
Serbien erlebt derzeit die größte studentische Rebellion in der Geschichte des Landes. Sie hat eine nie dagewesene gesellschaftliche Mobilisierung losgetreten. Ausgehend von Protesten in Belgrad und Novi Sad, die unter der Parole «An euren Händen klebt Blut!» die Übernahme politischer und strafrechtlicher Verantwortung für den Tod von 15 Menschen beim Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad im vergangenen November forderten, brach eine Welle der Mobilisierung aus. Bald darauf wurde unter dem Motto «Stopp, Serbien» ein 15-minütiges kollektives Schweigegedenken auf Hauptverkehrsstraßen organisiert. Die Studierenden der Fakultät für Darstellende Kunst an der Universität Belgrad initiierten am 25. November die erste Blockade, nachdem es während einer Gedenkveranstaltung zu einem geplanten tätlichen Angriff auf ihre Kommiliton*innen gekommen war. Kurz darauf kam es an den Universitäten im ganzen Land zu Blockaden.
Dušanka Milosavljević ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie der Universität Belgrad.
Die selbstorganisierten Studierenden haben mittlerweile mehr als 50 Universitätsfakultäten besetzt und fordern von den zuständigen Behörden die Veröffentlichung der vollständigen Dokumentation über den Einsturz der Dachkonstruktion in Novi Sad. Außerdem verlangen sie die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die Gewalt gegen Studierende sowie die Freilassung und Einstellung aller Strafverfahren gegen Studierende, die während der Proteste verhaftet wurden. Des Weiteren wird eine Erhöhung des Hochschuletats um 20 Prozent und eine Senkung der Studiengebühren um 50 Prozent gefordert.
Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten, darunter Beschäftigte aus der Landwirtschaft, Lehrer*innen, Schüler*innen, Anwält*innen und Kulturschaffende, unterstützen die Studierenden öffentlich. Manche von ihnen haben zudem eigene Forderungen aufgestellt, Proteste organisiert oder sind in den Streik getreten. Die Welle des zivilen Ungehorsams hat sich mit Blockaden wichtiger Straßen und Brücken, Aufrufen zu Arbeitsniederlegungen und dem Boykott großer Einzelhandelsketten verstärkt.
Der aktuellen Mobilisierung ging ein Jahrzehnt friedlicher Protestmärsche voraus, bei denen «radikale» Elemente als gewalttätig verunglimpft und Befürworter*innen eines radikaleren Vorgehens als «Aufwiegler*innen» gebrandmarkt wurden. Doch dieses Mal ist alles anders. Die aktuellen Proteste gewinnen gerade durch ihre Radikalisierung an Schlagkraft. Ob Besetzungen von Universitätsgebäuden, Blockaden von Hauptverkehrsstraßen und Brücken, Boykotte oder (illegale) Arbeitsniederlegungen – konkrete und direkte Aktionen, die den regulären Betrieb des Systems stören, helfen der Bewegung, Druck auf die Regierung auszuüben und eine gemeinhin weitgehend passive Gesellschaft zu mobilisieren.
Gleichzeitig wurde diese Radikalisierung durch die brutale Gewalt gegen Demonstrierende angeheizt, die zumeist von direkt mit dem Regime verbundenen Einzelpersonen oder organisierten Gruppen ausging. Zwischenfälle wie Autoangriffe auf die kollektiven studentischen Gedenkveranstaltungen und wiederholte gewaltsame Überfälle auf Demonstrierende ereignen sich seit Wochen und lassen die öffentliche Empörung weiter hochkochen. Die Zukunft bleibt ungewiss, aber gerade das macht die politische Situation in Serbien so beispiellos – niemand weiß, was als Nächstes passieren wird. Klar ist lediglich, dass die Studierenden entschlossen sind, den Kampf fortzusetzen, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Ein besonders aussagekräftiges Graffiti lautet daher: «Es wird so sein, wie die Versammlung beschließt!»
Moderate Forderungen und radikale Taktiken
Die aktuelle Rebellion der Studierenden hat weder Vertreter*innen noch Anführer*innen. Obwohl auch bei früheren Protestwellen eine klare Führung fehlte, wurden die Proteste oft von parlamentarischen Oppositionsparteien oder aktivistischen Gruppen dominiert, die teilweise sogar direkt als Veranstalter auftraten, was die Entwicklung einer echten sozialen Basisbewegung verhinderte. Im Gegensatz dazu ist die aktuelle Studierendenbewegung unabhängig von parlamentarischen Parteien und anderen politischen Organisationen, einschließlich Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Die Blockaden werden durch basisdemokratische Versammlungen organisiert, die die Herausbildung von Führungsfiguren verhindern. Die studentischen Versammlungen sind die primären Entscheidungsgremien und setzen sich aus allen interessierten Studierenden eines Fachbereichs zusammen. Alle Beschlüsse werden nach eingehender Beratung mit einfacher Mehrheit nach dem Prinzip «eine Person, eine Stimme» getroffen. Darüber hinaus ermöglichen mehrere große Versammlungen auf Universitätsebene die Koordination zwischen den verschiedenen Fachbereichen. Diese wird außerdem durch fakultätsübergreifende Arbeitsgruppen verstärkt, die ihre Fähigkeit zur wirksamen horizontalen Mobilisierung vielleicht am besten dadurch unter Beweis stellten, dass sie innerhalb kürzester Zeit Proteste wie die wahrscheinlich größte überparteiliche Versammlung in der Geschichte Serbiens am 22. Dezember 2024 auf dem Slavija-Platz in Belgrad organisieren konnte.
Die horizontale Organisation und die damit verbundene Absage an Führungsfiguren haben mehrere positive Effekte. Erstens bleibt der demokratische Charakter der Bewegung erhalten und schreckt opportunistische Akteur*innen ab, die die Proteste zur Selbstdarstellung oder für ihre politische Karriere ausnutzen wollen. Zweitens schützt dieser Ansatz die Teilnehmer*innen vor staatlicher Verfolgung. Die jüngsten Ereignisse haben bereits gezeigt, welche Risiken mit einer exponierten Position verbunden sind: Personen mit hoher Medienpräsenz erhalten Vorladungen vom Geheimdienst, und ihre persönlichen Daten werden von der Presse veröffentlicht.
Von entscheidender Bedeutung ist das Verhältnis zwischen Strategie und Taktik, das heißt zwischen Forderungen und Kampfmethoden. Auf dem Gebiet der Methoden hat die Bewegung (weitgehend unbeabsichtigt) anarchistische Taktiken übernommen: Selbstorganisation, Autonomie, direkte Aktion und direkte Demokratie. Dies mag neu oder radikal erscheinen, steht jedoch in einer langen Tradition, da Arbeiterversammlungen, selbstverwaltete Arbeiterräte, kommunale und lokale Gemeindeinitiativen sowie frühere Universitätsbesetzungen im postsozialistischen Serbien ähnliche Taktiken anwandten.
Besonders interessant ist die Kombination dieser Taktik der Versammlungen mit «reformistischen» Forderungen, die weitgehend im Rahmen der liberalen Demokratie verbleiben. Gefordert werden etwa Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, sowie eine «Befreiung» der gekaperten Institutionen, um «ihr ordnungsgemäßes Funktionieren wiederherzustellen». Eine Ausnahme bildet die sozioökonomische Forderung der Studierenden nach ersten Schritten in Richtung eines kostenlosen Bildungssystems.
Die Massenmobilisierung wurde durch diesen «ideologischen Grundkonsens» ermöglicht, der auf den Kernforderungen der Studierenden aufbaute und ein breites ideologisches Spektrum von Teilnehmer*innen ermöglichte. In Verbindung mit radikalen Taktiken, die direkten Druck ausüben, hat diese Aufstellung die Schlagkraft und Wirkmacht der Bewegung erhöht.
Solidarität aufbauen
Durch den allgemeinen Charakter der studentischen Forderungen, die nach der Tragödie in Novi Sad laut wurden, kann die Solidarisierung weitere Kreise ziehen. In den vergangenen Jahren protestierten zahlreiche soziale Gruppen in ganz Serbien für ihre jeweiligen Anliegen, blieben dabei jedoch voneinander getrennt. Bestimmte Gruppen, wie Arbeiter*innen oder Landwirt*innen, wurden von der Gesellschaft beharrlich ignoriert.
Heute versuchen die Studierenden breite gesellschaftliche Bündnisse zu schmieden und sich nicht auf zivilgesellschaftliche oder akademische Strukturen beschränken zu lassen. Statt eine exklusive Identität zu konstruieren, knüpft die aktuelle Bewegung solidarische Beziehungen zwischen verschiedenen sozialen Schichten. Ihr inklusiver Ansatz schließt auch Gewerkschaften und Beschäftigte im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der IT-Branche und anderen Sektoren mit niedrigem gewerkschaftlichen Organisierungsgrad ein. Einem Aufruf, am 24. Januar in einen «Generalstreik» zu treten, die Arbeit individuell für einen Tag niederzulegen und zivilen Ungehorsam zu leisten, folgten Selbstständige, Journalist*innen, Lehrer*innen, Programmierer*innen, Beschäftigte im Dienstleistungssektor und Kleinunternehmer*innen.
Trotz des unabhängigen und basisdemokratischen Charakters der Bewegung haben die anhaltenden Proteste bislang keine prominenten Fürsprecher*innen in der internationalen Politik. Im Gegenteil, während die Protestwelle wächst, wird diese Unterstützung weiterhin dem in der Bevölkerung äußerst unbeliebten Präsidenten Aleksandar Vučić zuteil. Dies steht in krassem Gegensatz zur breiten Unterstützung der Proteste zum Sturz von Slobodan Milošević vor 25 Jahren durch die «internationale Gemeinschaft». Der Bewegung ermöglicht dies jedoch, unabhängig von äußeren Einflüssen zu bleiben. Begrüßenswert ist das, weil es die typische Spaltung serbischer Bewegungen in ein Pro- und ein Anti-EU-Lager verhindert. Stattdessen werden Einheit und Zusammenhalt der Proteste gestärkt.
Eine der wichtigsten Debatten innerhalb der Protestbewegung dreht sich um die Frage, ob sie sich weiterhin ausschließlich auf ihre Kernforderungen an die Behörden konzentrieren und damit die Frage eines möglichen Regierungswechsels ausklammern soll. Der Gegenvorschlag bestünde in der stärkeren Zuwendung zu den systemischen (staatlichen) Ursachen und der breiteren sozialen Dynamik im Kontexts des Zusammenbruchs der Regierung, in dessen Zuge die Bewegung ihren Kampf mit der parlamentarischen Opposition verbinden könnte. Über diese Debatte hinaus entstehen jedoch auch alternative, wenn auch bislang noch diffuse Forderungen nach einer umfassenderen gesellschaftlichen Selbstverwaltung.
Dieser Ansatz wird von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert und von den Medien als naiv oder utopisch abgetan. Es gibt jedoch deutliche Anzeichen für ihn: Der Slogan «Studierendenräume für Studierende» war während der Besetzung des Studentischen Kulturzentrums zu hören, die Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in Belgrad führten bei einem Protest ein Transparent mit der Aufschrift «Totale Selbstverwaltung» mit sich, und eine Versammlung von Kulturschaffenden zog unter dem Motto «Kultur in Blockade» vor das Kulturministerium. Ihr Banner mit der Aufschrift «Alle Macht den Versammlungen» hängt nun vor der Philosophischen Fakultät in Belgrad.
Perspektiven der Bewegung
Es bleibt abzuwarten, ob diese Tendenz auf die radikaleren Studierendenvertretungen beschränkt bleibt oder von der breiteren Bewegung aufgegriffen werden wird. Es ist davon auszugehen, dass es etwa bei den Studierendenorganisationen und den Gewerkschaften zu strukturellen Reformbestrebungen kommen wird. Dadurch könnten an die Stelle von hochgradig hierarchischen Strukturen – wie den Studierendenparlamenten und gewerkschaftlichen Betriebsräten, die als reaktionär, illegitim und überpolitisiert gelten – demokratischere Formen der Selbstverwaltung mit einem höheren Grad an Legitimität treten.
Obwohl Prognosen über die unmittelbare Zukunft schwierig sind, distanzieren sich die meisten Studierenden zumindest bislang öffentlich von Versuchen, die Regierung zu stürzen, von Verbindungen zur parlamentarischen Opposition sowie von deren Vorschlägen zur Krisenbewältigung, etwa durch die Bildung einer technokratischen Übergangsregierung. Gleichzeitig ist schwer vorstellbar, dass Vučić von der Macht verdrängt wird, da die EU offensichtlich eine starke und stabile Regierung braucht, um das Lithium-Bergbau-Projekt im Jadar-Tal gegen den Willen der serbischen Bevölkerung voranzutreiben.
Ein solch weitreichender politischer Wandel erfordert eine breitere und ernsthaftere Organisierung mit einem klar definierten Ziel und einer größeren Bereitschaft der Gesellschaft, sich dafür einzusetzen. Gegenwärtig bleibt die Unterstützung seitens der breiten Bevölkerung indes oft nur deklarativ und symbolisch, begleitet von der unausgesprochenen Erwartung, dass die Studierenden die Gesellschaft im Alleingang befreien werden.
Unabhängig von kurzfristigen politischen Ergebnissen birgt die aktuelle Protestbewegung der Studierenden jedoch ein enormes Potenzial für einen umfassenderen gesellschaftlichen Wandel. Eine ganze Generation politisiert sich durch die Teilnahme an radikalen Protestformen, wird sich der Funktionsweise des Systems bewusst und erlernt effektive Strategien zum Widerstand durch direkte Aktionen. Gleichzeitig stellen die Studierenden mit ihrer Beharrlichkeit und ihren scheinbar unbedeutenden Forderungen die gesamte Ordnung der liberalen Demokratie in Frage, indem sie deren ideologische Kernmythen entlarven und die Unfähigkeit des Systems aufzeigen, seine eigenen Versprechen einzulösen. Sollte dieser Kampf weitergehen und letztendlich erfolgreich sein, könnte er neue politische Subjekte hervorbringen, die in der Lage sind, ein breiteres gesellschaftliches Vertrauen zu gewinnen, sei es im Rahmen parlamentarischer Politik oder in nicht-institutionellen Formen.
Übersetzung von Camilla Elle und Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective.