
Ein Plädoyer der Tafel-Geschäftsführerin gegen soziale Ungleichheit: Sirkka Jendis ist Autorin des Buchs «Armut hat System – Warum wir in Deutschland eine soziale Zeitenwende brauchen». Das Sachbuch - im DROEMER Verlag erschienen - schildert eindrücklich, was Armut im Alltag für Betroffene bedeutet. Ulrike Hempel, Rosa-Luxemburg-Stiftung, im Gespräch mit Sirkka Jendis darüber, wie die Geschäftsführerin der Tafel Deutschland als Autorin ihr persönliches Engagement mit gesellschaftspolitischer Schärfe verbindet und welche Forderungen sie an die Politik hat.
Armutsbetroffenen Menschen fällt politische Teilhabe besonders schwer beziehungsweise wird sie ihnen schwer gemacht. Oft sind andere Probleme im Alltag einfach sehr viel drängender: Die nächste Stromrechnung ist zu bezahlen, neue Kleidung für die wachsenden Kinder muss her, möglichst gesundes Essen soll auf den Tisch, und es muss in vielen verschiedenen Supermärkten eingekauft werden, um überall die günstigsten Angebote zu erwerben.
(Armut hat System, S. 51)
Ulrike Hempel: Welche Ursachen von Armut benennen Sie in Ihrem Buch?
Sirkka Jendis: Es geht mir vor allem darum, dass Armut in Deutschland strukturelle Ursachen hat. Wenn Menschen nicht die gleichen Chancen auf Teilhabe haben, wenn Frauen in der Armutsstatistik überproportional vertreten sind, weil sie sich größtenteils um die Erziehung oder Pflege kümmern und Care-Arbeit finanziell nicht anerkannt wird oder wenn Frauen in der Regel immer noch niedrigere Gehälter erhalten, dann sind das strukturelle Ursachen und Probleme.
Zudem ist für mich besonders wichtig, auf die Situation armutsbetroffener Menschen aufmerksam zu machen. Dabei geht es mir nicht ausschließlich darum, aufzuzeigen, dass immer mehr Menschen nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Bei dem Thema Armut schwingen auch Begriffe wie Scham, Einsamkeit und Stigmatisierung mit. Hier möchte ich aufzeigen, welche schlimmen Folgen Armut zusätzlich haben kann und dass es in der Gesellschaft ein anderes Menschenbild benötigt. Menschen sind grundsätzlich alle gleich, Armutsbetroffene dürfen nicht stigmatisiert werden. Vielmehr sollte geschaut werden, ob und wie geholfen werden kann.
Eine starke Zivilgesellschaft setzt Zeichen
Welche Erfahrungen machen die vielen Tafel-Helfer*innen – eine der größten ehrenamtlichen Bewegungen Deutschlands – bei der Rettung von Lebensmitteln und dem Verteilen an armutsbetroffene Menschen?
Zunächst einmal möchte ich betonen, dass die Arbeit bei den über 970 Tafeln von den 75.000 Helferinnen und Helfern getragen wird, 71.000 von ihnen sind ehrenamtlich – das ist ein ganz starkes Zeichen des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die Tafel-Aktiven sehen sich vielen Herausforderungen gegenüber: Supermärkte kalkulieren immer besser und haben am Ende des Tages nicht mehr so viele Lebensmittelspenden übrig. Die Anzahl an armutsbetroffenen Menschen bei den Tafeln ist vor allem seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine gestiegen, gut ein Drittel arbeitet mit temporären Aufnahmestopps oder Wartelisten.
Was mich trotz all der Krisen – Pandemie, Inflation, Krieg – beeindruckt, ist, wie die Menschen in den Tafeln helfen und andere unterstützen, auch wenn sie dabei an ihre eigenen Belastungsgrenzen gehen. Zudem schaffen die Tafel-Aktiven Orte der Begegnung und des sozialen Miteinanders, richten nach Möglichkeit beispielsweise einen Mittagstisch für Seniorinnen und Senioren aus oder bieten Projekte für Kinder an. Tafeln sind mittlerweile also viel mehr als ein Ausgabeort von Lebensmittelspenden.
Niemand muss in diesem reichen Land arm sein
Warum war und ist Ihnen das soziale Problem Armut in Deutschland so wichtig? Und woran appellieren Sie?
Sirkka Jendis: Weil mir Demokratie, Gleichheit und Miteinander wichtig sind. Weil wir uns als Gesellschaft nicht weiter spalten dürfen. Weil in diesem reichen Land niemand arm sein muss. Und weil es Möglichkeiten zur Verbesserung gibt. Hier liegt die Aufgabe bei den politischen Entscheidungsträgern, an die ich sehr deutlich appelliere und fordere, dass sie Armut und Betroffene ernst nehmen sowie wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut umsetzen. Hierzu gehören aus meiner Sicht unter anderem armutsfeste Löhne, krisenfeste Renten und bezahlbares Wohnen genauso wie die Anerkennung von ehrenamtlichem Engagement, Care-Arbeit sowie Investitionen in Kitas, Schulen und Bildung. Aber auch wir als Gesellschaft sind gefragt, uns für ein gesellschaftliches Klima des Miteinanders einzusetzen.
Zur Person
Sirkka Jendis ist Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, dem Dachverband von über 970 Tafeln in Deutschland. Zuvor war die studierte Kommunikationswissenschaftlerin Vorständin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Dozentin und in leitender Funktion in der ZEIT-Verlagsgruppe tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin.
Lebensmittel retten. Menschen helfen. Die über 970 Tafeln haben eine klare Mission: Sie retten Lebensmittel und unterstützen damit armutsbetroffene Menschen. Als gemeinnützige Organisationen sind sie gleichzeitig Orte der Begegnung für alle Menschen, die zu ihnen kommen. Mit 75.000 überwiegend ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern sind die Tafeln eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland. Pro Jahr retten sie rund 265.000 Tonnen Lebensmittel und geben sie an rund 1,6 Millionen Menschen weiter.
Das Buch:
Sirkka Jendis
»Armut hat System«: Warum wir in Deutschland eine soziale Zeitenwende brauchen – ein Appell der Tafel Deutschland-Geschäftsführerin
Droemer Knauer GmbH & Co. KG, München
September 2024
ISBN 978-3-426-44696-6