
Die Zeitenwende ist ein Angriff auf die Interessen der abhängig Beschäftigten, sie stellt die Gewerkschaften vor große Herausforderungen. Die Industriegewerkschaften sehen sich einem Prozess der umgekehrten Konversion gegenüber. Zivile Produktion wird auf militärische Produktion umgestellt, und klassische friedenspolitische Positionen drohen dabei unter die Räder zu geraten. Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes müssen den Verteilungskampf unter den Bedingungen zugespitzter Haushaltlagen führen und sind mit einer zunehmenden Unterordnung der Daseinsvorsorge unter ein militärisches Nützlichkeitsprinzip konfrontiert. Gleichzeitig zeigt der öffentliche Diskurs über Arbeitszeitflexibilisierung, Karenztage und Bürgergeld, die militärpolitische Zeitenwende zieht enorme sozialpolitische Auswirkungen nach sich.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Mitglied im Parteivorstand der Linken.
Dabei wird die Gesellschaft autoritär umgebaut: das Bayrische Bundeswehrförderungsgesetz, die Kooperation von Bundeswehr und Arbeitsagentur, die Forcierung der zivilmilitärischen Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich oder das beschlossene Artikelgesetz zur erleichterten Anwendung der Notstandsgesetzgebung – all das verändert die Republik nachhaltig. Der Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes steht also nicht nur für Rüstungsausgaben in Rekordhöhe, sondern auch für die ebenso radikale wie brutale Unterordnung unter das «Primat der Sicherheitspolitik». Ohne Pathos kann festgehalten werden: Die Gewerkschaften stehen vor epochalen Auseinandersetzungen um Sozialstaat und Grundrechte. Gewerkschaftliche Strategiebildung in der Zeitenwende muss daher die Analyse dieser Entwicklungen zum Ausgangspunkt haben.
Gewerkschaftspolitik in der Zeitenwende
Die Forderung von Boris Pistorius, Deutschland wieder kriegstüchtig zu machen, war kein rhetorischer Fauxpas. In der politischen Klasse herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, Deutschland als geopolitischen Akteur aufzustellen. So wies Olaf Scholz in seiner Rede an der Prager Karls-Universität im August 2022 darauf hin, dass die USA sich auf den Konflikt mit China konzentrieren, weshalb Europa als eigenständiger politischer Akteur auftreten und Deutschland dabei eine Führungsrolle einnehmen müsse. Und auch der Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil sagte in einer Grundsatzrede bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass man nach 80 Jahren der Zurückhaltung wieder zu neuer Führungsstärke gelangen müsse.
Der neue Kurs auf Militarisierung und Kriegstüchtigkeit ist also kein Zufall. Dahinter stehen sich verändernde Weltbeziehungen. Der globale Süden rückt zusammen, verstärkt seine wirtschaftliche Zusammenarbeit, während Industriestaaten wie die USA oder Deutschland gegen die Deindustrialisierung ankämpfen. Der Treiber für die Militarisierung in Deutschland ist die Angst der deutschen Führungseliten vor dem ökonomischen Abstieg - der Verlust an ökonomischer Stärke soll durch militärische Stärke kompensiert werden.
Die umgekehrte Konversion
Dieser Strategie folgend stellte bereits die Scholz-Regierung die Expansion der heimischen Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt. Mit der Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie ebnete sie einer staatlichen Rüstungs-Planwirtschaft den Weg. Sie skizziert darin industriepolitische Leitplanken, um die deutschen Rüstungskonzerne bei der Umstellung auf Kriegsproduktion zu unterstützen. Dazu sollen die erforderlichen politischen, wirtschaftlichen, regulatorischen, aber auch gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf nationaler und europäischer Ebene geschaffen werden. Die Rüstungsindustrie ist begeistert. Schon seit längerem trommelt nicht nur Rheinmetall-Chef Armin Pappberger dafür, 250 bis 300 Milliarden Euro auf den Weg zu bringen, damit die Rüstungsbranche ausreichend Planungssicherheit habe.
Die Industriegewerkschaften werden durch diese Entwicklung vor große Herausforderungen gestellt: Denn während der Ukrainekrieg die Krise der deutschen Leitindustrien verstärkte, stabilisieren sich die Wertschöpfungsketten der Rüstungsindustrie. Dies geht nicht zuletzt auch mit einer wachsenden Zahl von Arbeitsplätzen in diesem Bereich einher. Inzwischen spricht die Branche von der größten Einstellungswelle seit Ende des Kalten Krieges und verweist auf knapp 400.000 Beschäftigte. Doch wer genau hinsieht, stellt fest: Umfang und Tempo des Hochfahrens von Rüstungskapazitäten ebenso wie eine auf zehn Jahre und länger angelegte Beschaffungspolitik haben den Charakter konkreter Kriegsvorbereitungen. Manufakturbetriebe wandeln sich zu Großserienherstellern. Allein Rheinmetall hat seine Granatenkapazität seit Beginn des Ukraine-Krieges verzehnfacht. Nicht nur die klassischen friedenspolitischen Positionen der Gewerkschaften, auch alle Anstrengungen für eine sozial-ökologische Transformation drohen unter die Räder zu geraten, wenn grüner Stahl nicht in Bussen, Bahnen und Schienen verbaut wird, sondern in Kampfpanzern, die anschließend als ausgebrannter Panzerschrott auf blutgetränkten Schlachtfeldern herumstehen. Die notwendige Debatte über den ökologischen Industrieumbau darf daher die Frage, was produziert wird, nicht von der nach dem gesellschaftlichen Nutzen trennen.
Militarisierung der Daseinsvorsorge
Von der forcierten Militarisierung geht auch eine Bedrohung für die öffentliche Daseinsvorsorge aus. So steht im neuen Postgesetz, dass im Spannungs- oder Kriegsfall die Postzustellung kriegswichtigen Personen oder Institutionen vorbehalten ist. Die Postzustellung wird also einem militärischen Nützlichkeitsprinzip unterzogen. Auch im Bildungsbereich erleben wir, dass unter dem Druck der Zeitenwende wichtige bildungspolitische Grundsätze - wie der Beutelsbacher Konsens - durch Soldaten im Unterricht oder Handgranatentraining im Schulsport aufgekündigt werden.
Die Zeitenwende hat enorme Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit.
Besonders weit fortgeschritten ist die Militarisierung im Gesundheitswesen. So verpflichtet eine neue Rahmenrichtlinie für die Gesamtverteidigung die Bundesländer dazu, Maßnahmen zur gesundheitlichen Versorgung im Kriegsfall zu planen. Eine enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen der Bundeswehr ist dabei obligatorisch. Ein Gesundheitssicherstellungsgesetz zur Regelung der medizinischen Versorgung im Katastrophen- oder Kriegsfall ist ebenfalls in Arbeit. Unter Fachleuten gilt es als wichtiger Baustein, um im Kriegsfall die Zivilmedizin dem Kommando der Bundeswehr zu unterstellen. Schon jetzt zeichnet sich jedoch ab, dass die forcierte zivilmilitärische Zusammenarbeit zu erheblichen Beeinträchtigungen bei der medizinischen Versorgung für die breite Bevölkerung führen wird. So soll die Bundeswehr das Recht bekommen, zivile Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen zu nutzen. Damit werden die ohnehin schon knappen Ressourcen, die für die medizinische Versorgung der breiten Bevölkerung zur Verfügung stehen, der Zivilmedizin entzogen und dem Militärsektor zur Verfügung gestellt.
Angriff auf die Demokratie
Durch den lauten Streit über die Zusammenarbeit zwischen Union, FDP und AfD übertönt, wurden in der vorletzten Sitzungswoche des letzten Deutschen Bundestages von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt auch Teile des Artikelgesetzes zur Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft beschlossen. Dieses sieht vor, mehrere Gesetze aus der Zeit der Notstandsgesetzgebung an die Zeitenwende anzupassen. Treten diese in Gänze in Kraft, können Beschäftigte, deren Tätigkeit der Versorgung der Bundeswehr oder verbündeten Streitkräften dient, Beschäftigte in Betrieben, die Militärausrüstung oder die entsprechenden Dienstleistungen erbringen sowie Beschäftigte in Forschungsbereichen, soweit sie militärisch forschen, zur Sicherstellung ihrer Arbeitsleistung verpflichtet werden. Hinzu kommt die Möglichkeit, die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der freien Wahl des Arbeitsplatzes und des Schutzes vor Arbeitszwang im Spannungsfall nun erleichtert einzuschränken.
Dass dieses Gesetz erhebliche Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung haben könnte, zeigt auch ein Blick auf die Ausweitung der Wochenarbeitszeit für militärisches Personal auf 54 Stunden in der Woche. Es kann als Vorbote für die Verlängerung von Arbeitszeiten auch in anderen Bereichen verstanden werden - etwa in der kritischen Infrastruktur oder der Rüstungsproduktion. Wie schnell das gehen kann, hatte sich bereits während der Corona-Pandemie gezeigt. Damals wurden in den für die Funktionalität der Gesellschaft systemrelevanten Branchen über Nacht die Arbeitszeiten auf bis zu zwölf Stunden am Tag oder 72 Stunden in der Woche ausgeweitet.
Gewerkschaftliche Strategiebildung
Die Zeitenwende hat enorme Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Denn in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der sich Deindustrialisierungserfahrungen, Inflation und Angriffe auf den Sozialstaat zu einer Erzählung des Verzichts verdichten, sind es nicht die Forderungen der Gewerkschaften nach guter Arbeit, die gesellschaftlich Auftrieb bekommen, sondern die der Arbeitgeber nach Lohnverzicht, Abweichungen von Tarifverträgen und Rückschritten bei der Arbeitszeit. Der Zeitenwendediskurs darf daher nicht widerspruchslos hingenommen werden. Radikaler als je zuvor in der Nachkriegsgeschichte werden die Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten in Frage gestellt und ihre Unterordnung unter die neue «sicherheitspolitische» Ausrichtung autoritär erzwungen. Nicht zu unterschätzen ist dabei der Versuch, die Gewerkschaften in den Aufrüstungskurs einzubinden, was besonders gut gelingen kann, wenn die SPD Teil der Regierung ist. Das historisch gewachsene Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften erweist sich in der komplexen gesellschaftlichen Krisensituation unserer Zeit jedoch als disziplinierendes Korsett für eine wirksame Durchsetzung von Beschäftigteninteressen. So war bereits die Konzertierte Aktion der Versuch, die Gewerkschaften auf eine Stillhaltepolitik zu verpflichten und Streiks zu verhindern.
Ein weiterer Versuch war der Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz, das SPD und Grüne drei Wochen nach dem Ampel-Aus im Kabinett noch schnell beschlossen. Mit großer Rücksichtslosigkeit ordnet es das wichtige Anliegen nach einer Stärkung der Tarifbindung der Zeitenwende unter. Denn das Gesetz soll bis 2030 ausdrücklich nicht für öffentliche Liefer-, Bau- und Dienstleistungsaufträge sowie Konzessionen zur Bedarfsdeckung der Bundeswehr gelten. Von Vergabeverfahren ausgenommen sind zudem Aufträge, die zur Bewältigung einer oder in Vorbereitung auf eine konkrete Krisensituation durch die Bundeswehr, den Zivil- und Katastrophenschutz, die Bundespolizei oder andere Sicherheitskräfte erforderlich sind. Hinzu kommen Aufträge, die in dieser Krisensituation zur Sicherung der Energieversorgung, für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens, zum Erhalt der Bauwerksicherheit oder für die Bundesinfrastruktur notwendig sind. Die Einschränkungen zeigen: Gewerkschaften finden vermutlich auch in der neuen Bundesregierung keinen Verbündeten für ihre Umverteilungskämpfe. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Sie müssen daher den Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Sozialabbau herausstellen, seine Verschleierung dient nur der ungestörten Aufrüstung. Dazu müssen sich die Gewerkschaften aus der politischen Umarmung durch die SPD lösen und ihr politisches Mandat parteiunabhängig und selbstbewusst wahrnehmen. Gewerkschaften und Friedensbewegung stehen dabei in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis: Ohne die Gewerkschaften wird die Friedensbewegung keine gesellschaftlich relevante Rolle in den stürmischen Zeitenwende-Widersprüchen spielen können, und ohne den Rückenwind der Friedensbewegung werden die Gewerkschaften die Interessen der Beschäftigten nicht erfolgreich vertreten können. Zeit für eine engere Kooperation!