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Wie die Regierung Lula gegen rechte Desinformation vorgeht

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Autorin

Katarine Flor,

Platz der drei Gewalten in Brasiliens Hauptstadt Brasilia.
X hat mitrandaliert: Bei den Ausschreitungen vom 23.1.2023 in Brasilia trug die Plattform zur Verbreitung rechter Desinformation bei. Bild: Platz der drei Gewalten in Brasiliens Hauptstadt Brasilia.
 
 

 

 

CC BY-NC 2.0, Foto: Ana Pessoa/Mídia NINJA

Soziale Medien sind in den vergangenen Jahren zu einem Ort geworden, an dem sich Desinformation rapide verbreitet. Die extreme Rechte weiß ihre Funktionsweise gezielt für sich zu nutzen. Brasiliens Justiz versucht dem einen Riegel vorzuschieben – und zieht den Zorn der Tech-Konzern-Chefs auf sich.

Katarine Flor ist Journalistin und Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit im Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.

Der Einfluss der großen Technologieunternehmen auf die Politik steigt weltweit. Das gilt für Deutschland, wo X-Eigentümer Elon Musk inzwischen offen Partei für die rechte AfD ergreift, wie auch für Brasilien. Im bevölkerungsreichsten Staat Südamerikas sorgte die Plattform X (ehemals twitter) für die massenhafte Verbreitung von Fehlinformation im Wahlkampf zwischen dem rechten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro und dem jetzigen linken Amtsträger Lula da Silva. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte sie am 8. Januar 2023, als kurz nach dem Amtsantritt Lulas Bolsonaro-Anhänger*innen den Platz der Drei Gewalten in Brasília stürmten, auf dem sich der Kongress, der Präsidentenpalast und der Oberste Gerichtshof befinden. Auf der Plattform hatten sich zuvor extremistische Botschaften und Aufrufe zum vermeintlichen Widerstand in Windeseile verbreitet.

Seither liefert sich Elon Musk regelmäßig Fehden mit dem Obersten Gerichtshof, der in Brasilien über Fälle von Desinformation urteilt. Die Richter*innen ließen in Folge des Sturms auf die Regierungsgebäude Konten sperren, die Falschinformationen verbreiteten und die Demokratie untergraben hatten. Der Tech-Milliardär wiederum forderte die Brasilianer*innen sogar direkt dazu auf, gerichtliche Sperren zu umgehen. Das verschärfte den Konflikt zwischen der Plattform und der Justiz weiter.

Desinformation wird das gezielte Verbreiten von Informationen genannt. Ziel von Desinformation ist, die Gesellschaft, einzelne Gruppen oder Einzelpersonen im Sinne politischer oder wirtschaftlicher Interessen bewusst zu täuschen.

Fruchtbarer Boden für Desinformation

Große Kommunikationsplattformen wie Facebook, WhatsApp, Telegram und X ermöglichen nicht nur die Verbreitung von Desinformation. Sie profitieren auch selbst davon. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der sogenannten Ökonomie der Aufmerksamkeit: Inhalte, die starke Emotionen wie Angst, Wut oder Empörung auslösen, werden bevorzugt. So bleiben Nutzer länger auf den Plattformen. Falsche und sensationelle Nachrichten verbreiten sich daher oft schneller als wahrheitsgemäße Inhalte, insbesondere wenn sie Emotionen wie Angst und Empörung wecken. Eine Studie des US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT), die 2018 die Verbreitungsgeschwindigkeit von über 126.000 Twitter-Nachrichten verglich, zeigte, dass Fake News sich im Schnitt sechsmal schneller verbreiteten als faktenbasierte Nachrichten. Extrem rechte Akteure haben längst gelernt, diese Begünstigung polarisierender und emotionalisierender Inhalte durch die Algorithmen für sich zu nutzen.

Für Brasilien belegt eine Studie der Wissenschaftler*innen Margareth Vetis Zaganelli und Simone Guerra Maziero, dass Desinformationen während Wahlen seit 2018 stark zugenommen haben sowie gezielt und mit manipulierender Absicht eingesetzt wurden. So waren die Präsidentschaftswahlen 2018 und 2022 vom massiven Einsatz von Fake News geprägt, die das Ziel verfolgten, das Wahlsystem zu delegitimieren. Falschinformationen über angeblich manipulierte elektronische Wahlmaschinen, mit denen in Brasilien gewählt wird, verbreiteten sich schnell. Zudem untergruben sie das Vertrauen in den Obersten Wahlgerichtshof. Über WhatsApp und Telegram kursierten massenhaft manipulierte Videos, Memes und Audionachrichten. Das führte zu einem Klima des Misstrauens und der politischen Instabilität.

Besonders interessant sind die Recherchen der Faktencheck-Gruppe Agência Lupa in Zusammenarbeit mit der Universität von São Paulo und der Bundesuniversität Minas Gerais. Sie analysierten Bilder und Memes, die in 347 öffentlichen WhatsApp-Gruppen während der zweiten Wahlrunde 2018 geteilt wurden. Die Studie ergab, dass lediglich vier der 50 am häufigsten geteilten Bilder Aussagen enthielten, die der Wahrheit entsprachen.

Gegen eine demokratische Regulierung von Hass- und Falschnachrichten in den Sozialen Medien stemmt sich indessen nicht nur X.

Der Soziologie-Professor Sérgio Amadeu argumentiert, dass soziale Netzwerke das «Goebbels-Prinzip» praktisch umsetzen. Joseph Goebbels, Propagandaminister während der Zeit des Nationalsozialismus, manipulierte die Medien nach einem simplen Prinzip: «Ein Beitrag wird wahr, wenn er eine Million Mal wiederholt wird». In einem Artikel für die linke Zeitung Brasil de Fato beschreibt Amadeu, wie Plattformen durch massenhafte Datensammlung gezielt polarisierende Inhalte verbreiten. Das Ziel: Die Interaktionsrate der Nutzer*innen mit den Inhalten zu steigern. Dieser Kreislauf fördert politische Radikalisierung und erschwert den Kampf gegen Desinformation.

Auch der Abschlussbericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Ereignissen auf dem Platz der drei Gewalten am 8. Januar 2023 zeigt, wie die Sozialen Medien benutzt wurden, um die Legitimität demokratischer Institutionen anzugreifen. Er beschreibt, wie «digitale Milizen» Angst schürten, Gegner*innen diskreditierten und das Wahlsystem attackierten. Das Dokument betont, dass «moderne Angriffe (…) keine Panzer, Kabel und Soldaten verwenden». Stattdessen folgten sie einer hybriden Kriegsstrategie: massive Desinformation in Kombination mit klaren politischen und sozialen Aktionen. So verstärkten soziale Netzwerke die Radikalisierung und förderten gewalttätige Angriffe auf demokratische Institutionen.

Der Streit zwischen Musk und Brasilien eskaliert

Im April 2024 eskalierte der Konflikt zwischen dem Tech-Unternehmen X und dem brasilianischen Staat erneut. X-Eigentümer Elon Musk griff öffentlich den Obersten Gerichtshof an und drohte, durch Gerichtsbeschlüsse gesperrte Konten wiederherzustellen. Musk warf dem Richter des Obersten Gerichtshofs Alexandre de Moraes Zensur vor. Und er rief brasilianische Nutzer*innen dazu auf, VPNs (unabhängige virtuelle private Kommunikationsnetzwerke, die von Unbeteiligten nicht einsehbar sind und mit denen ein Nutzerstandort außerhalb Brasiliens vorgegeben werden kann) zu verwenden, um die von der Justiz auferlegten Einschränkungen zu umgehen.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Moraes ordnete Ermittlungen gegen Musk an. Der Verdacht: Justizbehinderung, Anstiftung zu Straftaten und Missachtung gerichtlicher Anordnungen.

Der Fall erreichte seinen Höhepunkt am 30. August 2024. Moraes ließ die Plattform X landesweit sperren. Diese Entscheidung wurde wenige Tage später einstimmig vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Die Richter*innen argumentierten, dass alle Versuche, die Plattform zur Einhaltung der gerichtlichen Anordnungen zu bewegen und die verhängten Geldstrafen zu zahlen, gescheitert waren. Erst am 8. Oktober 2024 genehmigten Richter*innen die Rückkehr von X nach Brasilien. Zuvor hatte das Unternehmen die vom Gericht festgelegten Anforderungen erfüllt. Zu den Bedingungen für die Wiederaufnahme des Dienstes gehörten:

  • die Sperrung von Profilen, die Fake News und Aufrufe zur Gewalt verbreiteten;
  • die Ernennung eines rechtlichen Vertreters in Brasilien, eine obligatorische Voraussetzung für alle ausländischen Unternehmen, die im Land tätig sind;
  • die vollständige Zahlung der verhängten Geldstrafen, die insgesamt 28,6 Millionen R$ (umgerechnet rund 4,7 Millionen Euro, Anm. d. Übersetzers) betrugen.

Auch Meta-Chef Zuckerberg attackiert Brasilien

Gegen eine demokratische Regulierung von Hass- und Falschnachrichten in den Sozialen Medien stemmt sich indessen nicht nur X. Auch Meta, das Unternehmen, das Facebook, Instagram und WhatsApp kontrolliert, scheint sich zunehmend zu politisieren. So kündigte Meta-Chef Mark Zuckerberg an, gemeinsam mit US-Präsident Trump gegen eine vermeintliche «Zensur in sozialen Netzwerken» angehen zu wollen. «Wir werden mit Präsident Trump zusammenarbeiten, um Druck auf Regierungen auszuüben, die amerikanische Unternehmen verfolgen und Zensur umsetzen», so Zuckerberg. Der US-Unternehmer drückte deutlich aus, wem er vertraut: «Der einzige Weg, diesem globalen Trend zu widerstehen, ist mit der Unterstützung der US-Regierung.» Zuckerberg glaubt, dass Europa «die Zensur institutionalisiere» und dass lateinamerikanische Länder «geheime Gerichte haben, die Unternehmen anweisen können, Dinge in den sozialen Netzwerken heimlich zu entfernen».

Dass die Tech-Unternehmen bei ihrem Lobbyismus für deregulierte Social-Media-Plattformen neuerdings auf die volle Unterstützung ihrer Regierung zählen können, zeigte zuletzt der Auftritt des neuen US-amerikanischen Vizepräsident Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024. Bei dieser internationalen Tagung für sicherheitsrelevante Themen warnte er vor einer vermeintlichen Einschränkung der Meinungsfreiheit in Europa; seine Behauptung unterlegte er mit höchst fragwürdigen Beispielen. Vance Vorwürfe und Zuckerbergs Kritik machen deutlich, wie eng Politik und Tech-Unternehmer in den USA bei diesem Thema zusammenarbeiten.

Meta kündigte zudem an, sein bisheriges Faktenprüfungsprogramm durch ein «Community-Bewertungssystem» zu ersetzen, also ein System des dezentralen Faktenchecks durch die Nutzer*innen selbst, das dem Modell von X ähnelt. Zuvor hatte das Unternehmen bereits angekündigt, Änderungen an seiner Politik zur Hassrede vorzunehmen. Expert*innen und Organisationen kritisierten diese Entscheidung und warnten vor den Folgen für den Kampf gegen Desinformation in einem ohnehin polarisierten politischen Umfeld.

Die Ankündigung, die professionelle Faktenprüfung zu beenden, rief in Brasilien starke Reaktionen hervor. In einem LinkedIn-Post meldete sich João Brant, Sekretär für digitale Politik der brasilianischen Regierung, zu Wort: «Es ist eine Einladung für die extreme Rechte, diese Netzwerke als Plattformen ihrer politischen Aktionen zu nutzen.» Brant betont: «Facebook und Instagram entwickeln sich zu Plattformen, die der individuellen Meinungsfreiheit vollen Raum geben und andere individuelle und kollektive Rechte nicht mehr schützen werden.»

Auch das Ministério Público Federal (unabhängige Staatsanwaltschaft zur Durchsetzung von Gesetzen und zum Schutz von Bürgerrechten, Anm. d. Übersetzers) und die Generalstaatsanwaltschaft verlangten Klarstellungen von Meta, wie man mit der Moderation von Inhalten verfahren werde. Einige Tage später teilte Meta mit: Die Faktenprüfung in Brasilien werde fortgesetzt, während das Programm in den USA eingestellt wird.

Angesichts der Situation berief die Generalstaatsanwaltschaft eine öffentliche Anhörung in Brasília ein, um die neuen Moderationsrichtlinien für digitale Plattformen zu diskutieren. 45 Vertreter*innen relevanter Institutionen wurden eingeladen, darunter Vertreter*innen digitaler Plattformen, Expert*innen, Faktenprüfungsagenturen, Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Trotz der Einladung erschienen die Vertreter*innen der digitalen Plattformen nicht zu diesem Termin. Die öffentliche Anhörung unterstrich die Notwendigkeit einer Regulierung von Big Tech, um Missbrauch zu verhindern, Transparenz bei der Moderation von Inhalten zu gewährleisten und die Grundrechte der Nutzer*innen zu schützen. Expert*innen wiesen darauf hin, dass das Fehlen klarer Regeln Desinformation, Hassrede und die kommerzielle Ausbeutung der Nutzer*innen begünstigt.

Europa wehrt sich mit dem Digital Services Act (DSA)

In Europa versucht man mit dem Digital Services Act, die Macht der internationalen digitalen Großdienstleister in ihre Schranken zu weisen. Seit dem 17. Februar 2024 gilt dieses gemeinsame EU-Abkommen unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten, ohne dass es einer weiteren nationalen Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedarf. Die neuen Regelungen sollen zusammen mit dem Digital Markets Act zu einer Art Grundgesetz für das Internet werden und gelten als das wichtigste digitalpolitische Regelwerk in Europa.

Die Mobilisierung progressiver Gruppen und die Forderung nach verbindlichen Regeln für digitale Plattformen sind in Europa wie in den Demokratien Lateinamerikas wichtige Schritte, um die öffentliche Debatte ausgewogen zu halten und die Demokratie zu schützen.

Schon seit dem 25. August 2023 müssen sehr große Plattformen und Suchmaschinen mit mehr als 45 Millionen Nutzern pro Monat in der EU Vorgaben wie neue Transparenzregeln und Beschwerde-Möglichkeiten für User*innen umsetzen.  

Ob die EU-Verordnung das einlösen kann, was sie verspricht und ob sie dem gemeinsamen Druck der US-amerikanischen Tech-Unternehmen und der US-Regierung standhalten kann, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen.

Die Linke kämpft für demokratische Regulierung

Auch in Brasilien sprechen sich linke Parteien, progressive gesellschaftliche Sektoren, soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen dafür aus, einen verbindlichen regulatorischen Rahmen zu schaffen. Dieser soll die Plattformen zu mehr Transparenz zwingen, Unternehmen für durch sie beworbene Inhalte verantwortlich machen und wirksame Mechanismen gegen die Verbreitung von Fake News schaffen.

«Es muss immer wieder betont werden, dass die Förderung der Integrität von Informationen keine Zensur ist und demokratische Regulierung keine illegitime Einschränkung der Meinungsfreiheit darstellt», sagte Bia Barbosa während der öffentlichen Anhörung. Die Journalistin ist Vertreterin von Reporter ohne Grenzen in Brasilien. «Wir müssen den Mut haben, über das hinauszugehen, was Europa mit dem DSA [Digital Services Act, Gesetz zur Regulierung digitaler Dienste] erreicht hat.»

Die Mobilisierung progressiver Gruppen und die Forderung nach verbindlichen Regeln für digitale Plattformen sind in Europa wie in den Demokratien Lateinamerikas wichtige Schritte, um die öffentliche Debatte ausgewogen zu halten und die Demokratie zu schützen. Doch der massive Lobbyismus von Big Tech wird zu einer immer stärkeren Herausforderung. Die Unternehmen nutzen gezielt ihren globalen Einfluss und politische Verbindungen, um Regulierungsversuche zu blockieren. Doch Transparenz, Verantwortung und Gerechtigkeit in der Inhaltsmoderation sind entscheidend. Ein verbindliches Bekenntnis zu diesen Werten verhindert, dass Profitinteressen über der Integrität von Informationen und dem Recht auf ein demokratisches, pluralistisches digitales Umfeld stehen.