
Wie alle rechtsextremen Parteien inszeniert sich auch der Rassemblement National (RN) als eine «Anti-Establishment»-Bewegung, die gegen eine angeblich korrupte und eigennützige politische Klasse kämpft. Dabei nehmen sie sich selbst von den hohen Moralmaßstäben aus, wenn es um die eigenen – privaten oder parteiorganisatorischen – finanziellen Vorteile geht, wie das jüngste Urteil gegen Le Pen und ihre Verbündeten und die Reaktionen darauf zeigen. Die rechte Erzählung vom «Kampf gegen die Eliten» bleibt aber dennoch wirkmächtig. Der RN stilisiert sich im Prozess als Opfer politisch motivierter Justizwillkür und präsentiert das Urteil als demokratiefeindlich. In Wirklichkeit bedrohen jedoch Korruption und der Missbrauch öffentlicher Mittel die demokratische Ordnung.
Brèf, was ist passiert?
Anna Schröder leitet das Auslandsbüro Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die bekannte französische Nationalistin Marine Le Pen, sowie weitere 23 Personen, darunter acht Europaabgeordnete ihrer Partei, wurden am 31. März vom Pariser Strafgericht der Veruntreuung von Geldern der Europäischen Union für schuldig befunden. Zwischen 2004 und 2016 wurden über 40 fiktive Arbeitsverhältnisse im Europäischen Parlament geschaffen – Scheinbeschäftigungen für Mitarbeiter*innen der Abgeordneten der Front National (FN), die nicht in die Parlamentsarbeit involviert, sondern in Wirklichkeit für die FN in Frankreich tätig waren. Als Mitglied des Europäischen Parlaments von 2004 bis 2017 spielte Marine Le Pen eine zentrale Rolle bei der illegalen Finanzierung ihrer Partei in Frankreich.
Das Strafmaß für Le Pen sieht vier Jahre Haft vor, davon zwei auf Bewährung und zwei, die im Hausarrest mit elektronischen Fußfesseln verbüßt werden könnten, sowie eine Geldstrafe von 100.000 Euro. Das Urteil entzieht ihr zwar nicht den Sitz in der Nationalversammlung, jedoch wird ihr das passive Wahlrecht für fünf Jahre aberkannt. Dadurch verliert sie die Möglichkeit, bei den Präsidentschaftswahlen 2027 anzutreten. Die Partei wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von 2 Millionen Euro verurteilt, von der die Hälfte zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Schaden wird auf über vier Millionen Euro geschätzt.
Der politische Knall ist unüberhörbar: Wegen der besonderen Schwere des Falls ist die größte Konkurrentin von Präsident Emmanuel Macron vorerst aus dem Rennen. Diese bestreitet jedoch jegliches Fehlverhalten, hat gegen das Urteil Berufung eingelegt und agitiert seitdem lautstark gegen die französische Justiz.
Reaktionen von rechts
Entsprechend fielen auch die Reaktionen ihrer Verbündeten aus. Diese kamen nicht nur aus Europa: Donald Trump und der Kreml verurteilten das Urteil ebenso wie der niederländische Nationalist Geert Wilders von der Partij voor de Vrijheid, der Spanier Santiago Abascal von der rechtsextremen Partei Vox oder der stellvertretende italienische Ministerpräsident Matteo Salvini von der Lega. Ungarns Premierminister Viktor Orbán erklärte prompt: «Je suis Marine!» Die mächtigste rechtsnationale Politikerin Europas, Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von der Fratelli d'Italia, schließt sich dem vielstimmigen Empörungsorchester an. Das wird Le Pen besonders gefreut haben. Im vergangenen Jahr hatte die französische Gewinnerin der Europawahl noch von einer engen Zusammenarbeit mit Meloni geträumt, jedoch schlossen sich die Fratelli am Ende der gemäßigteren Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) an. Le Pen ist bemüht, sich vom Image der Rechtsradikalen zu lösen und nach dem Vorbild der Italienerin als gemäßigte Konservative aufzutreten. So hat sie jahrelang daran gearbeitet, ihre Partei in den politischen Mainstream zu führen. Sie hat sich von den antisemitischen Wurzeln distanziert und sogar ihren Vater Jean-Marie Le Pen, der die FN jahrelang selbst geführt hatte, aus der Partei ausgeschlossen.
Korruption in Frankreich
Das Urteil hat Frankreich ordentlich durchgerüttelt, war jedoch keineswegs das erste seiner Art. Es gab mehrere Fälle, in denen Politiker*innen wegen Korruption zu Geld- oder Gefängnisstrafen, zum Entzug des passiven Wahlrechts oder dem Rücktritt von allen politischen Ämtern verurteilt wurden. Philippe Martin von der Parti socialiste, ehemaliger Abgeordneter der Nationalversammlung und Umweltminister, wurde wegen Scheinbeschäftigung seiner damaligen Ehefrau als parlamentarische Assistentin verurteilt. Der ehemalige Premierminister François Fillon von den konservativen Républicains wurde ebenfalls wegen Scheinbeschäftigung seiner Frau schuldig gesprochen. Die Enthüllungen führten während des Präsidentschaftswahlkampfs 2017 zu einem erheblichen Ansehensverlust, was letztlich seinen Rückzug aus der Politik zur Folge hatte und den Weg für Emmanuel Macron freimachte. Alain Juppé, ehemaliger Premierminister und enger Vertrauter von Präsident Jacques Chirac, war in eine Korruptionsaffäre verwickelt, bei der Pariser Stadtangestellte für parteiliche Aufgaben einsetzt wurden. Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy, ebenfalls von den Républicains, wurde wegen illegaler Wahlkampffinanzierung verurteilt, woraufhin er sich aus der aktiven Politik zurückzog.
Das Urteil polarisiert die französische Bevölkerung. Umfragen bestätigen ein anhaltendes Misstrauen gegenüber politischen Persönlichkeiten und deren Integrität. Eine kürzlich durchgeführte Erhebung ergab, dass rund 60 Prozent der Befragten das Urteil für gerecht halten, während rund 40 Prozent es als politisch motiviert ansehen. Obwohl die Ergebnisse mit Vorsicht zu betrachten sind und die Mehrheit der Menschen an eine unparteiische Justiz glaubt, ist die Zahl derjenigen, die das Urteil als politisch getrieben empfinden, besorgniserregend hoch. Überdies hält ein erheblicher Teil der französischen Bevölkerung Politiker*innen für korrupt und hat wenig Vertrauen in politische Institutionen und deren Vertreter*innen. Laut einer im Februar veröffentlichten Umfrage ist eine solch negative Wahrnehmung der französischen politischen Klasse auf stolze 74 Prozent gestiegen. Diese Zahl ist deutlich höher als beispielsweise in Deutschland, wo 53 Prozent der Bürger*innen eine ähnliche Ansicht vertreten.[1]
Korruption, illegale Parteienfinanzierung und der Missbrauch öffentlicher Mittel sind in Frankreich sehr präsent in der öffentlichen Debatte. Das Besondere am aktuellen Fall ist, dass Le Pen ab Urteilsspruch für die nächsten fünf Jahre nicht kandidieren darf. Zwar ist der vorübergehende Verlust des passiven Wahlrechts in Frankreich eine übliche Strafe, die im Antikorruptionsgesetz verankert wurde. Dieses Gesetz trat jedoch erst nach Le Pens Zeit als Abgeordnete in Kraft. Die Aberkennung des passiven Wahlrechts war nicht zwingend erforderlich, und die Richterin stützte ihre Entscheidung bei der Urteilsverkündung nicht auf das entsprechende Gesetz. Stattdessen begründete sie diese mit der Gefahr, dass Marine Le Pen weiterhin öffentliche Gelder veruntreuen könnte. Selbst Persönlichkeiten aus anderen politischen Lagern kritisierten das Urteil als verhältnismäßig hart und riskant, da sie befürchten, dass es ein Narrativ verstärken könnte, wonach die Entscheidung politisch motiviert sei.
Reaktionen von links
Parteien im linken Spektrum haben unterschiedlich auf die Verurteilung reagiert. Von Jubelstimmung kann nicht die Rede sein. In ihren Stellungnahmen betonen La France Insoumise (LFI) und die Parti Communiste Français (PCF) die Bedeutung der Gleichheit vor dem Gesetz und die Schwere des Vergehens. Die linken Parteien unterscheiden sich aber in ihrer Haltung zur Unanfechtbarkeit des Urteils und in ihrer Strategie gegenüber dem RN. LFI betont, dass sie den RN nicht durch gerichtliche Mittel, sondern durch Wahlen und Volksmobilisierung bekämpfen wollen. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Parteigründer Jean-Luc Mélenchon warnte, dass solche Entscheidungen dazu missbraucht werden könnten, die Unabhängigkeit der Justiz in Frage zu stellen und sie als politisches Instrument zu verwenden, um unerwünschte Akteure aus dem politischen Prozess auszuschließen. Gegen Jean-Luc Mélenchon wurde ebenfalls wegen Scheinbeschäftigung während seiner Zeit als Abgeordneter ermittelt. Seit einer Durchsuchung und Verurteilung wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt (nicht wegen Korruption), gab es keine entscheidenden Erkenntnisse.
Am Sonntag nach Urteilsverkündung riefen LFI gemeinsam mit den Grünen zu einer Demonstration in Paris gegen die extreme Rechte auf, die am selben Tag in der Hauptstadt hastig eine Veranstaltung zur Unterstützung von Le Pen organisiert hatte. Die PCF erklärte ebenso wie die Parti socialiste, dass sie diesem Aufruf nicht folgen werden. Es handele sich um eine richterliche Entscheidung, die nicht mit dem Kampf gegen Rechts vermischt werden sollte. Diese Haltungen unterstreichen die Spannungen innerhalb der französischen Linken hinsichtlich des Umgangs mit dem Urteil und der Rolle der Justiz im politischen Diskurs.
Das politische Ende von Le Pen?
Der RN spielt das Opfer. Die Beweislage gilt als standhaft und sehr gut recherchiert. Le Pen kann nur dann 2027 für das Präsidentenamt kandidieren, wenn sie vor Ablauf der Frist zur Einreichung ihrer Bewerbung ein günstigeres Berufungsurteil erhält. Das Pariser Gericht plant, bis Sommer 2026 über ihren Einspruch zu entscheiden. Sollte die Berufung erfolgreich sein, könnte sie noch bei den Wahlen 2027 kandidieren. Sollte das nicht klappen, wird Parteivorsitzender Jordan Bardella als möglicher Nachfolger gehandelt. Der politische Aufsteiger mobilisiert für landesweite Proteste gegen das Urteil, das er als «Tyrannei der Richter» bezeichnet. Seine Popularität steigt, ebenso wie die Mitgliederzahlen des RN. Der RN nutzt die aktuelle Situation massiv aus, um seine Basis zu mobilisieren und die eigene politische Agenda voranzutreiben.
Der Fall wird voraussichtlich als ein weiterer großer Skandal der verdeckten Parteienfinanzierung in die Geschichte der Fünften Republik eingehen. Gefährlich ist die Darstellung des rechten Lagers, dass die Verurteilung ein Demokratiedefizit bedeutet. Das Gegenteil ist aber der Fall. Nicht die rechtliche Verfolgung von Taten, sondern die Veruntreuung öffentlicher Gelder ist ein Angriff auf den Rechtsstaat. Die Strategie des RN, sich als Opfer der Justiz zu inszenieren, untergräbt das ohnehin schon geringe Vertrauen in demokratische Institutionen und sorgt für eine weitere Destabilisierung der demokratischen Ordnung.
Vieles bleibt noch offen. Insgesamt stellt der Fall Le Pen eine wichtige Zäsur für die politische Landschaft in Frankreich dar und könnte bereits für die Kommunal- und Regionalwahlen 2026 Folgen haben. Der Skandal schadet der Rechten nur dann, wenn er durch eine breitere politische Bewegung aufgegriffen wird, die den RN als das entlarvt, was er ist: eine Partei der Korruption und des autoritären Nationalismus – aber keineswegs der kleinen Leute. Mit Blick auf die weltweite Unterstützung Le Pens aus dem rechten Lager sieht es im Moment aber ungünstig aus.