
Tausende fordern am zweiten Jahrestag des Zugunglücks vor dem Parlamentsgebäude in Athen Aufklärung. Am 28. Februar 2023 stieß kurz vor Mitternacht der Intercity 62 auf der Strecke Athen-Thessaloniki südlich des Tempi-Tals frontal mit einem Güterzug zusammen. 57 Passagiere starben, über 80 wurden verletzt, mehrere davon schwer. Es handelte sich um das schwerste Eisenbahnunglück in der Geschichte des Landes. Foto: picture alliance / NurPhoto | Sophia Potsi
Die riesigen Kundgebungen am 28. Februar, auf denen in Athen, Thessaloniki, Larissa und in jeder anderen Stadt und fast jedem Dorf Griechenlands Gerechtigkeit gefordert wurde, waren ein Ereignis, wie ich es in meinen 61 Lebensjahren noch nie erlebt habe. Sogar die Auslandsgriechen organisierten Erinnerungskundgebungen in mehr als hundert europäischen und US-amerikanischen Städten, dazu in Sydney, Sansibar, Buenos Aires, Seoul und selbst im isländischen Akureyri.
Kaki Bali ist Journalistin in Athen. Sie arbeitet unter anderen für die Deutsche Welle und die linke Tageszeitung Avgi zum Westbalkan, zu internationaler Politik und deutsch-griechischen Themen.
Ebenso einmalig in der Geschichte Griechenlands seit der Diktatur war der Generalstreik am selben Tag, der dazu führte, dass die Supermärkte und Banken, Bäckereien, Kioske und Friseure, Nachtclubs, Theater und Konditoreien geschlossen blieben. Insgesamt dürften an diesem Tag, dem zweiten Jahrestag des Zugunglücks von Tempi, allein in Griechenland – einem Land mit einer Bevölkerung von gut zehn Millionen Menschen – mehr als eine Million auf die Straße gegangen sein.
Tragödie und Vertuschung
Zur Erinnerung: Am 28. Februar 2023 stieß kurz vor Mitternacht der Intercity 62 auf der Strecke Athen-Thessaloniki südlich des Tempi-Tals frontal mit einem Güterzug zusammen. 57 Passagiere, viele von ihnen Studierende, starben, über 80 wurden verletzt, mehrere davon schwer. Es handelte sich um das schwerste Eisenbahnunglück in der Geschichte des Landes.
Zwei Jahre später warten die Angehörigen der Opfer und die griechische Öffentlichkeit immer noch auf Antworten. Wie war die Kollision in einem so überschaubaren Schienennetz überhaupt möglich? Wieso war die anschließende Explosion so heftig? Hatte der Güterzug etwa eine illegale gefährliche Ladung transportiert? Wer trägt die Verantwortung für das Unglück? Und kann so etwas wieder passieren?
Inzwischen sind, je nach Umfrage, 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt, dass die konservative Regierung unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis von der Nea Dimokratia nicht daran interessiert war, das Unglück aufzuklären, sondern stattdessen versuchte, vieles zu vertuschen: die Nachlässigkeit, das defekte Signal aus dem Jahr 2019 zu reparieren; die Investitionsverzögerungen bei der mit EU-Geldern finanzierten Sicherheitstechnik; die Einstellung eines unqualifizierten Anhängers der Regierungspartei als Bahnhofsvorsteher von Larissa; die Ladung des Güterzuges.
Fest steht, dass sich direkt nach dem verheerenden Unfall die zuständigen Behörden nicht darum kümmerten, die Aufnahmen der Überwachungskameras sicherzustellen oder die notwendigen Autopsien durchzuführen. Außerdem wurden unmittelbar nach dem Zusammenstoß etwa 300 Kubikmeter Erdreich sofort entfernt und der Bereich mit Kies aufgefüllt. Deshalb kann nicht mehr nachgewiesen werden, ob der Güterzug, der mit dem Personenzug zusammengestoßen war, illegales, entflammbares Material geladen hatte, das die Explosion verursacht haben könnte.
Nicht nur auf der Untersuchungsebene gab es gravierende Mängel, sondern auch auf der politischen Ebene. Der zuständige damalige Verkehrsminister, Kostas Achilleos Karamanlis, ein Mitglied der gleichnamigen konservativen Politdynastie, trat zwar am Tag nach dem Unglück zurück; er durfte jedoch zwei Monate später bereits wieder für das Parlament kandidieren und wurde in dem «Dynastiewahlkreis» Serres wiedergewählt. Im Rahmen eines kaum ernst zu nehmenden parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Zugunglück wurde Karamanlis von seinen Parteikollegen mit stehenden Ovationen begrüßt. Dank der Regierungsmehrheit im Ausschuss wurden wichtige Zeugen nicht zugelassen und am Ende sogar zwei Ausschussmitglieder zu Ministern ernannt – quasi als Belohnung für die Vertuschungsarbeit. Für die Mitsotakis-Regierung war das Thema erledigt.
Der Kampf der Angehörigen
Die Angehörigen der Opfer jedoch setzten im In- und Ausland den Kampf für Aufklärung und Gerechtigkeit fort. Und sie schafften es, die krisenmüde griechische Gesellschaft zu mobilisieren, zunächst am 26. Januar und dann erneut am 28. Februar des Jahres.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Tonaufnahmen, die belegten, dass einige der Todesopfer nach dem Zusammenstoß noch eine Zeit lang gelebt hatten und möglicherweise hätten gerettet werden könnten, forderten am 26. Januar Hunderttausende im ganzen Land Gerechtigkeit für die Opfer des Unglücks. Zu den Protesten hatten die Angehörigen der Opfer über die sozialen Medien aufgerufen. Die Bürger*innen, die ihrem Aufruf folgten, demonstrierten ihre Solidarität mit Parolen wie «Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht», «Gerechtigkeit!» und «Nein zur Vertuschung». Bei diesen Demonstrationen handelte es sich um die größten der letzten Dekade – bis dann die Proteste des 28. Februar, die erneut von den Angehörigen der Opfer organisiert wurden, diesen Rekord gleich wieder brachen.
Für die weitere Steigerung der Empörung, Solidarität und Teilnehmerzahlen sorgte dabei die Haltung der Regierung. Ministerpräsident Mitsotakis hatte zwar nach den Januardemonstrationen ein Interview gegeben, in dem er seine frühere Aussage, es habe sich beim Zugunglück um «menschliches Versagen» gehandelt, revidierte und einräumte, dass die Wahrheitsfindung nur «langsam» voranschreite. Doch getrieben von den schlechten Umfragewerten seiner Partei – die Nea Dimokratia liegt laut Metron Analysis derzeit bei 22 Prozent, nachdem sie im Juni 2023 die Wahlen noch mit 41 Prozent gewonnen hatte –, war seine neue Bescheidenheit anschließend bereits wieder zu Ende. In einem Interview in der Zeitung Kathimerini wetterte er am 16. Februar gegen alle, die angeblich kein Vertrauen in die Justiz hätten, und präsentierte sich als Schutzschild der Judikative. Den Oppositionsparteien warf er vor, die Tragödie zu «instrumentalisieren».
Die neue Strategie des Ministerpräsidenten war seine alte: Er stehe für Stabilität, seine Kritiker*innen, die empörten Demonstrant*innen und die Oppositionsparteien hingegen für Chaos. Manche Minister – allen voran der Gesundheitsminister, der täglich jedwede Kritik als Unfug, Populismus oder Dummheit abtut – rieten den Menschen davon ab, an den Kundgebungen teilzunehmen. Regierungsnahe Medien und regierungstreue Internet-Trolls versuchten zudem, die Angehörigen zu diskreditieren. So lästerten sie beispielsweise über Maria Karistianou, die Vorsitzende der Vereinigung der Angehörigen der Opfer von Tempi, die bei dem Unfall ihre Tochter Marti verloren hatte. Dabei «übersahen» sie jedoch, dass es grundsätzlich keine gute Idee ist, eine Mutter anzugreifen, die das eigene Kind verloren hat.
Die Strategie der Regierung, die auf die falsche Alternative «Mitsotakis oder Chaos» setzte, schlug daher fehl. Die Menschen kamen in Massen zu den Kundgebungen des 28. Februar. Und Millionen verzichteten aus Solidarität und aus der Überzeugung, dass es kein «Weiter so» geben dürfe, auf ihren Tageslohn. Ihre Botschaft war eindeutig: Schluss mit der Verharmlosung und Vertuschung!
Die Frage ist nun, ob die Botschaft auch bei den Adressaten, allen voran der Regierung, ankommt und wie diese reagieren werden. Aber auch die demokratischen Oppositionsparteien sollten den Demonstrierenden aufmerksam zuhören und an einer Alternative arbeiten. Denn der 28. Februar könnte eine Zäsur in der Geschichte des Landes sein.
Nur der Gipfel des Eisbergs
Vertuschung und fehlende Rechenschaftspflicht sind indes nicht auf den verheerenden Zugunfall von Tempi beschränkt. Im Gegenteil, die Regierung Mitsotakis verfolgte bei der Aufklärung der Abhöraffäre – dem «griechischen Watergate», wie die internationale Presse schrieb – und der Pylos-Schiffskatastrophe dieselbe Taktik. Gerade letztere ist hier besonders aufschlussreich. Denn auch nachdem am 14. Juni 2023 beim Untergang des Fischkutters «Adriana» mehr als 600 Flüchtlinge vor der Hafenstadt Pylos, auch wegen falscher Entscheidungen der griechischen Küstenwache, ertrunken waren, blieb eine gründliche Untersuchung der Schiffstragödie seitens der griechischen Behörden aus.
Mit Blick auf die Abhöraffäre hat die griechische Öffentlichkeit bis heute nicht erfahren, warum der PASOK-Vorsitzende Nikos Androulakis, ein Dutzend Minister*innen, mehrere Journalist*innen und sogar der militärische Oberbefehlshaber des Landes vom Geheimdienst EYP abgehört wurden. Das ist kein Zufall, denn der Geheimdienst ist nach einer umstrittenen Reform, die im Juli 2019 unmittelbar nach der Regierungsübernahme mit den Stimmen der Nea Dimokratia verabschiedet wurde, direkt dem Regierungschef unterstellt. Die griechische Justiz gelangte zu dem Urteil, die Beschattung sei ein bloßer Zufall gewesen. Und die Staatsanwältin des Obersten Gerichtshofs, Georgia Adilini, gab am 30. Juli 2024 bekannt, ihre Untersuchung habe «keine Beweise» dafür ergeben, dass Politiker*innen oder staatliche Dienste am Kauf oder an der Nutzung der illegalen Software Predator, die zur Überwachung eingesetzt wurde, beteiligt gewesen seien.
Bereits vor dieser Entscheidung der obersten Staatsanwältin war das Vertrauen der Bürger*innen in die Justiz tief erschüttert. Laut einer Umfrage für das Institut Eteron, die im Juli 2024 anlässlich des 50. Jahrestages der Wiederherstellung der griechischen Demokratie stattfand, vertrauten nur 29,4 Prozent der Justiz. Seitdem dürfte das Vertrauen noch geringer geworden sein.
Ein Verbrechen zu viel
Bei der Pylos-Schiffskatastrophe und dem Abhörskandal kam es nicht zu Großdemonstrationen. Warum ist das jetzt, im Falle Tempi, anders?
Der erste und vielleicht wichtigste Faktor ist, dass die Menschen sich den Opfern besonders nahe fühlen. Fast alle Griech*innen denken, dass in diesem Zug auch ihre eigenen Kinder, Enkelkinder oder Freund*innen hätten sitzen können – auch deshalb ist die Anteilnahme so groß.
Ein zweiter Faktor ist das Umschlagen von Erduldung in Wut – die Menschen waren schlicht nicht länger bereit, die Arroganz und Lügen der Regierung widerstandslos hinzunehmen. Man darf nicht vergessen, dass sich die breite Mehrheit der griechischen Bevölkerung nach langen Jahren der Dauerkrise – mit Wirtschafts-, Schulden-, Klima-, Flüchtlings- und Covid-Krise – nach Stabilität und Normalität gesehnt hat. Die Regierung Mitsotakis schien diese Normalität zu verkörpern. Deshalb verziehen viele Bürger*innen der Regierung ihre Sünden: Intoleranz gegenüber Transparenz, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Nepotismus. Das Eisenbahnunglück in Tempi und mehr noch der inakzeptable Umgang der Regierung mit der Katastrophe waren dann eine Tragödie und ein Verbrechen zu viel. Aus diesem Grund begaben sich so viele Menschen auf die Kundgebungen.
Die Optionen von Regierung und Opposition
Die Regierung verfügt in dieser Lage über verschiedene Optionen. Zum einen könnte Ministerpräsident Mitsotakis, der im Parlament über eine stabile Mehrheit verfügt, eine Neuwahl ausrufen. Das erscheint derzeit angesichts der Umfragewerte für seine Partei jedoch unwahrscheinlich.
Die zweite Möglichkeit besteht in einem Neuanfang der Regierung. Mitsotakis könnte seine Regierung umbilden und spektakuläre Initiativen ergreifen, wie etwa die Schließung der Eisenbahn, verbunden mit hohen und zügigen Investitionen in die Sicherheit, oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Karamanlis, um zu demonstrieren, dass er die Botschaft verstanden hat. Da ein Neuanfang das Gegenteil der bisherigen Praxis der Regierung bedeuten würde, erscheint ein Erfolg eines solchen Unterfangen indes zweifelhaft.
Die dritte Option besteht darin, bis zu den Wahlen 2027 einfach so weiterzumachen, wie bisher. In diesem Fall müsste die Regierung darauf hoffen, dass die Empörung der Gesellschaft abnehmen und die Opposition weiter schwach, ineffizient und zersplittert bleiben wird. Aber auch ein solches «Weiter so» dürfte Mitsotakis kaum helfen und birgt zudem die Gefahr, dass die rechtsextremen und die sogenannten antisystemischen Kräfte in Griechenland einen weiteren Aufschwung erleben könnten. Diese Gefahr wird noch dadurch verstärkt, dass die konservative Nea Dimokratia vermutlich wenig Hemmungen haben dürfte, mit diesen Parteien gemeinsame Sache zu machen.
In die Hände spielt der Regierung allerdings der schlechte Zustand der parlamentarischen Opposition. Die «Allianz der radikalen Linken» (Syriza) ist seit ihrem Mobilisierungshöhepunkt 2015 in sechs Parteien zerfallen, darunter zunächst die Plefsi Eleftherias der ehemaligen Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou und MeRA 25 von Yanis Varoufakis. Nach dem Rücktritt von Alexis Tsipras 2023 und der Wahl des unbekannten Stefanos Kasselakis zum Parteivorsitzenden kam es zur Abspaltung der Neuen Linken (Nea Aristera), und auch Kasselakis gründete Ende 2024 mit ein paar Abgeordneten seine eigene Partei. Keine dieser Gruppierungen verfügt über eine große Anhängerschaft, und mit Ausnahme von Plefsi Eleftherias und Rest-Syriza drohen alle im Fall von Neuwahlen den Einzug ins Parlament zu verfehlen.
Aufgrund der Zersplitterung von SYRIZA avancierte die sozialdemokratische PASOK, die bei der letzten Wahl lediglich 11,5 Prozent der Stimmen erzielte, mitten in der Wahlperiode zur stärksten Oppositionspartei. Sie träumt vor ihrem alten Glanz, unterscheidet sich aber in vielen Bereichen kaum von der konservativen Nea Dimokratia.
Die relativ starke Kommunistische Partei (KKE), die in ihrer Orthodoxie europaweit einzigartig ist, verharrt mit ihrem Isolationismus am Rande der Diskussionen über mögliche Neuformierungen. Aktuelle Umfragen sehen sie, wie Plefsi Eleftherias, bei rund neun Prozent. Die drei Rechtsparteien liegen derzeit zusammen bei etwa 20 Prozent.
Immerhin haben zuletzt alle Parteien links der Nea Dimokratia einen gemeinsamen Misstrauensantrag gestellt. Auch wenn die Regierung diese Abstimmung aufgrund ihrer Parlamentsmehrheit nicht verlieren wird, ist diese Initiative von Bedeutung. Denn eines steht fest: Wenn die linken und mitte-linken Parteien nicht zusammenfinden und eine schlagkräftige Alternative bilden, können sie nicht gewinnen. Dann droht auch in Griechenland die Stunde der extremen Rechte zu schlagen.