
Haben wir in Mittel- und Osteuropa eine besondere Neigung zum Faschismus?
Gáspár Miklós Tamás (1948–2023) war ein ungarischer Philosoph und Intellektueller. Geboren in Cluj, Rumänien, lebte er seit 1978 in Budapest. In der Ungarischen Volksrepublik war er Dissident. Von 1986 bis 1988 lehrte er in den USA, Großbritannien und Frankreich und setzte sein Studium in Oxford fort. Nach 1989 war er Mitbegründer des Bunds Freier Demokrat*innen (Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ) und Abgeordneter im Parlament. Von 2010 bis 2011 war er Vorsitzender der außerparlamentarischen Grünen Linken (Zöld Baloldal, ZB). Er war ein prominenter Gegner von Viktor Orbán und der Fidesz-Regierung – und ein erbitterter Kritiker des Kapitalismus und Neoliberalismus.
Ich würde das nicht essenzialisieren. Um zu erklären, warum Osteuropa eine besonders brutale Version des Kapitalismus hervorbringt, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass es irgendetwas mit «totalitären» Denkgewohnheiten oder «reaktionären» Tendenzen zu tun hätte, die in einem angeblich «typisch» östlichen Autoritarismus oder einem historischen Untertanengeist wurzeln. Abgesehen von ökonomischer Unzufriedenheit, sozialen und regionalen Ungleichheiten oder dem desolaten Zustand der öffentlichen Daseinsvorsorge liegen die Ursachen vielmehr in ganz konkreten Faktoren.
Warum sind «starke», charismatische Führungsfiguren so beliebt? Warum so viel Rassismus? Tschechien, Polen und Ungarn stehen zum Beispiel in europäischen Rankings zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit an der Spitze.
Egal, was Liberale oder Linke sich gern einreden: Die dominante politische Identität in Mitteleuropa ist der weiße, «arische», heterosexuelle Mann. Die Klassenidentität als verbindendes Element wurde aufgehoben. Das Einzige, was die Menschen noch mit dem Westen verbindet, ist die «Rasse». Aktuell erleben wir die letzte entscheidende Schlacht – den Kampf zwischen universalistischen versus partikularistischen Beweggründen für eine Rebellion. Der einzige große historische Gegenspieler von Nationalismus und Rassismus war die Klasse, gewissermaßen als historische Nachfolgerin des Christentums. Ihre Existenz und Bedeutung zu verschleiern, kam schon immer der Ideologie der Herrschenden zugute. Bis vor kurzem gelang dies durch das Konzept der bürgerlichen Nation. Sie sollte über Klassenunterschiede hinausgehen und die Loyalität zum König und zu den staatlichen Institutionen kräftigen, vor allem zu Armee und Kirche. Heute hat sich das verschoben – hin zu ethnischen, «rassischen» und sprachlichen Zugehörigkeiten. Das Betonen dieser Unterschiede ist eine der ältesten Strategien des Bürgertums. In den USA spricht die Rechte von «Arbeitslosen», meint aber «Schwarze». Sozialhilfeempfänger*innen sind «Kriminelle» oder «Migrant*innen». «Alleinerziehende Mütter» sind «Schlampen». Heute aber akzeptieren selbst die unteren Schichten den Abbau sozialer Sicherungssysteme, solange es «die Anderen» trifft, auch wenn diese sie tatsächlich unterstützten.
Hat damit die Idee der «Rasse» gesiegt? Stehen wir also vor einem neuen Faschismus?
Ganz so einfach ist es nicht. Warschau, Prag und Budapest sind voller reicher «Nichtweißer». Tourist*innen und Geschäftsleute können sich hier problemlos aufhalten. Sie werden nicht als «rassisch minderwertig» betrachtet. Auf die Reichen wird das Konzept des «Anderen» nicht angewendet – sondern auf Muslim*innen, Schwarze, Migrant*innen. Die Armen erleben Geflüchtete als Konkurrent*innen auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden als «soziale Rival*innen» wahrgenommen – das führt zu sozialer und moralischer Panik. Diese Hysterie ist nicht völlig unbegründet. Die betroffenen Länder sind arm. Ein massenhafter Zuzug würde das ohnehin schwache Sozialsystem sehr stark belasten. Die Menschen wissen genau, dass ihr Land in einem schlechten Zustand ist. Wenn der Staat schon die eigene Bevölkerung nicht mehr versorgen kann – wie soll das mit neu Hinzukommenden funktionieren? Dazu kommt der Wettbewerb auf europäischer Ebene: Für die Staaten der Region ist es überlebenswichtig, Geflüchtete aus der EU fernzuhalten. Denn ohne die Emigration zahlreicher Arbeitskräfte in den Westen, die vor Ort keine geeignete Stellung finden, wären die osteuropäischen Länder wirtschaftlich am Ende. Millionen sind weggezogen – vor allem junge, gut ausgebildete Fachleute wie etwa Ärzt*innen und Pflegekräfte. Würden Geflüchtete im Westen um dieselben Jobs konkurrieren, hätte das für Osteuropa katastrophale Folgen. Ohne die Rücküberweisungen der migrierten osteuropäischen Arbeitskräfte an ihre Familien würden die ohnehin maroden Renten- und Gesundheitssysteme endgültig kollabieren. Die Wirtschaft hier ist ein Witz. Wie soll sich in einem System, das auf reinem Eigennutz basiert, so etwas wie Solidarität entwickeln?
Diese Realität wird aber nicht thematisiert. Wem geben die Leute die Schuld?
Das eigentliche Problem ist der schwache Sozialstaat, das Fehlen gesellschaftlicher Solidarität und eine brutale, menschenfeindliche Klassenpolitik. Doch die konservativen Intellektuellen erklären die Welt lieber in Kategorien, die sich auf Kulturen oder offen rassistische Zuschreibungen berufen. Angst reicht als Mittel völlig aus. Die Gefahr lauert überall. Von «unten» drohen die «farbigen» Minderheiten. Von «oben» das internationale Finanzkapital und das amerikanische Imperium. Von «außen» die Migrant*innen. Von «innen» die LGBTQ-Community. Und dann ist da noch der muslimische Dschihadismus, der Europa angeblich über die «Achse des Terrors New York–Tel Aviv» schwächen und versklaven will. Also sollen sich alle zusammentun – Arme und Reiche –, um das «christliche Erbe» zu bewahren und «Europa zu retten» vor dem «kulturellen Suizid». Und leider glauben das viele. Selbst jene, die dabei finanziell das Nachsehen haben.
Warum haben wir nur diese Option?
«Hinter jedem Faschismus steht eine gescheiterte Revolution.» Viele europäische Politiker*innen, vor allem die extrem rechten, versprechen heute einen Sozialstaat, der «hart arbeitenden», einheimischen, «respektablen» Weißen vorbehalten sein soll. Die klassische Arbeiter*innenklasse hat sich verändert. 90 Prozent der österreichischen Industriearbeiter*innen haben für Norbert Hofer gestimmt. Sie sind eine relativ privilegierte Gruppe, die ihre Stellung gegen die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verteidigt – gegen Geflüchtete, Arbeitslose, Migrant*innen und Frauen, die geringere Löhne akzeptieren würden. Anstatt für höhere Löhne für alle zu kämpfen, beschuldigen sie diese Gruppen. Zudem hofiert der Staat sie mit kleinen Transferzahlungen und Sportveranstaltungen. Sie sind vielerorts zu einer reaktionären Kraft geworden, die den Interessen der Unterdrücker*innen dient. Das ist eine Rolle, die das Proletariat schon in der späten römischen Republik und im frühen römischen Kaiserreich spielte. Das könnte die Zustände in unserer Gesellschaft noch weiter verschlimmern. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und Homophobie mobilisieren die unterschiedlichsten Gruppen – und machen sie zu den Säulen eines repressiven Staats. Die Mächtigen in Osteuropa stellen jedes emanzipatorische Projekt als Bedrohung dar. Sie erzählen den Menschen, dass die «Eliten» – die Überbleibsel der Linken und der Liberalen – die Bedürfnisse der «einfachen Leute» ignorieren. So wird «Gleichheit» zum ersten Mal in der Geschichte als ein «elitäres» Konzept dargestellt.
Wie konnte es dazu kommen?
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Idee des Kommunismus – und vielleicht sogar die des Universalismus – verdrängt. Friedrich August von Hayek mag vieles gewesen sein, aber eines war er sicher nicht: ein Nazi. Er musste vor dem Faschismus fliehen. Er war konservativ, reaktionär – ja. Aber kein Faschist. Ich habe eine gewisse Achtung vor ihm, weil er ehrlich war. Er hat sinngemäß gesagt: Wir in den westlichen Gesellschaften haben Adolf Hitler einiges zu verdanken. Er hat Europa vor dem Kommunismus gerettet. Deutschland war schon immer das entscheidende Schlachtfeld Europas. Das dachten Lenin, Trotzki, Luxemburg, der Kaiser und Ludendorff. Und so war es auch. Und so ist es noch immer. Wir sprechen hier allgemein über Mitteleuropa, im Besonderen aber über Deutschland. Heidegger sagte in seinem berühmten Brief an Marcuse im Grunde dasselbe. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Marcuse sein Schüler und Freund gewesen. Nach dem Krieg schrieb er Heidegger sinngemäß: «Was zur Hölle? Sind Sie wahnsinnig geworden? Warum? Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, ich habe nur eine höfliche Bitte. Können sie mir erklären, was mit Ihnen passiert ist?» Er rechnete nicht mit einer Antwort. Doch erstaunlicherweise schrieb Heidegger zurück, in etwa: «Ich verstehe, dass Sie überrascht sind, das wären alle. Aber mir ging es damals um eine Frage: Wer kann uns vor dem Kommunismus retten?» Und es stellte sich heraus, dass nur Hitler dazu in der Lage war. Bemerkenswert ist, dass zwei so unterschiedliche Menschen wie Hayek und Heidegger – die sich gegenseitig zutiefst verachteten: Hayek Heideggers leeres Gerede, Heidegger das liberale, mechanistische, seelenlose System, das Hayek predigte – am Ende dasselbe sagten. Und es ist richtig: Der westliche Kommunismus war besiegt worden. Das war selbst Stalin klar. Der Westen hat viel von Hitler gelernt. Die Brit*innen und später die Amerikaner*innen ließen es nicht zu, dass Kommunist*innen bis zur Seine vorrückten.
Befinden wir uns also wieder in einer Situation, in der das Kapital den Faschismus einem universalistischen Projekt vorzieht?
Ein kleines Detail. Nach den Kommunalwahlen in der Steiermark, einem österreichischen Bundesland, habe ich die Wiener Zeitung Der Standard gelesen. Bisher gab es dort zwei kommunistische Abgeordnete. Nach der Wahl waren es drei. Dabei geht es nur um eine einzige Stadt in Österreich, bei einer kleinen Provinzwahl in Graz. Drei statt zwei – während die Konservativen Hunderte Sitze haben. Und trotzdem spotteten die österreichischen Zeitungen über die Kommunist*innen, die sie sonst nicht einmal erwähnen.
Meinst du, dass die Liberalen irgendwann erkennen werden, dass sie Faschist*innen den Weg bereiten, wenn sie jede linke Option zerstören?
Du kennst Ferenc Gyurcsány. Seine Sozialistische Partei, die MSZP, ist momentan die stärkste oppositionelle Kraft in Ungarn. Sie kommt auf etwa 13, 14 Prozent, während die Opposition insgesamt etwa 40 Prozent ausmacht. Die MSZP hat gegen die Resolution zur Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer gestimmt. Genau wie Orbáns Anhänger*innen – und gegen die eigene sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament. Die rechten Zeitungen haben dazu natürlich geschwiegen. Sie wollten Gyurcsány nicht für ihre Wähler*innen attraktiv machen. Und natürlich haben sich linke Intellektuelle darüber empört. Gyurcsány ist ein sehr effizienter Politiker. Er hat gar nicht erst darauf reagiert. Für ihn war es kostenlose Wahlwerbung. So läuft es ständig. Das ist nicht bloß eine Allianz zwischen Faschist*innen und Liberalen. Die obere Mittelschicht und einige Intellektuelle sind sich darüber im Klaren – manchmal bewusst, manchmal unbewusst –, dass der Kommunismus die größte Bedrohung ist. Besonders deutlich wird das in der EU-Peripherie, wo die Wirtschaft auf knallharter Ausbeutung beruht. Jede linke Idee untergräbt die ohnehin fragile, dünne Schicht des lokalen Bürgertums. Schon ein kleiner Riss könnte ein gefährliches Exempel statuieren. Welche Regierungen in Europa sind denn besonders antikommunistisch oder antilinks? Polen. Ungarn. Rumänien.
Ist das in Westeuropa anders?
Das System steckt heute in vielen Widersprüchen. Die liberale Demokratie wird wahrscheinlich nicht überleben. Paradoxerweise fehlt ihr heute der Sozialismus. Es gibt keine ausgleichende Kraft mehr. Die Arbeiter*innenbewegung war eine notwendige Voraussetzung für die liberale Demokratie, die einen Kompromiss bot: Im Austausch für inneren Frieden und Stabilität gab die Sozialdemokratie ihre revolutionären Forderungen auf und wurde Teil des bürgerlichen Staates. Heute werden die herrschenden Klassen nicht mehr von innen bedroht. Also können sie machen, was sich nicht einmal die Faschist*innen getraut hätten. Sie senken die Löhne, zerstören die Renten- und Sozialsysteme und zerschlagen das öffentliche Bildungswesen, die Gesundheitsversorgung, den öffentlichen Nahverkehr sowie den sozialen Wohnungsbau.
Aber es gibt im Westen keine so ausgeprägt autoritären Tendenzen wie im Osten.
Im Westen ist der Kapitalismus organisch gewachsen. Er hat das Dorfleben nicht völlig zerstört. Aristokratische und christliche Vorstellungen von Ehre und Nächstenliebe sind erhalten geblieben, wie auch ein gewisser Respekt vor Institutionen. Einige alte moralische Standards haben überdauert. In westlichen Ländern – und England kenne ich am besten – gibt es bis heute Spuren christlich-sozialistischer Denktraditionen. Ich meine nicht Religion im engeren Sinne. Es geht mir um das soziale Erbe des Christentums, insbesondere des protestantischen Christentums. Schauen wir uns Corbyn an. Ich erkenne diesen Typus sofort. Ich komme aus Siebenbürgen, einer protestantischen Region. Corbyn ist Vegetarier, er hat seinen eigenen Garten. Er ist zutiefst puritanisch – Armut und Großzügigkeit sind für ihn Tugenden. Wichtig ist Selbstdisziplin, nicht Genuss. Dazu kommen die Traditionen der Arbeiter*innenbewegung. Interessanterweise gelten Sanders und Corbyn heute als linksextrem. 1910 wären sie innerhalb der Linken als «rechte Abweichung» verschrien gewesen – wenn sie überhaupt als links gegolten hätten! Wahrscheinlich eher als liberal, und zwar nicht einmal im Vergleich zu Lenin oder Luxemburg, sondern zum Idealisten Bebel. Keine Planwirtschaft? Keine Verstaatlichung der Banken? Was wäre das für eine Sozialdemokratie? Damals forderte man, dem Staat die Kontrolle über Banken, Energie und Infrastruktur zu übertragen. Das war die absolute Minimalforderung. Heute ist so etwas im Mainstreamradikalismus undenkbar. Die klassischen Merkmale des Faschismus – totalitäre Schreckensherrschaft und massenhafte Gewalt – sind in Europa weitgehend verschwunden. Aber Faschist*innen wussten schon immer, dass ihre zentrale Aufgabe darin bestand, den europäischen Sozialismus – besonders in Deutschland und Italien – zu verhindern. Letztlich haben sie gewonnen, obwohl sie den Krieg verloren haben.
Heißt das, dass die linken Ideen von Emanzipation und Gleichheit bereits tot sind? Dass der aktuelle Rechtsruck ein Zeichen dafür ist, dass wir schrittweise eine hierarchische Gesellschaft rekonstruieren und zu feudalen Rangordnungen zurückgekehrt sind?
Unsere Gesellschaft altert. Wir brauchen Migrant*innen und heißen sie willkommen. Gleichzeitig halten wir aber am Neoliberalismus fest und wollen den Sozialstaat nicht ausbauen. Aber wohin führt das? Zum Rassismus der Staatsbürger*innen. Die sind nicht von hier. Die haben keinen Anspruch auf Arbeiter*innenrechte, Renten, Sozialleistungen oder Gesundheitsversorgung. Wir grenzen sie aus, und sie ziehen sich in Religiosität und Ethnizität zurück – selbst wenn sie genau davor geflohen sind. Bürgerschaft wird zum Privileg. Eine Gnade des Staates, die den einen zuteilwird, den anderen nicht. Unter Boris Johnson mussten Emigrant*innen ihre beruflichen Qualifikationen nachweisen und einen Kontoauszug vorlegen. Je spezialisierter und wohlhabender die antragstellende Person war, desto leichter kam sie ins Land. Das ist eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert, als das Wahlrecht ans Eigentum gekoppelt war.
Wie lässt sich dieser Rückschritt erklären?
Die gefährliche Unterscheidung zwischen Bürger*innen und Nicht-Bürger*innen ist keine faschistische Erfindung. «We the People», bereits das schloss versklavte Schwarze und indigene Amerikaner*innen aus. Ethnische, regionale, soziale und religiöse Definitionen von «Nation» haben zu Genoziden geführt – in den Kolonien, in Europa und Asien. Dabei war die Idee der universellen Bürgerschaft das Fundament eines Fortschrittsbegriffs, der Liberalen, Sozialdemokrat*innen und alle Erb*innen der Aufklärung gemeinsam war. Als diese Bürgerschaft mit Menschenwürde gleichgesetzt wurde, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf alle Klassen, Berufe, Geschlechter, Ethnien, Religionen und geografischen Regionen ausgeweitet wurde. 1914 kehrte sich dieser Prozess durch die Ausnutzung seines inneren Widerspruchs um: Bürgerschaft meinte einerseits die universelle Bürgerschaft und war andererseits auf den Nationalstaat beschränkt. So ergibt sich der heutige Doppelstandard: Ein Rechtsstaat für die Bevölkerungen der kapitalistischen Zentren einerseits und ein System willkürlicher Verordnungen für alle anderen, die Nicht-Bürger*innen, andererseits. Das Problem ist also nicht, dass Staaten immer autoritärer werden, sondern dass sie Demokratien für kleine, klar abgesteckte Gruppen sind. Und das führt ganz ohne Konzentrationslager klar in Richtung Faschismus, mit Inhaftierungen, Abschiebungen, Lagern, Stacheldraht.
Was ist das dann, wenn nicht Faschismus?
Faschismus war nie konservativ – auch wenn er konterrevolutionär war. Trotz seines romantisch-reaktionären Anstrichs stellte er weder die Erbmonarchie noch die Aristokratie wieder her. In meinen Augen ist das zentrale Merkmal des Faschismus die Feindschaft gegenüber der universellen Bürgerschaft. Und diesen Universalismus verwerfen wir heute ebenso in demokratischen Verhältnissen. Ich habe den Begriff Postfaschismus geprägt, um das Phänomen zu beschreiben, das wir heute fast überall sehen: Der Postfaschismus ist nicht totalitär oder revolutionär. Er beruht nicht auf einer Massenbewegung oder irrationalen Ideologien. Er ist auch nicht antikapitalistisch, nicht einmal zum Schein. Ich behaupte keineswegs, dass die SS wieder ihr Unwesen in Europa treibt! Sondern dass es sein könnte, dass die Ziele der rechtsextremen totalitären Maschine vor dem Zweiten Weltkrieg – nennen wir sie Faschismus – heute durch parlamentarische und demokratische Mittel erreicht werden sollen. Postfaschismus braucht keine SA und keinen Diktator. Er fügt sich bestens in den Rahmen des Neoliberalismus ein. Denn er definiert Bürgerschaft nicht mehr als universelles Menschenrecht, sondern als die Gunst eines souveränen Herrschers.
Wie ist es dazu gekommen?
Dutzende Millionen hungriger Menschen stehen vor den Toren der EU. Doch die reichen Länder erfinden immer neue, immer raffiniertere Hürden. Der Widerwille gegen Immigration wächst. Und so kann immer großzügiger in die ideologische «Schatzkiste» nazistischer und faschistischer Ideologien gegriffen werden.
Können sie nicht einfach «zu Hause bleiben», wie es die extreme Rechte fordert?
Klassenkämpfe – ob gewaltsam oder friedlich – sind in ihren Heimatländern nicht mehr möglich. Niemand beutet sie aus. Es gibt keinen zusätzlichen Profit, keinen Mehrwert, den man ihnen noch abpressen könnte. Sie werden nicht ausgebeutet, sondern wurden aufgegeben. Die Ärmsten haben keine Wahl: Sie müssen diesen unmenschlichen Bedingungen entkommen. Das sogenannte kapitalistische Zentrum reagiert darauf mit hermetisch abgeriegelten Grenzen. Die «humanitären Kriege» dienen nur einem Zweck: zu verhindern, dass Massen von Geflüchteten in die ohnehin überlasteten Sozialsysteme der EU strömen. In der modernen Welt ist eine Staatsbürgerschaft in der Eurozone der einzige verlässliche Schutz. Doch sie bleibt das Privileg einer kleinen Gruppe. Bewegungsfreiheit gilt nur beschränkt: Kapital darf sich frei bewegen, Arbeitskräfte hingegen nicht; vor allem nicht ungelernte Arbeitskräfte aus armen Peripheriestaaten. Wer nicht ins Zentrum gelangt, ist zur Arbeit in lokalen Sweatshops verurteilt. Der Postfaschismus hat es nicht nötig, die Fremden in Deportationszüge zu drängen und zu töten. Den Menschen muss nur der Zugang verwehrt werden – zu den Zügen, die sie in eine schöne neue Welt bringen könnten. Postfaschistische Bewegungen sind, besonders in Europa, Anti-Immigrationsbewegungen. Ihr Ziel ist nicht nur der Schutz von ethnischen und Klassenprivilegien innerhalb des Nationalstaats, sondern der Schutz der Bürgerschaft des reichen Nationalstaats gegen die faktisch universelle Bürgerschaft für alle, unabhängig von Herkunft, Sprache, Religion oder Kultur.
Doch selbst im Zentrum gibt es Gruppen, die systematisch ausgeschlossen werden – wie die Rom*nja.
Ja. Die Rom*nja sind der homo sacer Europas. Ihre Geschichte ist eine einzige Folge von Inhaftierung, Abschiebung und Passportisierung. Viele von ihnen sind noch heute in allen Hinsichten davon betroffen. Sie werden von Polizei und Nachbar*innen verfolgt, also versuchen sie, in den «freien Westen» zu fliehen. Als Reaktion werden Visabeschränkungen über ihre Herkunftsländer verhängt, um ihre Zuwanderung zu stoppen, während man gleichzeitig diese osteuropäischen Länder über Menschenrechte belehrt. So entsteht ein System, das Rassismus unsichtbar macht. In manchen Regionen gibt es öffentliche Schulen, in denen ausschließlich «Farbige» sitzen. Staatlich geförderte Kirchenschulen dürfen Kinder aus der Gegend ablehnen und selbst entscheiden, wen sie aufnehmen. In manchen Gegenden liegt der Anteil der Rom*nja-Kinder bei über 50 Prozent, während die katholischen Schulen in diesen Regionen komplett «weiß» sind. Dieser Rassismus ist nicht offiziell, aber das Ergebnis ist dasselbe. Oder aber die Rom*nja werden einfach ignoriert. Es gibt Dörfer, in denen nur Rom*nja leben. Anstatt diesen Sozialleistungen zu gewähren, werden verpflichtende Arbeitsprogramme für Hungerlöhne geschaffen, die kaum zum Überleben reichen. Die Rom*nja können nicht weg, weil diese «Sozialleistungen» von vielleicht 100 oder 120 Euro im Monat ihre einzige Sicherheit darstellen. Und so sind sie für immer in diesem Zustand gefangen. Das ist nichts anderes als moderner Feudalismus.
Wer gehört sonst noch zu den Ausgestoßenen des Postfaschismus?
Alle, deren Anerkennung eine moralische Anstrengung erfordert und nicht selbstverständlich gewährt wird; alle, deren Inklusion die Anerkennung ihrer Gleichheit voraussetzt. Von Ungarn bis in die USA werden Minderheiten zu Feind*innen erklärt und sollen die Aufhebung ihrer Bürger- und Menschenrechte hinnehmen. Die einst selbstverständliche Verbindung zwischen Bürgerschaft, Gleichheit und Territorium bröckelt.
Was können wir dagegen tun? Den Kommunismus einführen?
Davon träumt heute niemand mehr. Geschweige denn von einem sozialistischen Programm, das mehr will als nur Gleichheit. In zivilisierteren – und heute fast vergessenen – Zeiten gab es Reaktionäre, die den Sozialismus verstanden und sich nicht hauptsächlich an Scheinproblemen abarbeiteten. Bertrand de Jouvenel war einer von ihnen. Ein brillanter Konservativer und charmanter Dandy, der sich später dem Faschismus verschrieb und sein Leben nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Art innerem Exil verbrachte. Heute wird Kommunismus völlig missverstanden. Er bedeutet drei sehr unterschiedliche Dinge. Erstens eine Umverteilung in der Landwirtschaft – eine archaische, vormoderne Idee. In antiken Gesellschaften galt Land nicht als Privateigentum. Es wurde in jeder Generation neu zugeteilt. Doch dieses Prinzip verschwand im 17. Jahrhundert mit der Kommerzialisierung des Bodens. Zweitens die sozialdemokratische Idee, das Einkommen über Steuern und Sozialleistungen zugunsten der Armen umzuverteilen. Das Privateigentum bleibt hiervon unberührt. Drittens ein höheres Ziel als bloße Gerechtigkeit: Kommunismus als Streben nach einer neuen Ordnung der brüderlichen Liebe. Und tatsächlich gibt es, wie Jouvenel schreibt, funktionierende Beispiele für Kommunismus: nämlich in Klöstern. Warum? Weil Mönche nicht nur für eine faire Verteilung von Reichtum oder Vergnügen kämpfen. Ihnen ist beides nicht wichtig. Ihr Ziel ist eine Gemeinschaft unter Brüdern, in der es weder Egoismus noch Privateigentum gibt. Die Umverteilung dient hier nicht der Gerechtigkeit, sondern soll die Selbstsucht schwächen. Sie soll Hass, Neid und Gewalt verhindern, die alle darauf beruhen, dass eine*r mehr hat als andere. Sie sind nicht deshalb eine Gemeinschaft, weil sie eine soziale, sondern eine mystische Gruppe bilden. Der Kommunismus will genau diese Einheit wiederherstellen.
Aber das ist ein Beispiel für eine geschlossene, abgeschottete Gemeinschaft auf religiöser Basis. Was hat das mit tatsächlichen politischen Bewegungen zu tun?
Jouvenel sprach nicht von Religion, sondern von monastischem Kommunismus. Und genau das war die Denkweise der wahren Rebell*innen, die von dem Heroismus und der Grausamkeit der Revolutionär*innen überdeckt wird. Der Gedanke hinter ihrem Kult der Aufopferung, des Martyriums und der Selbstverleugnung.
Bislang bringt das globale Kleinbürgertum aber keine umverteilenden kommunistischen Ordnungen hervor, sondern eben typisch Kleinbürgerliches: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und so weiter.
Und doch bricht Religiosität oft an völlig unerwarteten Stellen auf. Zum Beispiel in der heutigen Umweltbewegung. Hier steht Moral an erster Stelle – nicht Toleranz, nicht Bequemlichkeit, nicht der freie Austausch von Meinungen. Dafür bleibt keine Zeit – wegen der Klimakatastrophe, aber auch aus sozialen und ethischen Gründen. Keine Zeit für Spott oder Verachtung gegenüber der Gegenseite, keine Zeit für Entschuldigungen für Jahrhunderte der Unterdrückung. Es gilt jetzt, perfekt zu sein. Das ist religiöser Atheismus – und der kann nicht tolerant sein. Ist er auch nicht. Von außen betrachtet ist es zum Beispiel schwer zu verstehen, wie sich die Sexualmoral dieser neuen Askese entwickelt. Einerseits ist sie sanft, weil sie egalitär ist und keine Praktiken ausschließt – außer jenen, die demütigend oder sadistisch sind. Andererseits geht es um das Verbot jeder Form von Zwang, sei er wirtschaftlich, kulturell oder psychologisch. Selbst das Ausnutzen sexueller Attraktivität, um Macht oder Einfluss zu gewinnen, ist untersagt. Es ist kein Zufall, dass Greta Thunberg, die Jungfrau des kühlen, nüchternen Worts, zum Symbol der Klimaschutzbewegung wurde. Das ist ein uraltes Bild. «Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Du wirst vor dem Herrn hergehen, dass du seinen Weg bereitest.» So heißt es im Lukasevangelium. Jungfräulichkeit, Reinheit, Unschuld als Quelle von Autorität – das ist zutiefst christlich.
Die Idee der moralisch reinen Kinder überzeugt mich nicht.
Mich auch nicht. Aber das ist das Konzept. Es gibt ja auch Tierrechtsaktivist*innen, die auf die Frage, ob es nicht ebenso wichtig sei, die Rechte von Menschen zu schützen, antworten, dass sie Menschen nicht besonders mögen. Sie sagen offen und immer wieder, dass Tiere besser seien. Das zieht sich durch die ganze Mittelschicht. Viele kümmern sich um das Leid von Hunden, Katzen und Wildtieren. Aber das Leid der Menschen weit weg im Süden oder Osten berührt sie hingegen nicht. Und auch das ist zutiefst religiös.
Vielleicht ist das alles doch eher Psychologie? Wir stehen an der Spitze der globalen Produktionskette und beuten alle aus – also wollen wir das Leid verdrängen und uns distanzieren.
Da bin ich mir nicht sicher. Nehmen wir die neuen Feminist*innen. Sie sehen sexuelle Lust skeptisch – zumindest in einem traditionellen Verständnis. Was passiert, wenn man Lust, ökonomischen Gewinn und materielle Absicherung ausklammert und sagt: Das interessiert mich nicht? Dann entsteht eine völlig neue Welt. Vielleicht eine schreckliche, vielleicht eine wunderbare. Aber das Bewusstsein dieser rebellischen Jugend hat sich unübersehbar verändert. Schauen wir nach Hongkong – dieser Opfergeist. Dasselbe bei den Gelbwesten. Menschen werden verletzt und sterben. Oder Extinction Rebellion, deren Happenings oft darin bestehen, sich tot zu stellen. Auch das ist sehr revolutionär. Diese Menschen sind Held*innen. Sie stellen sich nicht dem Tod, weil sie wissen, dass sie sowieso sterben werden. Sie sind nicht zynisch. Im Gegenteil. Sie sind fanatisch. Was beweist laut Katechismus, dass die Kirche die Wahrheit vertritt? Offenbarung, Tradition und Martyrium. Es sind die Märtyrer*innen, die den Glauben erhalten. Wie du weißt, stamme ich aus einer alten kommunistischen Familie. Ich kenne mich mit Märtyrertum und Opfern aus. Das waren zentrale Erfahrungen der revolutionären Linken, und zugleich sehr christliche. Einmal habe ich meinen Vater gefragt: Wie kannst du dich Kommunist nennen, wenn du doch das Regime hasst? Du beschwerst dich ständig – dies ist Mist, jenes ist Mist. Warum? Er zeigte mir ein Fotoalbum seiner ermordeten Kamerad*innen aus dem Jahr 1944 und sagte: Weil ich es ihnen nicht erklären könnte.
Dann schauen wir uns die Kehrseite der Medaille an. Einerseits Extinction Rebellion, Hongkong, Chile. Andererseits ist das Märtyrertum aber auch für Neonazi-Terrorist*innen eine zentrale Motivation. Sie sind ebenfalls überzeugt, die Welt zu retten und eine neue, bessere aufzubauen.
Aber viel weniger. Kommunismus ist utopisch. Faschismus nicht. Biologie ist keine Utopie. Abschottung ist keine Utopie. Öffnung – das wäre eine Utopie. Sie nehmen an, dass sie heldenhaft seien. Sie fantasieren vom Krieg. Natürlich haben sie eine Art Todeskult, aber nicht den der Märtyrer*innen. Ihr Kult ist der des Mutes, des Kampfgeists, des Kshatriya. Risiko und Kampf. Es ist eine feudale Tradition, eine Adelslogik. Eine Tradition der Raubritter, die tapfer ihr Leben für den Sieg aufs Spiel setzen. Beim Märtyrertum geht es nicht um den Sieg. Es geht darum, vollkommen und heilig zu sein. Was war die religiöse Idee im Kommunismus, die am offensichtlichsten auftrat? Die Selbstaufopferung, um die Zukunft vollkommen zu machen. Aber das ist kein Ideal für Krieger*innen. Krieger*innen müssen siegen. Das war schon immer so, von Shakespeare bis Conan.
Zurück zum Thema: Die Linke schwächt sich selbst. Sie wird Teil des liberalen Lagers, zu einem schlechten Gewissen, das nur noch wiederholt, dass wir besser sein sollten. Ich würde es keinen politischen Standpunkt mehr nennen, sondern eine religiöse, moralische Haltung.
So eine Situation gab es schon einmal bei der Narodnaja Wolja im Russland des 19. Jahrhunderts. Die Versuchung, sich als moralische Instanz zu inszenieren, begleitet die Linke schon immer. Das deutsche Wort dafür gab es schon damals: Gutmensch. Man will sich als etwas Besseres fühlen als diese abstoßende Welt. Ich muss zugeben: Wo wäre ich, wenn es nicht diese kleinen Enklaven gäbe – Bars, Clubs, Buchläden? Ich brauche das Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, die vielleicht manchmal unzuverlässig sind, aber mit Sicherheit keine Faschist*innen.
Aber das ist doch wie ein Zoo oder ein Reservat. Das würde ich nicht gerade einen Weg zum Erfolg nennen.
Es ist eine Schwäche, und ja, wir sind schwach.
Am Ende sehe ich in Europa heute nur zwei politische Gruppen, die sich kompromisslos mit dem System anlegen: Anarchist*innen und Faschist*innen. Alle anderen sind, mit mehr oder weniger höflichen Umgangsformen, Teil des Systems.
Dieses System duldet keinen Nonkonformismus. Und ja, in den 1920ern saßen auch Nazis im Gefängnis, sie waren auch in einem gewissen Sinn rebellisch. Solange sie rebellierten, wurden sie weggesperrt. Als sie sich mit der Realität arrangierten, warfen sie wiederum andere ins Gefängnis. Anarchist*innen hingegen bleiben immer Rebell*innen. Sonst wären sie keine Anarchist*innen mehr. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Im Augenblick stehen beide Seiten noch außerhalb des Systems. Die AfD zum Beispiel sagt den Leuten schon lange, dass sie sich von Extremist*innen und politischen Spinnern distanziere. Dabei tut sie es nicht. Sie weiß genau, dass sie die Radikalen braucht, um weiter zu wachsen. Selbst wenn sie kurzfristig Stimmen verliert, verliert sie nicht viel und wächst trotzdem stetig weiter. Und in ihren Reihen hat sie Leute, die für ihren Aktivismus verfolgt wurden, die im Gefängnis gesessen haben, die von der Polizei verprügelt wurden. Auch sie haben eine Geschichte des Kampfs. Heute sitzen diese Menschen in den Parlamenten. Aufgrund ihrer Erfahrung wissen sie, wie man kämpft. Die Abgrenzung von Radikalen ist einer der Gründe, warum die Sozialdemokratie zwischen den Kriegen eine so widersprüchliche Rolle gespielt hat – vor allem in Deutschland. Das lag daran, dass die Kommunist*innen die Sozialdemokrat*innen von ihren kämpfenden Strömungen abgetrennt haben, die sie wiederum übernommen haben. So mussten die Sozialdemokrat*innen gegen ihren Willen nach rechts rücken. Sie hatten ihre Wurzeln verloren – vor allem die Arbeitslosen. Bei der letzten freien Wahl in Deutschland wurde die KPD zur Partei dieser Bevölkerungsgruppe: Ihre Wähler*innen waren im Schnitt 20 Jahre alt – und zu 70 Prozent arbeitslos. Natürlich war diese Partei radikal. Wäre sie es nicht gewesen, hätte sie diese Stimmen nicht bekommen. Diese jungen Leute waren zudem extrem kämpferisch. Sie lieferten sich Straßenschlachten mit den Nazis. Die Rotfront war am Anfang ein Zusammenschluss ehemaliger Mitglieder des Roten Frontkämpferbunds. Junge Menschen schlossen sich an, um auf der Straße zu kämpfen und Polizist*innen zu töten. Die Sozialdemokrat*innen konnten sich das nicht leisten. Sie wollten nicht die Stimmen der Arbeiter*innen, der Hausfrauen und der Rentner*innen verlieren. Also mussten sie sich scharf davon abgrenzen. Das war nicht allein eine Folge ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Sowjetunion. Es ging auch um Wahltaktik. Und um zwei Gruppen, die sich gegenseitig hassten. Dieser Konflikt tritt in der Literatur dieser Zeit sehr deutlich hervor. Die Kommunist*innen waren verzweifelt, jung, hungrig. Für sie gab es keinen Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Bourgeoisie. Denn das waren für sie alles satte, angepasste Typen in Anzug und Hut.
Und am Ende haben beide verloren – die Sozialdemokrat*innen und die Kommunist*innen.
Ja, viele ihrer Wähler*innen stimmten 1933 für die Nazis. Einige traten der NSDAP bei. Aber das heißt nicht, dass sie vergessen hatten, wer sie waren. Thüringen, Sachsen und später Ostdeutschland – das waren allesamt industriell geprägte, kommunistische Regionen. 1945 sagten dieselben Menschen, die zwölf Jahre lang geschwiegen hatten, den Rechten plötzlich: «Fickt euch. Fickt euch – das ist jetzt unser Land.» Das war die späte Rache der besiegten ostdeutschen Arbeiter*innenklasse, der Leute, die in der Krise aus den großen Fabriken geflogen waren und die deshalb früher Kommunist*innen oder Sozialdemokrat*innen gewesen waren. Das Dritte Reich hatte nur zwölf Jahre lang Bestand. In Ungarn stand die Kommunistische Partei 1945 völlig unter Schock. Plötzlich tauchten die ehemaligen Aktivist*innen der Ungarischen Räterepublik von 1919 wieder auf. Nach 23 Jahren! Sie lebten noch. Die Partei plante ein Mehrparteiensystem, eine Volksdemokratie, doch dann kamen diese Leute und sagten: «Fickt euch.» So verhielt es sich in vielen Teilen des Landes. Sie gründeten kleine Räterepubliken, die schließlich von der kommunistischen Miliz zerschlagen wurden. Sie kamen ins Gefängnis, weil die Parteilinie Volksfront war – Koalitionsregierung. Dasselbe in Polen: Wer eine echte Basisdemokratie wollte, landete im Knast.
Und was ist mit einer Synthese? Ist linker Nationalismus eventuell die einzige Linke, die im Hier und Jetzt möglich ist?
Ich habe eine Theorie. Sie ist vielleicht ein bisschen dumm. Aber ich glaube, sie stimmt. Wir haben nur noch dort eine echte Linke, wo der Antifaschismus zu einem Teil der nationalen Identität geworden ist. In Griechenland. In Italien. In einigen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Dort kann niemand sagen, dass Titos Partisan*innen einfach nur Verräter*innen und Schweine waren. Selbst in Kroatien nicht. Oder Spanien und Portugal. Dort war Antifaschismus ebenfalls eine nationale Widerstandsbewegung. Selbst in Frankreich. Wir müssen uns also das Modell von Wallerstein genauer ansehen. Denn in der EU-Peripherie läuft es immer gleich ab. In Polen waren es Piłsudski und faschistoide Oberste; nach dem Zweiten Weltkrieg Mieczysław Moczar und seine Antisemit*innen. Selbst Jaruzelski stand vor dem ewigen Dilemma: nationaler Sozialismus oder Bündnis mit den Liberalen? Dasselbe mit Andrzej Lepper. Immer wieder dieselbe Idee: Lasst uns Patriot*innen sein, unsere Nation ist groß, Religion ist okay, vielleicht sind mir die Priester*innen nicht besonders sympathisch – doch es braucht eine Form von organisierter Spiritualität, und vor allem Umverteilung, wenn auch «in Maßen», damit sie die Produktivität der Wirtschaft nicht zerstört.
Wäre das also einen Versuch wert?
Die Rechte wirft der Linken heute vor, den Kontakt zu den Massen verloren zu haben. Zu jenen Massen, die sie selbst früher so verachtet hat. Wenn Linke heute sagen, dass wir nicht elitär sein dürfen, dann meinen sie oft, dass wir jetzt fremdenfeindlich und rassistisch sein müssen. Genau wie die extreme Rechte, weil sie annehmen, dass das der wirklichen Meinung der arbeitenden Bevölkerung entspricht. Diese Strategie ist erstaunlich weit verbreitet, obwohl sie nicht sehr effektiv zu sein scheint. Sahra Wagenknecht hat es in Deutschland versucht: «Schluss mit Einwanderung, Schluss mit Flüchtlingen!» Aber als kommunistische Anführerin mit romantischem Pathos kannst du das nicht bringen. Dazu musst du schweigen. Du musst nicht sofort «Willkommen!» rufen. Aber du darfst auch nicht dasselbe sagen wie die Faschist*innen. Das ist Selbstmord. Wagenknecht ist eine begabte Politikerin, aber sie ist einen Schritt zu weit gegangen.
Was ist die Folge? Erwartet uns ein Faschismus à la Bolsonaro? Abholzung des Amazonas, ultraliberaler Freihandel, ein starker Staat, eine mächtige Armee und Polizeigewalt?
Mussolini hat den Haushalt saniert und die Märkte dereguliert. Können Faschist*innen ultrakapitalistisch sein? Natürlich. Das würden Volksfaschist*innen nie sein, faschistische Juntas hingegen waren es oft – im Geiste Francos und Salazars. Wer beides gleichzeitig will – Populismus und Ultrakapitalismus – wird verlieren, wie Salvini. Beides zusammen, das ist unvereinbar. Bolsonaro hält noch an einem elitären Konzept fest. Er hat das Militär hinter sich sowie einen Teil der Polizei. Und genau das will die AfD in Deutschland. Die deutsche Polizei ist voller Nazis. Genau wie die griechische. Wir sprechen hier also von einem der reichsten Länder Europas – und einem der ärmsten. Wir sitzen gerade im sonnigen Warschau. Es ist ruhig, schön, friedlich. Genau so war es auch im Juni 1914. Es war auch sehr friedlich.
Wie sollte die europäische Linke also aussehen?
Der Sozialismus ist nicht gescheitert, weil er nie wirklich ausprobiert wurde. Wir müssen es noch einmal versuchen.
Interview von Przemysław Witkowski aus dem Buch Faszyzm, który nadchodzi (Der kommende Faschismus), das von dem Warschauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert wurde. Übersetzung von André Hansen und Claire Schmartz für Gegensatz Translation Collective.