Analyse | Staat / Demokratie - Rosalux International - Nordafrika Tunesien: Demokratie oder Wirtschaftsliberalismus

Das Land galt als «Leuchtturm der Demokratie», doch damit ist es längst vorbei.

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Autorin

Amal Trabelsi,

Der tunesische Präsident Kais Saied Foto: IMAGO / APAimages

Lange galt Tunesien, das im «Arabischen Frühling» seinen langjährigen Diktator Ben Ali gestürzt hatte, als «Leuchtturm der Demokratie». Doch damit ist es inzwischen vorbei. Denn der 2019 gewählte Präsident, Kais Saied, hat die Institutionen der Demokratie schrittweise ausgehöhlt und seine Alleinregierung befestigt. Wie konnte es dazu kommen?

Aufbruch in die Demokratie

Als sich am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid der junge Straßenhändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen die Schikane der Polizei in Brand setzte, löste dieser Schritt ein politisches Erdbeben aus. Innerhalb weniger Wochen wurde eines der bis dahin stabilsten Regime der Region gestürzt.

Dabei richtete der Aufstand sich nicht nur gegen die Diktatur, sondern auch gegen die soziale Ungerechtigkeit im Land. Steigende Arbeitslosigkeit, die vor allem im Landesinneren grassierende Armut und eine weithin sichtbare Konzentration von Reichtum und Ressourcen in den Händen der Eliten – und insbesondere im Umfeld des Präsidenten – brachten das Fass zum Überlaufen. Als Ben Ali nach 23-jähriger Herrschaft am 14. Januar 2011 das Land verließ, war die Hoffnung groß, dass der Umsturz zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit führen werde.

Und in der Tat konnte die Revolution anfangs durchaus Erfolge vorweisen. Die neue Verfassung galt als progressivste in der arabischen Welt, und die 2014 nach ihrer Verabschiedung stattfindende Parlamentswahl verlief frei und fair. Auch in der Meinungs- und Assoziationsfreiheit wurden mit der Pressefreiheit, der Anerkennung konkurrierender Parteien und der Gründung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen große Fortschritte erzielt. Die breite Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess zeigte eindrucksvoll auch das sogenannte nationale Quartett, das aus dem Gewerkschaftsdachverband, dem Industrie- und Handelsverband, der Tunesischen Liga für Menschenrechte und der Vereinigung der Rechtsanwälte bestand. Der gesellschaftliche Einfluss dieses Quartetts war von entscheidender Bedeutung für den Übergang zur parlamentarischen Demokratie.

Die unvollendete Revolution

Doch die Revolution blieb sozial unvollendet. Der Soziologe Mouldi Guessoumi, der mit seiner Studie «Die Gesellschaft der Revolution und der Postrevolution» die beste Untersuchung der zeitgenössischen tunesischen Gesellschaft vorgelegt hat, erkannte den Grundfehler des Transformationsprozesses in der fatalen Annahme, der Aufbau der Demokratie werde quasi automatisch die wirtschaftliche Entwicklung beflügeln. Das aber war mitnichten der Fall, im Gegenteil.

In der Praxis bedeutete dies, dass sich trotz der gewonnenen bürgerlichen Freiheiten kaum etwas an den materiellen Lebensbedingungen der Menschen änderte – jedenfalls nicht zum Besseren. Hohe Inflationsraten, steigende Lebenshaltungskosten und die Krise wichtiger Wirtschaftszweige – darunter des Tourismus – verstärkten vielmehr die Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit. Bereits im Januar 2016 warnte das Tunesische Forum für soziale und wirtschaftliche Rechte vor einem «sozialen Tsunami».

Während die politische und wirtschaftliche Macht sich weiterhin im Küstenstreifen um Tunis, Sfax und Sousse konzentrierte, blieben andere Regionen von Armut und staatlicher Vernachlässigung geprägt. Den zahlreichen sozialen Protesten, die hier stattfanden, schenkte man in der Hauptstadt nur wenig Beachtung.

Besonders hart getroffen von der wirtschaftlichen Misere wurde die Jugend des Landes. Denn die explodierende Arbeitslosigkeit betraf viele junge und oftmals gut ausgebildete Tunesier*innen. Sie waren die Ersten, unter denen sich Desillusionierung breitmachte.

Hinzu kam, dass auch die Bekämpfung der Korruption – eine der Hauptforderungen der Revolution – scheiterte. Halbherzige Versuche, Personen aus dem Umfeld Ben Alis zur Rechenschaft zu ziehen, führten letztlich nur dazu, dass sich die Netzwerke der Korruption umorganisierten. Den Reichtum des Landes teilten die Eliten weiterhin unter sich auf.

Im Ergebnis führten die ungelösten Probleme zum massiven Vertrauensverlust des politischen Systems und seiner Akteure.

Nach 2011 hatte sich zunächst die gemäßigt islamistische Partei Ennahdha des Zuspruchs vieler Tunesier*innen erfreut, was nicht zuletzt auf ihre islamisch-konservative Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zurückging. Da die Partei sich aber zugleich dem Wirtschaftsliberalismus verschrieb, blieb von sozialer Politik nicht viel übrig.

Die säkulare Partei Nidaa Tounes, die 2014 stärkste Fraktion im Parlament wurde, berief sich auf die «goldene Zeit» Tunesiens in den Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit, als der Staat in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investierte und sozialer Aufstieg noch möglich war. Aber in der Regierungspraxis tat auch diese Partei kaum etwas gegen die soziale Verelendung vieler Bürger*innen.

Tragischerweise gelang es der tunisischen Linken nicht, mit konkreten, greifbaren Konzepten die Rivalität der beiden großen Parteien auszunutzen. Sie errang zwar mit der Volksfront, einem Bündnis linker Parteien und Organisationen, bei der Parlamentswahl 2014 immerhin 15 Sitze, war jedoch zu sehr mit ihrer ideologischen Gegnerschaft zum politischen Islam und ihren internen Konflikten beschäftigt, als dass sie eine politische Alternative hätte sein können.

Die Selbstdemontage der Parteien unterschiedlicher Couleur führte dazu, dass Kritik an der Politik sich zunehmend außerhalb der Institutionen des Systems artikulierte. Der Frust der Bevölkerung traf aber auch Gewerkschaften, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen.

Der Aufstieg von Kais Saied

Als nach dem Tod von Präsident Béji Caid Essebsi im Sommer 2019 Neuwahlen ausgerufen wurden, war das institutionelle Gefüge daher bereits erschüttert. Der ultrakonservative Kais Saied war ein politischer Außenseiter, der keiner Partei angehörte und vor seiner Kandidatur lediglich als Dozent für Verfassungsrecht in Erscheinung getreten war. Kritik an der Verfassung und den staatlichen Institutionen sowie seine Befürwortung der Todesstrafe und Polemik gegen die Zivilgesellschaft trafen in der desillusionierten Wählerschaft auf offene Ohren.

Als Präsidentschaftskandidat erklärte Saied offen, die bestehenden Institutionen nicht reformieren, sondern durch neue Strukturen ersetzen zu wollen. Dieser radikale Vorschlag weckte bei vielen Menschen die Hoffnung, die in ihren Augen «gekaperte Revolution» doch noch zurückerobern zu können.

Saied versprach allen das, was sie hören wollten – von eher linken Forderungen wie jene nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung bis hin zu religiös-konservativen Vorschlägen zu Geschlechter(un)gleichheit oder nationaler Identität. Dieser Ansatz ermöglichte ihm die Mobilisierung ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen.

In erster Linie aber mobilisierte Saied ganz gezielt jene, die sich als Verlierer der Revolution sahen: die Jugend und die Protestbewegungen. Frühzeitig sicherte er sich die Unterstützung der «Bewegung der Jugend Tunesiens», die – wie Saied – offen erklärte, das politische System ersetzen zu wollen. Für sie war Saied die letzte Hoffnung der Revolution. Dass in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 90 Prozent der 18- bis 25-jährigen Wähler*innen für Saied stimmten, bewies den Erfolg der Mobilisierung.

Die zweite Strömung bildeten die Protestbewegungen, die sich in den Jahren nach der Revolution gegründet hatten. Ihnen ging es vor allem um die gerechtere Verteilung der finanziellen Ressourcen zwischen den Regionen. Ein Großteil dieser Bewegungen votierte ebenfalls für Saied.

Die dritte Gruppe, die Saieds Kandidatur unterstützte, war das «Bündnis der Würde». Diese Partei war aus den – aufgrund ihrer Radikalisierung gerichtlich aufgelösten – «Ligen zum Schutz der Revolution» hervorgegangen und stimmte mit Saied darin überein, einen auf der Scharia basierenden Staat schaffen zu wollen.

Die breite Unterstützung zeigt, dass das Feld für den Aufstieg Saieds bereits bestellt war. Er gewann denn auch die Stichwahl im Oktober 2019.

Der Staatsstreich

Die Parlamentswahl 2019 hingegen brachte eine äußerst fragmentierte Legislative hervor, deren Handlungsfähigkeit durch andauernde Konflikte und Blockaden immer weiter untergraben wurde. Das spielte Saied in die Karten.

Nach landesweiten Proteste gegen die Regierung wagte der Präsident unter Berufung auf den Notstandsartikel 80 der tunesischen Verfassung dann am 25. Juli 2021 den Staatsstreich. Dieser Schritt traf zunächst auf breite Zustimmung in der Gesellschaft, während die Parteien, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft regelrecht überrumpelt wurden und sich über das weitere Vorgehen heillos zerstritten.

Nun begann Saied seinen Durchmarsch durch die Institutionen. Zwei Monate nach dem Putsch setzte er die Verfassung de facto außer Kraft, löste das Parlament auf und ließ Politiker*innen aus allen politischen Lagern verhaften oder anderweitig juristisch verfolgen. Auch Medien und Justiz unterstellte Saied seiner Kontrolle. Anschließend ließ der Präsident seine weitreichenden Kompetenzen in einer neuen Verfassung festschreiben, die im Juli 2022 in einem Referendum angenommen wurde.

Angesichts der sozialen und politischen Misere, in der sich Tunesien befindet, überrascht es nicht, dass breiter Widerstand gegen Saieds Errichtung einer Diktatur ausblieb. Die Verbindung von parlamentarischer Demokratie und Wirtschaftsliberalismus hatte sich in dem von weit verbreiteter Armut geprägten Land als überaus fragil erwiesen. Zudem hat das vom Saied-Regime geschaffene Klima der Angst kritische Stimmen weitgehend zum Schweigen gebracht. Vor dem Zorn des Präsidenten sind selbst enge Verbündete nicht sicher, wie die häufigen Umbesetzungen politischer Posten belegen.

Erschwerend hinzu kommt, dass das europäische Ausland sich rasch mit Saieds Diktatur arrangierte, weil man die Chance witterte, den tunesischen Präsidenten zur Abwehr der Migration nach Europa nutzen zu können. Geld gegen Migrationsabwehr, lautete der Deal.

Für seine Anhängerschaft markierte der Staatsstreich die lang erwartete Kurskorrektur einer Revolution, die vom richtigen Pfad abgekommen sei, für seine Kritiker*innen hingegen bedeutet Saied das Ende von Revolution und Demokratie. Doch die eigentliche Herausforderung für Kais Saied beginnt jetzt erst. Denn fest steht, dass der Präsident künftig daran gemessen wird, ob er langfristige Probleme zu lösen und vor allem die tunesische Wirtschaft wieder voranzubringen vermag. Daran aber bestehen erhebliche Zweifel.

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.