
Am 12.04.1875 wurde Hugo Daniel Sinzheimer in Worms geboren. Anlässlich seines 150. Geburtstages sollen sein Leben sowie seine Leistungen und seine Bedeutung heute gewürdigt werden. Hugo Sinzheimers Leben war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Und gleichzeitig auch symptomatisch für das eines linken jüdischen Intellektuellen seiner Zeit.
Biographischer Überblick
Geboren wurde er als jüngstes von fünf Kindern des wohlhabenden Kleiderfabrikanten Leopold Sinzheimer und seiner Frau Franziska Mayer. Seine Studien der Rechtswissenschaften und der Nationalökonomie führten ihnen nach München, Berlin, Freiburg, Marburg und Halle. Vor allem die Vorlesungen des Nationalökonomen und Sozialreformers Lujo Brentano in München dürften sein späteres Denken und Wirken geprägt haben. 1902 wurde er in Heidelberg promoviert.
1903 ließ er sich als Rechtsanwalt in Frankfurt a.M. nieder. Eine Universitätskarriere blieb ihm als Jude im Kaiserreich verwehrt. Und obwohl er seine Kanzlei im bürgerlichen Westend eröffnete, und dort auch bis 1933 bleiben sollte, zeigte sich schnell, dass er ohnehin andere, rechtspolitische Ziele verfolgte. Von Beginn an vertrat er vor allem Arbeiter:innen und Gewerkschaften. Zwar ging es dabei oft um arbeitsrechtliche Streitigkeiten. Aufgrund der staatlichen Repression war er aber zumeist als Strafverteidiger mit politischen Mandaten betraut.
Anfang 1917 trat Sinzheimer in die SPD ein und wurde kurze Zeit später in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt. Noch während des Ersten Weltkrieges machte er sich als begnadeter Redner auf großen Antikriegskundgebungen einen Namen. Im November 1918 ernannte ihn der Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrat zum Polizeipräsidenten. Ein Amt, das er mit großer Besonnenheit bis April 1919 ausübte.
Ab Januar 1919 saß er nicht nur für die SPD in der Weimarer Nationalversammlung. Als Mitglied des Verfassungsausschusses wirkte er auch bei der Formulierung bedeutsamer Teile der Weimarer Reichsverfassung mit. Vor allem aufgrund massiver antisemitischer Hetzkampagnen blieb Sinzheimer nicht in Berlin, sondern ging zurück nach Frankfurt.
Dort wurde er 1920 Honorarprofessor für Arbeitsrecht an der Goethe-Universität – die erste Professur dieser Art überhaupt in Deutschland. Geld bekam er dafür nicht. Seine wissenschaftlichen Mitarbeiter beschäftigte er über seine Kanzlei. Die maßgeblich von ihm 1921 betriebene Gründung der Akademie der Arbeit war verbunden mit der Rettung der akut von der Schließung bedrohten Frankfurter Stiftungsuniversität. Ziel der Gründung der Akademie der Arbeit war es, gewerkschaftlich und politisch aktiven Arbeiter:innen den Zugang zu Hochschulbildung zu ermöglichen.
Sein Wirken in den folgenden Jahren war vielfältig. Er arbeitete weiterhin als Rechtsanwalt, auch um unabhängig zu bleiben, hielt Vorlesungen, war Mitherausgeber der bedeutenden Zeitschrift Die Justiz und als Schlichter in Tarifkonflikten tätig.
Unmittelbar nach der Machtübernahme der NSDAP wurde Sinzheimer verhaftet und floh nach seiner Freilassung im April 1933 in die Niederlande. Dort wurde er Professor für Rechtssoziologie, zunächst in Amsterdam und später auch in Leiden. Dort setzte er sein wissenschaftliches Schaffen fort. Nach zwei erneuten Verhaftungen in Folge der deutschen Besetzung der Niederlande im Mai 1940 und im August 1942, aus welchen er nur mit Glück entkam, wurden er und seine Frau Paula bis Kriegsende in wechselnden Quartieren versteckt. Die Folgen von Flucht und Unterernährung sollte er jedoch nicht überleben. Am 16. September 1945 starb er in Bloemendaal, wo er auch begraben liegt.
Wissenschaftliches Werk
Hugo Sinzheimer hat eine Fülle an Schriften und Reden hinterlassen. Nicht ohne Grund ist er immer wieder als Vater, Pionier oder Architekt des deutschen Arbeitsrechts bezeichnet worden. Spuren seines Werkes finden sich aber weltweit, in vielen europäischen Ländern, aber auch in Japan und Argentinien.
Nach seinem Verständnis eines «sozialen Rechts» hatte stets der Mensch und seine Lebenswirklichkeit in dessen Mittelpunkt zu stehen. Die Autonomie der Tarifparteien steht dabei für die rechtsschöpferische Kraft der Gesellschaft. Die Tarifautonomie, also das Verhandeln, Erstreiten und Abschließen von Tarifverträgen, kann nur unabhängig von staatlicher Einflussnahme funktionieren. Dahinter standen freilich Arbeiter:innen und ihre Gewerkschaften, die sich während der Industrialisierung und des Kaiserreiches gegen staatliche Repressionen zur Wehr gesetzt und so ihre Rechte erkämpft hatten.
Sinzheimers Ideen von der Autonomie im Recht erlangten auch über das Arbeitsrecht hinaus Bedeutung und sind dermaßen in das Bewusstsein der europäischen Rechtswissenschaften verankert, dass man sich vergegenwärtigen muss, wie revolutionär sie vor über einhundert Jahren waren. Denn sie standen konträr zu einem obrigkeitstreuen Verständnis des Rechts, nach welchem dieses vorrangig der Durchsetzung staatlicher Autorität dienen sollte.
Zur kollektiven rechtlichen Absicherung der erkämpften Arbeitsrechte führte die einfache wie geniale Idee Sinzheimers, dass der Tarifvertrag normativ wirken muss. Er also über dem Arbeitsvertrag steht, unmittelbar und zwingend auf das Arbeitsverhältnis einwirkt und dieses damit seinem kollektiven Schutz unterwirft. Die rechtsschöpferische Kraft von gesellschaftlichen Kräften stellt in dieser Dimension bis heute ein Novum dar. Als seine wichtigsten Werke hierzu sind zu nennen der «Kooperative Arbeitsnormenvertrag» von 1907/08 sowie das «Arbeitstarifgesetz» von 1916. Mit dieser Idee trug er schließlich zur verfassungsrechtlichen Verankerung von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie bei.
Zentral für sein wissenschaftliches Wirken war zudem, dass er das sich erst im Entstehen befindliche Arbeitsrecht stets aus der Praxis ableitete. Er war denn auch ein großer Rechtssoziologe – eine Disziplin, die er vor allem in seinem Exil in den Niederlanden vertiefte. Seine Methodik ist bis heute prägend für das Arbeitsrecht. Es muss sich stets weiterentwickeln und bedarf eines interdisziplinären Blickes auf die Realität der Strukturen und Funktionsweisen der Arbeitswelt.
«Es genügt dem Menschen von heute nicht mehr, dass er zum Parlament wählen kann und in den Versammlungen Kritik übt. Er will alle Kreise seines Lebens, die sein persönliches Geschick bestimmen, unmittelbar beeinflussen. … Daraus ergibt sich, daß die politische Demokratie notwendig einer Ergänzung bedarf.» (Das Rätesystem 1919)
Was bleibt
Vergegenwärtigt man sich die Rolle, welche Hugo Sinzheimer bei der Rettung der Goethe-Universität spielte, ist deren Erinnerungskultur an ihn beschämend. Auch seine Bedeutung in der Stadtgeschichte Frankfurts, aber auch für die Verfassungs- und Demokratiegeschichte Deutschlands wird bis heute nicht angemessen gewürdigt. Kaum auszumalen, welche Rolle er beim demokratischen und konstitutionellen Wiederaufbau nach 1945 hätte spielen können, wenn er das Leben im Untergrund überlebt hätte.
Trotzdem finden sich seine Spuren bis ins Grundgesetz. Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG gehören dazu, aber auch der berühmte Grundsatz, dass «Eigentum verpflichtet», in Art. 14 Abs. 2 GG. Beeindruckend ist auch die Liste seiner Schüler. Um nur die bekanntesten zu nennen: Ernst Fraenkel, Franz Neumann, Hans Morgenthau, Otto Kahn-Freund, Carlo Schmid, Wolfgang Abendroth, Adolph Kummernuss. Sie alle lernten und profitierten von ihm und blieben ihm zum Teil bis an sein Lebensende verbunden.
Heute kümmern sich vor allem die (inzwischen umbenannte) Europäische Akademie der Arbeit sowie das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung (HSI), beide ansässig in Frankfurt a.M., um sein Andenken und sein Nachwirken in der Arbeitswelt. Ganz in der Tradition Sinzheimers bietet das HSI Raum für nationale wie internationale arbeits- und sozialrechtliche Forschung und leistet damit einen aktiven Beitrag zu den rechtspolitischen Debatten rund um Fragen des Arbeits- und Sozialrechts.
Das HSI verwaltet darüber hinaus zusammen mit der IG Metall einen bedeutenden Teil des Nachlasses von Hugo Sinzheimer. Dieser wurde dem Archiv der sozialen Demokratie in Bonn überlassen, dort digitalisiert und wird in Kürze online frei zugänglich sein. Das HSI arbeitet zudem an einer Digitalisierung und Open Access Veröffentlichung der gesammelten Aufsätze und Reden Sinzheimers.
«Die Aufgabe des Rechts, die hier allein in Betracht gezogen werden soll, besteht darin, dem Menschen ein menschliches Dasein zu ermöglichen.» (Das Problem des Menschen im Recht, 1933)
Sein wohl bedeutendster Schüler, der 1933 ins Vereinigte Königreich emigrierte und dort zu Weltruhm gelangte Jurist und Widerstandskämpfer Otto Kahn-Freund (1900-1979) sagte über sein politisches und berufliches Vorbild anlässlich dessen 100. Geburtstages: «Das Freiheitsmotiv beherrscht Sinzheimers gesamtes Werk. […] Keiner konnte sich der Gewalt seines Wortes entziehen, und ein jeder war erwärmt von dem Feuer seines Willens zu sozialer Gerechtigkeit und zur Befreiung des Menschen.»
Zum Weiterlesen
Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung
Hugo Sinzheimer: Arbeitsrecht und Rechtssoziologie – Gesammelte Aufsätze und Reden in zwei Bänden, Frankfurt a.M. 1976.
Abraham De Wolf: Hugo Sinzheimer und das jüdische Gesetzesdenken im deutschen Arbeitsrecht, Berlin 2015.
Otto Ernst Kempen: Hugo Sinzheimer. Architekt des kollektiven Arbeitsrechts und Verfassungspolitiker, Frankfurt a.M. 2017.