieralski als Spitzenkandidaten;
- Bewegung zur Unterstützung von Palikot (Palikot); neugebildete Partei aus un-terschiedlichen links-liberalen Strömungen um Janusz Palikot;
- Polen ist das Wichtigste (PJN); gemäßigte Konserative, die sich im Dezember 2010 von PiS abspalteten; mehrere Spitzenkandidaten;
- Polnische Partei der Arbeit (PPP); sich radikal verstehende antikapitalistische Partei; Spitzenkandidat Bogusław Ziętek;
2. Kurze Einschätzung der politischen Situation
Die Wahlen fanden turnusmäßig statt: Eine volle Kadenz geht über 4 Jahre. Die letzten Par-lamentswahlen fanden im Herbst 2007 statt. Wie seit 2005 dominieren auch weiterhin zwei Gruppierungen das politische Leben und bestimmten auch den Wahlkampf. Auf der einen Seite die Regierungspartei PO mit einem liberal-konservativen Programm, das nach wie vor stark wirtschaftsliberal ausgerichtet ist. Auf der anderen Seite die stärkste Oppositionspartei PiS, die unerschütterlich nationalkonservativ ausgerichtet ist. Bereits lange vor dem Wahltag war klar, dass keine andere Gruppierung an die Ergebnisse dieser beiden Parteien heran-kommen wird. Und es war eher klar, dass die PiS nicht an die PO herankommen wird, was mit dem Ausbleiben einer Wechselstimmung zusammenhing.
3. Übersicht Wahlergebnis
Stimmenanteil 2011 in Prozent | Stimmen 2011 | Stimmenanteil 2007 in Prozent | Stimmen 2007 | Sitze | Sitze 2007 | |
PO | 39,18 | 5.629.773 | 41,51 | 6.701.010 | 207 | 209 |
PiS | 29,89 | 4.295.016 | 32,11 | 5.183.477 | 157 | 166 |
Palikot | 10,02 | 1.439.490 |
|
| 40 |
|
PSL | 8,36 | 1.201.628 | 8,91 | 1.437.638 | 28 | 31 |
SLD | 8,24 | 1.184.303 | 13,15 (LiD) | 2.122.981 (LiD) | 27 | 53 (LiD) |
PJN | 2,19 | 315.393 | - | |||
PPP | 0,55 | 79.147 | 0,99 | 160.476 | - | - |
a) Die Wahlbeteiligung lag bei 48,92 Prozent. Zum Vergleich: 2007 betrug sie 53,88 Prozent.
b) Übersicht Ergebnisse/Sitzverteilung
Es ist fest von einer Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition aus PO und PSL auszugehen. Die Koalition hat wiederum eine rechnerische Mehrheit im Sejm und baut auf ihre Erfahrung einer weitgehend reibungslos funktionierenden Zusammenarbeit. Da die PO vor allem in den Städten/Großstädten stark ist, die PSL aber auf dem Lande, gibt es zusätzlichen Anreiz, die gemeinsame Regierungsarbeit fortzusetzen.
Die wahlentscheidenden Themen sind schwer auszumachen, da es zum Ende hin wiederum auf das Duell zwischen Jarosław Kaczyński als Herausforderer gegen Donald Tusk hinauslief. Da die Medien vor allem an diesem Spiel ihre Freude hatten, wurden wichtige Themen überdeckt. Ansonsten ging es eher um Entwicklungsperspektiven des Landes. Dabei versuchte die PO mit der Losung „Wir bauen weiter auf“ zu punkten, während die PiS versprach, die Polen „hätten mehr verdient“. Die schwache inhaltliche Ausprägung des Wahlkampfes fiel aber allgemein ins Auge und wurde zum Schluss auch in vielen führenden Medien kritisiert. Wobei natürlich nicht eingestanden wurde, dass ohne tatkräftige Unterstützung der Medien eine solche personenabhängige Polarisierung nicht gegriffen hätte.
Ergebnis Senatswahlen: Die 100 Sitze (gewählt aus 100 Wahlkreisen) verteilen sich wie folgt: 63 Sitze für Kandidaten der PO, 31 für Kandidaten der PiS, 2 für Kandiaten der PSL, außerdem 4 parteiunabhängige Kandidaten (darunter Wlodzimierz Cimoszewicz, ehemaliger SLD-Ministerpräsident und Außenminister, Marek Borowski, einst einer der führenden Köpfe der Sozialdemokraten, und Kazimierz Kutz, Filmregisseur, der politisch Janusz Palikot nahe steht).
4. Zum Abschneiden linksorientierter Formationen
Im politischen Spektrum Polens gibt es zwei Parteien, die sich als linksorientiert bzw. linksliberal bezeichnen. Die Sozialdemokraten der SLD, die eher in die Richtung einer linksdemokratischen Formation tendieren, und die Bürgerbewegung Palikot, eine neue Partei, die sich aus vielen unterschiedlichen Strömungen zusammensetzt. Auf den Listen der dritten, sich selbst als antikapitalistisch bezeichnenden Partei, der Polnischen Partei der Arbeit, sind im Jahr 2011 viele rechtsextreme Kandidaten aufgetaucht, was nur sehr schwer mit einem linken Profil zu verbinden ist.
Die SLD-Wähler verteilen sich fast gleichmäßig über alle Altersgruppen. Allerdings gibt es auch keine Wählerschicht mehr, in der die SLD überdurchschnittlich erfolgreich gewesen wäre. Im Gegensatz dazu schnitt die Bewegung Palikot vor allem bei den jungen Menschen (18-25 und 25-39 Jahre) überdurchschnittlich gut ab (deutlich über 20 Prozent). Hier fällt der Zuspruch mit zunehmendem Alter.
In Polen gab es keine soziale Bewegungen, die für die Wahlen und die politische Situation relevant gewesen wären.
5. Erste Schlussfolgerungen aus Sicht linker politischer Kräfte
Zum Abschneiden der SLD: Die Partei hat gegenüber den Parlamentswahlen 2007 deutlich an Wählerstimmen verloren, und zwar vor allem an die Bewegung Palikot (etwa 15 Prozent der damaligen Gesamtstimmen) und an das Lager der Nichtwähler. Gewonnen von anderen Gruppierungen und aus dem Lager der Nichtwähler hat sie im unteren Prozentbereich. Das wichtigste Problem der Partei ist also die Frage, wie sie künftig an neue Wählerschichten he-rankommen möchte. In dieser Hinsicht hat sie dieses Mal das klare Nachsehen gegenüber der Bewegung Palikot. Einige Experten weisen auch auf folgenden Umstand hin: Die SLD war die größte politische Kraft hinter den beiden führenden Rechtsgruppierungen PO und PiS. Die Wahlentscheidung stand auch im Zusammenhang mit der heraufkommenden weltweiten Finanzkrise. Wenn also eine linksorientierte, auf sozialen Ausgleich setzende Formation nicht punkten kann, sollten die Ursachen dafür analysiert werden.
Auf jeden Fall ist deutlich geworden, dass die Rolle der Partei als spezifischer Interessenvertreter von Menschen mit einem sehr an die Staatlichkeit der Volksrepublik Polen gebundenen beruflichen Werdegang langsam aber sicher zu Ende geht.
6. Gendergerechtigkeit/LGBT
Der Anteil von Frauen im Sejm beträgt 2011 ganze 23 Prozent. Gegenüber 2007 ist das ein kleiner Fortschritt, denn damals betrug die Quote 20 Prozent. Zwar hat der Gesetzgeber verfügt, dass Frauen auf den Kandidatenlisten der Parteien/Wahlbündnisse einen Anteil von mindestens 35 Prozent haben müssen, doch diese Quote hat nur eine relative Bedeutung, da die Wähler selbst entscheiden können, welcher Kandidat konkret in den Sejm einzieht. Von den jetzigen Parlamentsparteien hat nur die PO tatsächlich einen Anteil von 35 Prozent Frauen in der Fraktion. Alle anderen blieben zum Teil deutlich unter dieser Zahl. Deshalb wird verstärkt gefordert, neben der verbindlichen Quote von 35 Prozent auf den Kandidatenlisten auch die Verteilung der ersten Plätze auf den Kandidatenlisten nach Quoten zu regeln. Denn die Erfahrung zeigt, dass die Kandidaten auf den ersten Plätzen in der Regel auch die besseren Chancen haben. So wird nun vom Gesetzgeber gefordert, mindestens zwei Plätze unter den ersten fünf Kandidatenplätzen und mindestens einen Platz unter den ersten bei-den Kandidatenplätzen für Frauen zu reservieren.
Erstmals ziehen ein bekennender Schwuler und eine Transsexuelle Frau in den Sejm ein. Beide starteten auf vorderen Plätzen der Bewegung Palikot.