Analyse | Arbeit / Gewerkschaften - Mexiko / Mittelamerika / Kuba - Gewerkschaftliche Kämpfe Arbeitskampf für die Energiewende in Mexiko

Die kämpferische Gewerkschaft SME könnte nach 15 Jahren die Früchte ihres Widerstands ernten.

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Mitglieder der mexikanischen Elektrikergewerkschaft SME demonstrierten vor dem Innenministerium, um die Einhaltung der mit der Bundesregierung unterzeichneten Vereinbarungen zu fordern, 13.02.2019.
 
 

 

 

Foto: IMAGO / Newscom / GDA

Der Zeitpunkt war strategisch gewählt: Am 10. Oktober 2009, einem Samstag, besetzten Bundespolizei und Armee kurz vor Mitternacht handstreichartig die Einrichtungen des staatlichen Stromunternehmens Luz y Fuerza sowie der Gewerkschaft der Mexikanischen Elektrizitätsarbeiter*innen (SME). Gleichzeitig erklärte der damalige konservative Präsident Felipe Calderón per Dekret die Auflösung des Unternehmens. Seine offizielle Begründung: «Nachgewiesene operative und finanzielle Ineffizienz». Von einem Tag auf den anderen wurden 44.000 Arbeiter*innen auf die Straße gesetzt.

Gerold Schmidt ist Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt.

Carla Vázquez Mendieta arbeitet im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt als Projektkoordinatorin.

So begann Calderón die zweite Hälfte seiner sechsjährigen Amtszeit (2006–2012). Er wollte seine neoliberale Agenda vertiefen und auf die Privatisierung staatlicher Betriebe hinarbeiten. Es war die Zeit, in der weltweit die neoliberalen Kräfte versuchten, die Staaten in ihren strategischen Kernbereichen zu schwächen. Der Coup gegen Luz y Fuerza war zugleich der Versuch, mit Hilfe der Armee Stärke zu zeigen. Denn auch drei Jahre nach seinem Amtsantritt hing Calderón noch der Geruch des Wahlbetrugs gegen den Linkskandidaten Andrés Manuel López Obrador an. Zu den zahlreichen Akteuren, die Obrador bei seinen Protesten und Forderungen unterstützten, gehörte auch die SME.

Die Öffentlichkeit war auf die abrupte Schließung von Luz y Fuerza, das vor allem die Hauptstadt und das Zentrum Mexikos mit Strom versorgte, nicht vorbereitet. Die großen Medien dagegen schon. Im Einklang wiederholten sie – durchaus erfolgreich – den Regierungsdiskurs über die vermeintliche Ineffizienz des Staatsunternehmens, unangemessen hohe Löhne sowie angeblich korruptionsbedingte Privilegien der Gewerkschaftsmitglieder. Kein Wort davon, dass der Tarifvertrag der SME ein Ergebnis einer jahrzehntelangen kämpferischen und klassenbewussten Haltung war.

Proteste gegen die Zerschlagung des staatlichen Stromanbieters

Die 1914 mitten in der mexikanischen Revolution von anarchosyndikalistischen und sozialistischen Arbeitern gegründete SME ist die älteste Industriegewerkschaft des Landes. Sie gehörte zu den wenigen mexikanischen Gewerkschaften, die sich stets als klassenbewusste politische Gewerkschaft verstand, aber immer ihre Distanz zur jeweiligen Regierung bewahrte. Die jahrzehntelang herrschende Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) sah die Gewerkschaften dagegen als reine Transmissionsriemen für ihre Politik.

Für den neoliberalen konservativen Politiker Calderón zählte der Schlag gegen die SME mehr als der gegen das Staatsunternehmen Luz y Fuerza selbst. Die Gewerkschaft war ihm ein Dorn im Auge. Ein Ende der unabhängigen kämpferischen Gewerkschaft hätte ein wesentliches Hindernis für seinen Privatisierungskurs und für die Abwicklung des anderen großen staatlichen Stromkonzerns CFE beseitigt. Für andere fortschrittliche Kräfte wäre das Signal verheerend gewesen. Die SME spielte in mehreren zivilgesellschaftlichen Bündnissen gegen die neoliberale Politik der mexikanischen Regierungen seit den 1980er Jahren eine bedeutende Rolle.

So wie viele soziale Bewegungen sich immer wieder mit der SME solidarisierten, begleitete die SME andere gewerkschaftliche und soziale Kämpfe.

Anfangs lief für Calderón alles nach Plan. Das konservativ ausgerichtete mexikanische Verfassungsgericht wies 2009 die SME-Anträge auf eine einstweilige Verfügung gegen den Coup ab. Genaro García Luna, der Minister für Öffentliche Sicherheit, rechte Hand Calderóns und heute wegen seiner Beziehungen zum Drogenhandel und organisierter Kriminalität in den USA inhaftiert, übte erfolgreich Druck auf andere Gewerkschaften aus, Abstand von Solidaritätsbekundungen zu nehmen. Dazu gehörte auch die CFE-Gewerkschaft SUTERM.

Dennoch brachte die SME bei Protestmärschen gegen die Schließung mehr als 100.000 Menschen in der Hauptstadt auf die Straße. Gleichzeitig war klar: 44.000 Arbeiter*innen und ihre Familien konnten diese Proteste ohne Einkommen nur begrenzt durchhalten. Die Regierung nutzte das aus. Sie lockte mit doppelten Abfindungen für alle, die ihre Kündigung innerhalb von vier Wochen unterschrieben und versprach eine Wiedereinstellung bei der CFE – ein Versprechen, das sie letztlich nicht hielt. Nach Ablauf der ersten Frist legte sie weitere Angebote vor, um die Kündigungen attraktiver zu machen. Viele Arbeiter*innen unterschrieben am Ende aus wirtschaftlicher Not, weil sie kurz vor dem Ruhestand standen oder ihnen die politische Überzeugung für einen langen Arbeitskampf fehlte.

Überlebenskampf und Neuorientierung

Übrig blieb ein harter Kern von etwa 16.000 Gewerkschafter*innen unter Führung ihres bis heute amtierenden Generalsekretärs Martín Esparza. Sie forderten die vollständige Wiederherstellung ihrer Rechte und den Fortbestand von Luz y Fuerza. Statt für individuelle Abfindungen kämpften sie für die Rückgabe gewerkschaftseigener Einrichtungen wie Sportstätten, Veranstaltungs- und Verwaltungsgebäude. Dieser harte Kern hat bis heute überlebt. 15 Jahre nach der Schließung von Luz y Fuerza hat die SME immer noch mindestens 14.000 Mitglieder.

Dieser Erfolg basiert auf mehreren Faktoren: Ein Teil der Mitglieder suchte sich notgedrungen andere Beschäftigungen, blieb der Gewerkschaft aber treu. Die SME gründete 2015 die Genossenschaft Luz y Fuerza del Centro, die beispielsweise Ladestationen für Elektroautos und Solarpanels für den riesigen Großmarkt von Mexiko-Stadt betreibt. Und immer wieder organisierte die SME Unterstützung für Mitglieder im Rentenalter und die Familien der Gewerkschafter*innen. Sie kombinierte Proteste auf der Straße mit Dialogbereitschaft. In zähen Verhandlungen mit verschiedenen Regierungen gewann sie Teile ihres beschlagnahmten Immobilienvermögens zurück. Ebenfalls im Jahr 2015 drehte die SME die Öffnung des Strommarktes für private Unternehmen zu ihren Gunsten. Zusammen mit dem portugiesischen Unternehmen Mota-Engil gründete sie die Firma Fénix, eine eigene Stromgesellschaft. Die Erfahrung der Mitglieder verhalf Fénix zu einem erfolgreichen Start. Nie gab die SME aber die Haltung auf, die Stromversorgung als eine Aufgabe des Staates und nicht der Privatwirtschaft anzusehen.

Auch interne Konflikte überwand die Gewerkschaft letztendlich ohne entscheidende Abgänge. Vor allem die jungen Gewerkschaftsmitglieder nutzten die vergangenen Jahre für Weiterbildungen. So wie viele soziale Bewegungen sich immer wieder mit der SME solidarisierten, begleitete die SME andere gewerkschaftliche und soziale Kämpfe. Sie vernetzte sich international und war mehrfach Gastgeberin für internationale Gewerkschaftskongresse. Das große Auditorium der SME im Zentrum von Mexiko-Stadt steht auch anderen Gruppen zur Verfügung.

Der Wahlsieg des progressiven Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador 2018 schien eine neue Perspektive zu eröffnen. Obrador verkündete das Ende der neoliberalen Politik und betonte die Bedeutung staatlicher Unternehmen. Unter anderem versprach er, die von den Vorgängerregierungen heruntergewirtschaftete CFE zu sanieren. Trotz mehrerer Gespräche zwischen SME und Bundesregierung kam es jedoch zu keiner Eingliederung der Gewerkschafter*innen in das Unternehmen. Vielleicht war Obrador die politische Unabhängigkeit der SME nicht geheuer, vielleicht lag es am Widerstand von CFE-Direktor Manuel Bartlett Díaz, einem ehemaligen PRI-Politiker und eine recht zwiespältige Gestalt.[i]

Die Gewerkschaft als Schlüsselakteur für eine demokratische Energiewende

Mehr Fortschritt brachte der Dialog mit der seit Januar 2025 amtierenden mexikanischen Präsidentin Claudia Sheinbaum. Die Parteigenossin Obradors und ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt gewährte der SME die Konzession für die Stromversorgung der Straßenbeleuchtung in der Millionenmetropole. Die Gewerkschaft war dazu in der Lage, weil sie mit dem Unternehmen Fénix auch das heruntergekommene Wasserkraftwerk Necaxa im benachbarten Bundesstaat Puebla wieder funktionsfähig gemacht hatte.    

Möglicherweise steht der SME mit der Präsidentschaft der Umweltwissenschaftlerin Sheinbaum ein größeres Comeback bevor. Sheinbaum hält an der Politik ihres Vorgängers fest, die öffentlichen Unternehmen zu stärken. Anders als der ganz auf das Öl fokussierte Obrador will sie Energiesouveränität aber mit einer sozialökologischen Transformation verbinden. So könnte etwa der staatliche Ölkonzern Pemex mittelfristig zu einem Anbieter erneuerbarer Energien umgebaut werden.

Die SME setzt sich weiter dafür ein, dass alle aktiven Mitglieder, die es wollen, bei der CFE oder in anderen staatlichen Unternehmen und Behörden angestellt werden. Gleichzeitig fordert sie umfassende Arbeitsrechte, das Menschenrecht auf Stromversorgung und öffentliche Dienstleistungen für die gesamte Bevölkerung. Ein gerechter sozialökologischer Umbau bedeutet für die SME mehr als den Ersatz fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien – Energie soll keine Ware sein, die privaten Konzerninteressen dient.

Ob die Regierungsseite der kämpferischen SME die Türen öffnet, bleibt abzuwarten. Gelingt es, wäre das ein starkes Comeback einer Gewerkschaft, die ihren 15 Jahre dauernden Arbeitskampf nie aufgegeben hat.

Passend dazu war die SME Anfang Februar Gastgeberin des interregionalen Kongresses der Gewerkschaften für Energiedemokratie (TUED). Ursprünglich in Argentinien geplant, musste das Treffen der Gewerkschafter*innen aus dem Globalen Süden aufgrund der politischen Lage unter der Milei-Regierung kurzfristig verlegt werden. Die SME sprang ein. Generalsekretär Esparza sprach dort von «neuen strategischen Formeln eines öffentlichen Weges der Energietransition».

In den vergangenen Jahren arbeitete die SME in Arbeitsgruppen eng mit Akademiker*innen des mexikanischen Wissenschaftsrates CONAHCYT zusammen, um datenbasiert solche Strategien zu entwickeln. Präsidentin Sheinbaum hat den Rat inzwischen auf Ministeriumsebene angehoben. Mit Unterstützung des CONAHCYT führte die SME eine Mitgliederbefragung durch, um die aktuellen Arbeitsqualifikationen zu erfassen.

Laut José Humberto Montes de Oca, dem Sekretär für Außenbeziehungen der Gewerkschaft, sollen diese Fähigkeiten gezielt für den sozialökologischen Umbau eingesetzt werden – nicht nur im Energiesektor, sondern im gesamten öffentlichen Dienst. «Wir haben in diesem politischen Moment eine Verantwortung als organisierte Arbeiterklasse», betont Montes de Oca im Gespräch mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. «Angesichts der Klimakrise und der wachsenden Prekarisierung der Arbeitsbedingungen müssen wir uns transformieren und einer gerechte, demokratische Energiewende gestalteten, wenn wir weitere 100 Jahre bestehen wollen.» In wenigen Monaten will die SME der Regierung Sheinbaum ein Konzept vorlegen.

Nun liegt der Ball bei der Regierung. Energieministerin Luz Elena González kündigte im November Investitionen von rund 24 Milliarden Euro im Energiesektor an – auch eine Chance für neue Arbeitsplätze, ist der Gewerkschaftssekretär Montes de Oca überzeugt. Die SME-Mitglieder kämpfen um ihren Platz in der Energiestrategie der Regierung. Inhaltlich ähneln sich die Argumente von SME und Energieministerin, doch ob die Regierungsseite der kämpferischen SME die Türen öffnet, bleibt abzuwarten. Gelingt es, wäre das ein starkes Comeback einer Gewerkschaft, die ihren 15 Jahre dauernden Arbeitskampf nie aufgegeben hat. 


[i] 1988 machte ihn die Opposition dafür verantwortlich, die Wahlen zugunsten des offiziell siegreichen Präsidenten Carlos Salinas de Gortari (PRI) manipuliert zu haben.