
In linken Debatten zum Aufstieg der AfD war in den letzten Monaten häufig von Kipppunkten die Rede. Ob wir einen solchen Kipppunkt in der vorletzten Sitzungswoche des 20. Bundestages im Januar 2025 erlebt haben, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Eine Zäsur war es in jedem Fall.
Lia Becker schrieb in der Zeitschrift LuXemburg von der Formierung «des neoliberal-konservativen Teils des Bürgertums rund um die neue Führung der Union». Damit legt sie nahe, dass die Union angesichts der globalen Rechtsentwicklung eine Kurskorrektur vornimmt, die im politischen Spektrum der Bundesrepublik die Kräfteverhältnisse entscheidend verschiebt. Die besagte Parlamentswoche im Bundestag hat gezeigt, mit welchen Mehrheiten dieses neue Kraftzentrum rechnen kann – aber auch, welche Widerstände sich hier abzeichnen.
Gerd Wiegel ist Politikwissenschaftler und Leiter des Referats «Demokratie, Migrations- und Antirassismuspolitik» beim DGB-Bundesvorstand.
Mehrheiten mit der AfD: eine Zäsur
Ganz sicher war das Vorgehen von Friedrich Merz eine Zäsur, die nachhaltige Spuren im politischen Gefüge der Bundesrepublik hinterlässt. Denn die Union hat mit ihrem Vorstoß eine Tür geöffnet, die sich nicht mehr schließen lässt.
Die zumindest auf Bundesebene bisher glaubwürdige Abgrenzung der demokratischen Parteien zur AfD ist durch das Handeln von Merz durchkreuzt worden. Nicht nur, dass sich die AfD ihren Anhängern als durchsetzungsfähig präsentieren konnte – fast schlimmer noch ist die Tatsache, dass Merz damit eine Tür geöffnet hat, durch die jetzt immer mehr CDU-Politiker aus den (zunächst) ostdeutschen Bundesländern gehen werden. Mit Verweis auf den Bund werden sie zurecht sagen, dass es doch auch ihnen möglich sein muss, notfalls mit Hilfe der AfD zu vermeintlich unausweichlichen Verschärfungen in der Migrationspolitik zu kommen. Das Bundestagswahlergebnis der AfD vor allem in Ostdeutschland erhöht den Druck auf die dortige CDU. Schon 2026 kann es in Sachsen-Anhalt dazu kommen, dass keine Mehrheiten gegen die AfD gebildet werden können.
Inhaltlich hat sich der bürgerliche Konservatismus damit die auf Ab- und Ausgrenzung ausgerichtete Migrationspolitik der extremen Rechten zu eigen gemacht und sie bis weit in die politische Mitte hinein legitimiert. Verfassungsrecht, europäisches Recht, Völkerrecht – die Union pfeift darauf. Sie macht sich einen autoritären Politikstil zu eigen, der sich von rechtlichen Einhegungen freimachen will und ganz offen mit dem Rechtsbruch kokettiert. Formal hat Merz die AfD in die Rolle eines möglichen Mehrheitsbeschaffers für solche Praktiken gebracht. Als unausgesprochene Drohung bleibt das auch bei einer Koalitionsbildung mit der SPD im Raum stehen, sollte diese sich bei den geplanten Änderungen in der Flucht- und Asylpolitik nicht den Wünschen der Union fügen.
Merz hat einen zentralen Imperativ der deutschen Nachkriegsgeschichte außer Kraft gesetzt: Der Ausschluss der extremen Rechten war eine Lehre aus der faschistischen Vergangenheit und ihres Vorlaufs am Ende der Weimarer Republik.
Dass es die CDU nicht bei einem Versuch belassen hat, sondern die gleiche Mehrheit zweimal suchte, legt nahe, dass man sich hier bewusst für einen anderen Umgang mit der AfD entschieden hat. Das Argument, das Richtige bleibe richtig, auch wenn die Falschen zustimmten, lässt sich auf beliebige Felder erweitern und wird auch von anderen genutzt werden. Vor allem wird es die AfD gegen die Union verwenden, die sich jetzt nicht mehr auf eine grundsätzliche Haltung zurückziehen kann.
Hier liegt die tatsächliche Zäsur des Vorgangs, denn Merz hat damit einen zentralen Imperativ der deutschen Nachkriegsgeschichte außer Kraft gesetzt: Der Ausschluss der extremen Rechten war eine Lehre aus der faschistischen Vergangenheit und ihres Vorlaufs am Ende der Weimarer Republik. Zwar gab es schon immer inhaltliche Überschneidungen zwischen Konservatismus und der extremen Rechten, und die reaktionäre Migrationspolitik der Union hat eine lange Geschichte, bei der die Unterschiede z. B. zwischen einer hessischen CDU unter Roland Koch und den heutigen AfD-Forderungen verblassen könnten. Dennoch war für die Union immer klar, dass der demokratisch legitimierte Raum an ihrem rechten Rand endet – wie es einst Franz Josef Strauß ausdrückte. Da die Union, wie auch das Bundestagswahlergebnis zeigt, diesen Rand offensichtlich nicht mehr einbinden kann, versucht sie jetzt, das legitime Spektrum nach rechts zu erweitern. So will sie wenigstens die Vorherrschaft über diese Seite behaupten. Doch historisch endete die Vorstellung, man könne die extreme Rechte für eigene politische Projekte einspannen und sie kontrollieren, in der Katastrophe des Faschismus. Offensichtlich will man diese Erfahrung in der Union nicht mehr wahrhaben bzw. pflegt eine Vorstellung, nach der sich die AfD doch ins demokratische Parteienspektrum integrieren lasse.
«Disruption» und der Hang zum Autoritären
Vor dem Hintergrund der Entwicklung in den USA unter Trump und auch der Erfahrung in Österreich aktuell scheint der deutsche Konservatismus entschlossen, dem scheinbar stärker werdenden gesellschaftlichen Bedürfnis nach autoritärer Führung entsprechen zu wollen. Die markigen Ankündigungen von Merz, was er alles mit Antritt der Kanzlerschaft per Anweisung umsetzen wolle, erinnern nicht zufällig an Trump. Damit eignet sich auch die Union einen männlich-autoritären Politikstil an, der mit zunehmender Verachtung auf traditionelle demokratische Aushandlungsformen blickt. Dekret, Anweisung, Rausschmiss, persönliche Agenda – demokratische Institutionen und Prozesse werden von der Rechten und aktuell von Männern wie Trump, Musk, Milei u. a. massiv unterlaufen und ausgehebelt.
Die von Christian Lindner verlangte «Disruption» in der Politik hat Merz aufgenommen. Dennoch bietet er hier einen anderen Typ des «Machers» an, als er in den USA oder Argentinien erfolgreich ist. Weniger verbale Zuspitzung, eher technokratische Umsetzung. Jeder Schritt nach rechts wird von einem halben Rückschritt begleitet. Mehr Meloni, weniger Trump – womit den nicht zu unterschätzenden Widerständen gegen eine solche Entwicklung Tribut gezollt wird.
Diese Rücksichten werden jedoch abnehmen, je weniger Widerstand einem solchen Kurs aus der bürgerlichen Mitte entgegenschlägt. Die Massendemonstrationen aus einem linksliberalen Spektrum werden von der Union mit den Mitteln repressiver Einschüchterung und der impliziten Androhung des Entzugs von Fördergeldern für zivilgesellschaftliche Organisationen beantwortet. Noch ernster ist der Widerspruch der Kirchen, auf den Partei und bürgerliche Leitmedien sofort und scharf reagiert haben. In klassisch reaktionärer Manier wurde der Widerspruch von Altkanzlerin Merkel gegen Merz als «Dolchstoß» (FAZ, 4.2.25) bezeichnet.
Wer im November 2024 wie Merz ankündigt, keinesfalls Mehrheiten mit der AfD zulassen zu wollen, und zwei Monate später genau das macht, hat auf jeden Fall ein Vertrauensproblem.
Diese autoritären Anwandlungen haben durch das Wahlergebnis einen deutlichen Dämpfer erhalten, denn an den Urnen hat die Aktion von Merz der CDU nicht genutzt. Mit einem Ergebnis von unter 30 Prozent hat die Union weder die Legitimation noch die Kraft, den flotten Sprüchen von Merz auch die Taten folgen zu lassen, die der AfD das Wasser abgraben würden. Insofern könnte sich das ganze Manöver als weitere Hilfe für die AfD entpuppen, die Merz genüsslich jeden Widerspruch zwischen seinen Ankündigungen und der tatsächlichen Umsetzung vorhalten wird.
Welche Auswirkungen der Tabubruch für das Verhältnis der demokratischen Parteien untereinander hat, ist noch nicht abzusehen. Wer im November 2024 wie Merz ankündigt, keinesfalls Mehrheiten mit der AfD zulassen zu wollen, und zwei Monate später genau das macht, hat auf jeden Fall ein Vertrauensproblem. Allerdings scheint es nach der Rechtswende von Rot-Grün in der Migrationspolitik unwahrscheinlich, dass von hier ein wirklich nachhaltiger Widerstand ausgeht.
Das Argument wird lauten, dass die Lehre aus Österreich darin bestehen muss, als Demokraten zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Wenn diese dann inhaltlich die Position der AfD spiegeln, gelten sie zumindest als demokratisch legitimiert – was jedoch für die Opfer dieser Politik keinen Unterschied macht.
In der Tat hat das Manöver von Merz einer Entwicklung den Boden bereitet, die in Österreich demokratische Kompromisse vorübergehend blockiert und somit der extremen Rechten den Weg zur Regierungsmacht geebnet hatte, auch wenn der erste Anlauf zu einer Regierung unter Führung der FPÖ scheiterte. Waren es im Nachbarland jedoch vor allem grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die zum zeitweiligen Bruch führten, ist es in Deutschland mit der Migrationspolitik ein Thema, bei dem die nach rechts offene abschüssige Bahn bereits von allen Parteien außer der Linken in Richtung AfD beschritten wurde.
Insgesamt erscheint der Schachzug der Union weniger ein populistischer Befreiungsschlag im Wahlkampf als vielmehr eine Notbremse gewesen zu sein. Merz und die CDU wissen um die strategische Ausrichtung der AfD, die auf eine Zerstörung des etablierten Konservatismus zielt und häufig genug von führenden AfD-Politikern benannt wurde. Nach den Taten von Magdeburg und Aschaffenburg war die Sorge in der Union offenbar groß, dass sich der Wählerabfluss zur AfD noch einmal verstärken könnte – eine begründete Sorge, wie das Wahlergebnis zeigt. Die Zuspitzung durch Merz sollte diesen Wähler*innen signalisieren, dass es keine Notwendigkeit gibt, zur AfD zu gehen, da deren Politik – mit größeren Chancen der Durchsetzbarkeit – auch von der Union umgesetzt wird. Die Debatte im Anschluss an den Anschlag von München zeigt, dass diese Logik die Union in eine immer stärkere Radikalisierung treiben kann.
Die AfD jubelt
Die Reaktionen der AfD am Ende der Bundestagsdebatte, in der es ihr erstmals gelang, mit ihren Stimmen einer migrationspolitischen Entscheidung in ihrem Sinne zur Mehrheit zu verhelfen, sprachen Bände: Jubel, Umarmungen von Alice Weidel, Gruppen-Selfies im Bundestag. Während die Abgeordneten der Union teils konsterniert in ihren Bänken saßen, feierte die Partei, der sie doch eigentlich das Heft des Handels entreißen wollten.
Tatsächlich ist die AfD in einer komfortablen Position. Ihr gelingt es, aus jeder Entwicklung als Sieger hervorzugehen: Siegt man mit Merz, hat man die Union zu AfD-Positionen getrieben und diese durchgesetzt. Verliert man mit Merz, ist dieser nicht in der Lage, konservative Mehrheiten zu organisieren, was die Schwäche und Linksausrichtung der Union belege. Nahezu unerträglich ist die selbstgewisse Auswertung ihres Parlamentarischen Geschäftsführers Bernd Baumann, der von einer neuen Epoche sprach, die angebrochen sei und die von der AfD angeführt werde. Die CDU könne folgen, wenn sie dazu noch die Kraft habe.
Nach der Wahl Trumps und dem Wahlsieg der FPÖ in Österreich kann die AfD vor Kraft kaum gehen und glaubt, per Autopilot zur Regierungsmacht fahren zu können. Agieren Union und Rot-Grün weiter wie in den letzten Wochen und Monaten, wird die Fahrt kürzer als selbst von der AfD erhofft. Die Verdoppelung ihres Wahlergebnisses von 2021 auf jetzt mehr als 20 Prozent wird nur als Etappe auf dem Weg zur stärksten Partei in Deutschland gesehen.
Das Bundestagswahlergebnis hat der AfD deutlich gezeigt: die weitere verbale Radikalisierung, wie sie beim Parteitag in Riesa zu beobachten war, hat ihr nicht geschadet.
Schon vor zehn Jahren verkündete die völkische Rechte um Björn Höcke, man werde nicht als Juniorpartner, sondern nur als dominante Kraft in ein Bündnis mit der Union gehen. Diesen Weg wird die Partei konsequent fortsetzen. Erste Probeläufe solcher Mehrheiten sollen in Ostdeutschland stattfinden. Hier ist die AfD bei den Bundestagswahlen zur unangefochten stärksten Kraft geworden, hat fast alle Direktmandate gewonnen und kann auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung bauen. Die angestrebte «Zerstörung der CDU», jedenfalls ihre Ablösung als führende Kraft des bürgerlichen Lagers, hat hier längst begonnen.
Das Bundestagswahlergebnis hat der AfD deutlich gezeigt: die weitere verbale Radikalisierung, wie sie beim Parteitag in Riesa zu beobachten war, hat ihr nicht geschadet. «Remigration» wurde als Konzept und als Begriff von der Parteiführung übernommen. Durch die Unterstützung von Elon Musk ist die Partei medial noch präsenter. Sie erfährt auch international Aufmerksamkeit, wird weiter normalisiert und knüpft an die von Milei und Trump beispielhaft vorgelebte Inszenierung des disruptiven Tabubruchs an. Eine weitere Aushöhlung demokratischer Standards ist die Folge. Die Aufnahme von extrem rechten Ideologen wie Maximilian Krah oder Matthias Helferich in die neue Bundestagsfraktion zeigt, dass die AfD keine Zugeständnisse machen wird.
Mit Blick auf die Regierungsbildung kann sich die AfD entspannt zeigen und abwarten welche der Ankündigungen von Merz sich sofort als Luftnummern entlarven. Sie wird den Druck auf die Union beim Thema Migration hochhalten, was Merz vor die Wahl stellt, der AfD weitere Munition beim Thema Migrationspolitik zu liefern oder den nächsten Schritt hin zu einem radikal-autoritäreren Umbau der Gesellschaft zu gehen. Letzteres beinhaltet jedoch ein unkalkulierbares Risiko, denn die gesellschaftlichen Widerstände gegen einen solchen Schritt wären größer als das, was die Union in den letzten Wochen erlebt hat.
Die Proteste brauchen einen langen Atem
Nach dem Massenprotest gegen die extreme Rechte zu Beginn des Jahres 2024 zeigt sich seit Jahresbeginn 2025 eine neue Welle des Widerstands gegen die AfD, der durch den Tabubruch von Merz und der Union verstärkt wurde.
Schon die Proteste gegen den AfD-Parteitag in Riesa im Januar waren die seit Jahren kraftvollsten und wirksamsten und waren der Startschuss für weitere Mobilisierungen. Seitdem reißt die Welle an Demonstrationen landesweit nicht ab. Allein in den Tagen nach den Abstimmungen der Union mit der AfD waren es eine Million Menschen, die dagegen auf die Straße gingen. Auch dieses Mal handelt es sich um flächendeckende und keineswegs auf die Ballungszentren beschränkte Proteste. Offensichtlich ist auch ein demokratisch-bürgerliches Spektrum sehr besorgt über den politischen Rechtsdrift der Mitte und trägt diese Sorge auf die Straße.
Bei aller Dramatik des weltweiten Rechtstrends war das Ergebnis der Partei Die Linke ein Lichtblick und eine Ermutigung für alle, die sich diesem Trend entgegenstemmen.
Der Effekt dieser Proteste bleibt mit Blick auf das Wahlergebnis jedoch gering. Dennoch sollten wir die Bedeutung dieser Demonstrationen nicht unterschätzen, denn sie sind ein Signal für die Union, dass ein relevanter Teil der bürgerlichen Mitte die angestrebte Rechtsverschiebung des politischen Spektrums ablehnt. Für das weitere Agieren der Union ist das Durchhaltevermögen dieses Protestes von großer Bedeutung. Die Nervosität der CDU sieht man auch an einer Kleinen Anfrage ihrer Fraktion am ersten Tag nach der Wahl, mit der sie ganz in der Manier der AfD bzw. Orbans in Ungarn versucht, zivilgesellschaftliche Vereine, die an den Protesten beteiligt waren, einzuschüchtern.
Und die Linke? Sie hat als Partei bei den Wahlen gezeigt, dass Unzufriedenheit und Protest gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht automatisch nach rechts gehen müssen. Bei aller Dramatik des weltweiten Rechtstrends war das Ergebnis der Partei Die Linke ein Lichtblick und eine Ermutigung für alle, die sich diesem Trend entgegenstemmen. Als Partei, Bewegung und Gewerkschaften muss die gesellschaftliche Linke die mit dem Krisenkapitalismus verbundenen Gründe für den rechten und autoritären Aufstieg in diese Proteste tragen. Nur so wird es gelingen von einer kurzfristigen Reaktion zu längerfristigen Strategien gegen Rechts zu kommen.