Nachricht | Jünke (Hrsg.): Viktor Agartz oder: Ein Leben für und wider die Wirtschaftsdemokratie

Texte des «Trotzki der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung»

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Viktor Agartz (18971964) ist ein heutzutage nahezu unbekannter Akteur der Gewerkschafts- und bundesrepublikanischen Zeitgeschichte. Der «sozialdemokratisch-sozialistische Wirtschaftspolitiker und führende Gewerkschaftsintellektuelle», (S. 9), habe jedoch die «Nachkriegszeit entscheidend mitgeprägt» (ebd.), so Herausgeber Jünke. Agartztauche, und das sei kein Zufall, weder als Person noch mit seinen Texten in vielen Publikationen und Dokumenteneditionen der Gewerkschaftsgeschichtsschreibung auf, hinzu komme, dass die Überlieferung seiner Texte und die Literaturlage allgemein schwierig seien. Jünke, der seit mehreren Jahren zu Agartz forscht, hat eine knapp 60 Seiten umfassende biografische Einleitung verfasst und anschließend acht wichtige Texte von Agartz aus den Jahren 1945 bis1959 , in «zumeist gekürzter Form» (S. 72) neu publiziert.

Agartz wächst in einer sozialdemokratischen Familie in Remscheid auf, studiert in Marburg, wo er unter anderem Gustav Heinemann und Wilhelm Röpke trifft, und Köln. Er arbeitet anschließend ab 1925 für eine Konsumgenossenschaft, und engagiert sich, wie auch im Studium, im linkssozialdemokratischen Milieu. Er ist wirtschaftlich etabliert, heiratet eine Kinderärztin, fährt jedes Jahr in die Schweiz in Urlaub, bleibt aber «weiterhin ein organischer Teil der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Gegen- und Alternativkultur der Weimarer Zeit» (S. 18). Beruflich kann er bis 1938 «ungestört» arbeiten, dann schult er zum Wirtschaftsprüfer um, und arbeitet bis Kriegsende bei einer «unverdächtigen» Treuhandgesellschaft in Köln.

1946 wird er sozusagen der erste sozialdemokratische Wirtschaftsminister auf Landesebene, da er als bekannter «Wirtschaftsfachmann», quasi als «sozialistischer Manager», zum Leiter des in Minden/Weser ansässigen und für die britische Zone zuständigen Zentralamtes für Wirtschaft ernannt wird. Auf dem ersten Parteitag der SPD im Mai 1946 hält er eine vielbeachtete Rede, in der er, über die Vorstellungen zur Wirtschaftsdemokratie der Sozialdemokratie der Weimarer Zeit hinausgehend, eine Enteignung von Schlüsselindustrien und Banken, die Schaffung einer Gemeinwirtschaft und die Einführung von Elementen der Planung und Lenkung fordert. Hier und auch im Zeitraum danach wird deutlich, dass Agartz nicht nur eine «Verstaatlichung», sondern, mittels Räten auf allen gesellschaftlichen Ebenen, eine, so würde es heute genannt werden, Vergesellschaftung will. Er selbst spricht und schreibt stets von «Wirtschaftsneuordnung» oder einer «sozialistischen Planwirtschaft im demokratischen Rechtsstaat», und sehr selten von Wirtschaftsdemokratie. Agartz will auch später keine Mitbestimmung, die letztlich nur eine (korporative) Mitwirkung sei, und die auf der Vorstellung einer Partnerschaft von Arbeit und Kapital aufsetze.

Agartz beteiligt sich 1946/47 an der Gründung des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI) des DGB, dessen Leiter er 1949 wird und wirkt in diesem Jahr am ersten Programm des DGB mit. Vielen innerhalb der Gewerkschaften, gerade auch aus dem katholischen Milieu, sind seine Positionen zu radikal, und der Gegenwind wird stärker. Die Kapitalseite hat ihn eh im Visier; und die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes und des Personalvertretungsgesetzes 1952 ist eine Niederlage für Agartz. Die Gewerkschaften agieren fortan erfolgreich mittels der vielzitierten «dynamisch-expansiven Lohnpolitik». Ab Ende der 1950er Jahre gab es «zwar noch starke Gewerkschaften, aber keine sozialistische Partei und auch keine alternative Gegenkultur einer klassenbewussten, kämpferischen Arbeiterbewegung mehr» (S. 65).

Agartz tritt 1955 von der Leitung des WWI zurück, gibt dann ab Frühjahr 1956 bis 1961 die neugegründete linkssozialistische Zeitschrift Wiso. Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Bestand laut ZDB) heraus. Als sich bereits früh herausstellt, dass WISO auch aus der DDR finanziert wird, wird Agartz 1957 wegen Landesverrats angeklagt und vor dem Bundesgerichtshof freigesprochen. Die SPD schließt den jahrelangen Gegenspieler von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard1 im Dezember 1958 aus (Faksimilie samt Unterschrift von Herbert Wehner, S. 69), die Gewerkschaft 1960. Die Zangenbewegung von KPD-Verbot 1956, Godesberger Programm 1959 und noch mehr die boomende Wirtschaft der Bundesrepublik marginalisierten die Positionen, für die Agartz kämpfte. Er stirbt Ende 1964, nachdem er sich schon im Frühjahr 1961, als auch die WISO ihr Erscheinen einstellen muss, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Eine biografische Zeitleiste, ein kleines Personenglossar und sehr hilfreiche Literaturhinweise schließen den Band ab.

Christoph Jünke hat dem bis 1955 sehr wichtigen Protagonisten aus den Reihen des Linkssozialismus dem Vergessen entrissen, seinem Buch ist schon aus historischem Interesse Verbreitung zu wünschen2. Ob und inwiefern es hilfreich ist, heutige gesellschaftliche Konflikte oder programmatische Debatten besser zu verstehen, steht auf einem anderen Blatt. Seine Lektüre zeigt jedoch, ob gewollt oder ungewollt, welche Illusionen heutigen Debatten um Wirtschaftsdemokratie teilweise innewohnen.

Christoph Jünke (Hrsg.): Viktor Agartz oder: Ein Leben für und wider die Wirtschaftsdemokratie, Karl Dietz Verlag, Berlin 2024, 222 Seiten, 14 Euro

1 Erhard ist in der Leitung des Zentralamtes für Wirtschaft der Nachfolger von Agartz. Dieses war Ende 1947 nach Frankfurt/Main verlegt worden.

2 Eine erste Rehabilitation von Agartz fand 13. Dezember 2007 statt, als aus Anlass seines 110. Geburtstages die Böckler-Stiftung zusammen mit der RLS NRW eine Tagung veranstaltete, die in Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten/Peeter Raane (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik. Zur Aktualität von Viktor Agartz, Hamburg 2008, dokumentiert ist. Das vergriffene Buch ist hierbeim VSA-Verlag Open Access erhältlich.