
Der 7. Oktober 2023 hat für Brüche innerhalb emanzipatorischer Bewegungen geführt. Antisemitismus wurde entweder geleugnet, heruntergespielt oder gar reproduziert. Bis auf wenige Ausnahmen schafft(e) es die Linke in weiten Teilen nicht, den antisemitischen Kern des 7. Oktobers und die Folgen klar zu benennen, zu verurteilen – und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Der Anarchismus gehörte historisch zur Tradition der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und ist heute, trotz seiner geringeren Bedeutung, Teil der breiteren linken Familie. Hier gab und gibt es, wie in anderen linken Strömungen auch, Antisemitismus, ebenso wie Anstrengungen diesen zu bekämpfen. Der hier vorliegenden Publikation geht es darum, «das historische und aktuelle Verhältnis des Anarchismus zum Antisemitismus zu beleuchten, die teils wechselhafte Geschichte (auch der ProtagonistInnen) darzustellen und in die aktuelle Debatte einzugreifen» (S. 5).
Sie resultiert aus einem öffentlichen Call, der hier auf der Verlagswebsite noch einzusehen ist (Zugriff 2.4. 2025). Entstanden ist ein sehr heterogenes Bündel an Texten, sowohl was das Thema, den Zeitraum und vor allem deren Qualität angeht. Nähere Angaben zu den Autoren fehlen allerdings. Gleich ist bei allen das soziale Geschlecht der Schreibenden, es sind allesamt Männer.
Maurice Schumann untersucht die anarchistischen Wurzeln der Kibbuzbewegung, sein Beitrag ist die erweitere Fassung eines Textes, der im Juni 2017 hier bereits in der Wochenzeitung jungle world erschienen ist. Der sehr kenntnisreiche und mit Quellen versehene Beitrag von Jürgen Mümken schildert die Faszination und positive Identifikation vieler bekannter Anarchisten mit der Gründung des Staats Israel: Rudolf (1873-1958) und Milly Rocker (1877-1955), Augustin Souchy (1892-1984), Willi Paul (1897-1979), Helmut Rüdiger (1903-1966), und Heiner Koechlin (1918-1996). Attraktiv war für diese vor allem das Kollektiveigentum in den Kibbuz und die genossenschaftliche Siedlungsbewegung. Timo Gambke nennt in seinem Beitrag beispielhaft einige Statements aus der anarchistischen Bewegung, die das Massaker der Hamas verharmlosen oder gar verschwiegen, während der Genozid-Vorwurf gegen Israel in diesen Texten schnell bei der Hand ist. Gambke konstatiert eine Verflachung der anarchistischen Theorie, die auch dazu beigetragen habe, dass die «orthodox-marxistischen Antideutschen seit Ende der 1980er Jahre mehr für eine materialistische Staatskritik geleistet haben dürften, als die weltweite anarchistische Szene» (S. 89).
Torsten Bewernitz weist nach, dass der Angriff vom 7. Oktober eben kein Widerstand war, sondern sein Ziel das Töten aus antisemitischen Motiven heraus sich Selbstzweck war. Natürlich darf in einem solchen Band auch Gerhard Hanloser nicht fehlen. Sein elaborierter Text bleibt stellenweise unzugänglich, argumentiert jedoch sympathischerweise vehement für Ambiguitätstoleranz und argumentiert, dass «Antizionismus» als eine «ausschliesslich auf Israel bezogene Staatskritik» reaktionär sei. Herausgeber Frederik Fuß übt, ähnlich wie Gambke, an einem konkreten Text (vom Mai 2024, hier online, Zugriff 2.4.2025) aus dem Spektrum des Plattformismus Kritik. Sam Oht kritisiert anhand konkret benannter Quellen detailliert die Perspektive einiger RätekommunistInnen auf den 7. Oktober 2023. Sein Tenor lautet, dass dem Rätekommunismus «in weiten Teilen ein Verständnis für den jüdischen Staat als kollektive Selbstverteidigung gegen Antisemitismus» fehle (S. 168). Kacper Konar berichtet über aktuellen Antisemitismus in der linken und anarchistischen Szene in Polen. Sein Text wurde im August 2024 bereits hier in der jungle world veröffentlicht (Zugriff 2.4.2025).
Die Publikation ist trotz einiger Mängel und gelegentlichen Unklarheiten angesichts von weitverbreiteter Ohnmacht und politischer Regression ein beachtenswerter Versuch ein paar Umstände anzusprechen. Die Debatte geht jedoch weiter, muss weitergehen.
Frederik Fuß (Hrsg.): Anarchistische Scheidewege. Zum Verhältnis von Anarchismus und Antisemitismus; Verlag Syndikat A, Moers 2025, 196 S., 12,90 Euro