Analyse | Brasilien / Paraguay Lula und die Streitkräfte

Das brasilianische Militär hat Bolsonaro unterstützt. Ob es bereit ist, sich mit seinem Nachfolger zu arrangieren, bleibt offen, meint Ana Penido

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Ana Penido,

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nimmt an einer Militärparade teil während der Feierlichkeiten zum 202. Jahrestag des Unabhängigkeitstags in Brasilia, 7.9.2024.
Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nimmt an einer Militärparade teil während der Feierlichkeiten zum 202. Jahrestag des Unabhängigkeitstags in Brasilia, 7.9.2024.
 
 

 

 

Foto: IMAGO / Xinhua

Ein bekanntes brasilianisches Sprichwort lautet: «Wer die Macht hat, macht die Ansage; wer vernünftig ist, fügt sich.» Dieses Sprichwort steht für das koloniale Erbe Brasiliens mit seiner rohen Ausübung von Hierarchie, die in den Coronelismo mündete, die «Herrschaft der Obristen» im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sie ist auch heute noch in den Alltagsbeziehungen zwischen den Menschen – einschließlich derjenigen, die hohe öffentliche Ämter bekleiden – präsent. Umgekehrt stellt sich die Frage: Wenn jene, die die Befehlsmacht besitzen, sich Sorgen machen, dass man ihnen nicht gehorcht, lohnt es sich dann, zu befehlen?

Ana Penido ist Forscherin am Tricontinental: Institute for Social Research und der Grupo de Estudos de Defesa e Sugrança Internacional (GEDES ) in den Bereichen Verteidigung, Streitkräfte, Professionalisierung und militärische Ausbildung.

Die ersten beiden Amtszeiten von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zeichneten sich durch eine Distanz zu den Kasernen aus. Es wurden überhaupt nur wenige Änderungen vorgeschlagen; stattdessen tätigte die Regierung rekordverdächtige Investitionen in Ausrüstung, Attraktivitätssteigerung sowie Soldzahlungen und festigte die Autonomie des Militärs in Bereichen, die traditionell als dessen Kompetenzbereiche gelten. Im Gegenzug hielt sich das Militär weitgehend aus der Politik heraus, und die Linke gab sich dem Eindruck hin, dass in den Kasernen Friede eingekehrt sei. Die größten Spannungen mit dem Militär ergaben sich in der Regierungszeit von Fernando Henrique Cardoso, der die Ruhestandsregelungen für Militärs änderte, und während der Regierung von Dilma Roussef mit der Einrichtung der Wahrheitskommission und der Abschaffung der Behörde für institutionelle Sicherheit.

Die dritte Lula-Regierung

Die dritte Lula-Regierung hat von Anfang an versucht, die Politik aus der Zeit der ersten beiden Amtszeiten des Präsidenten wiederaufzunehmen. Man bemühte sich um ein friedliches Miteinander und vermied heikle Beziehungen. Doch die Regierung hat sich verändert, das Militär ebenso, und auch die nationale und internationale Lage ist nicht mehr dieselbe.

Nachdem viele Offiziere der Streitkräfte die Regierung von Jair Bolsonaro massiv unterstützt hatten, waren Spannungen zwischen dem Militär und der breiten demokratischen Koalition der Lula-Regierung vorhersehbar. Die Regierungsübergabe war von offener und versteckter Kritik aus den Reihen des Militärs begleitet; es gab auch keine breite soziale Beteiligung, obwohl diese von der Regierung zugesagt war. Der neu ernannte Verteidigungsminister gefiel den Streitkräften und erfuhr Unterstützung sogar aus den Reihen der vor den Kasernen demonstrierenden «Militärfamilie». Im Ministerium für institutionelle Sicherheit wechselte nur der Minister, während das Team von General Augusto Heleno beibehalten wurde. Überdies gestattete Lula dem Militär, seine Autonomie und seinen Einfluss auf weite Bereiche der Politik zu bewahren; die Streitkräfte wurden gar Teil der Agenda zu Reindustrialisierung und Umweltschutz. Man kann also der Regierung Lula in dieser dritten Amtszeit sicher keine Rache vorwerfen.

Bolsonaros Putschversuch

Doch der Putschversuch vom 8. Januar 2023, der dem Sturm aufs Kapitols in Washington nachempfunden war, räumte alle Zweifel an der Beteiligung von Generälen und Obersten am Komplott Bolsonaros aus. Auch wenn es sich um keine geschlossene Erhebung des Militärs handelte, war der rechtsextreme Einfluss der Spezialeinheiten der brasilianischen Streitkräfte, der sogenannten Black Kids, offensichtlich. Die Ermittlungen der Bundespolizei Ende 2024 verschlimmerten das Bild, denn sie verdeutlichten, dass die geplanten Aktionen auch die Ermordung von Schlüsselfiguren wie Lula, seinem Vizepräsidenten sowie dem Richter am Obersten Gerichtshof Alexandre de Moraes beinhaltete.

Die Regierung reagierte auf den 8. Januar besonnen: Statt den Ausnahmezustand zu verhängen, ordnete sie lediglich eine Intervention der Bundespolizei im Hauptstadtdistrikt an, und diese Maßnahme wurde von einem Zivilisten koordiniert. Sie entließ den Armeechef, General Júlio Cesar de Arruda, und einige rangniedere Offiziere, mischte sich aber nicht in die Ermittlungen der Justiz ein, die Angeklagten wegen antidemokratischen Vergehen zur Rechenschaft zu ziehen. Die drei Gewalten der Republik reagierten institutionell, wenn auch ohne Beteiligung der Bevölkerung. Darüber hinaus übernahm die Bundespolizei (PF) die Verantwortung für die persönliche Sicherheit des Präsidenten. Der brasilianische Nachrichtendienst (Abin) wurde aus der Behörde für institutionelle Sicherheit ausgegliedert und untersteht nun direkt der Regierung. Außerdem wurden einige einschlägige Erlasse zur Waffenpolitik widerrufen.

Es war sicherlich ein Fehler der Regierung, den Untersuchungsausschuss CPMI zu den antidemokratischen Demonstrationen nicht stärker dafür zu nutzten, die Aktivisten im Militär zur Räson zu bringen. Das lag daran, dass man eher auf Schlichtung setzen wollte und die Politik der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit zurückstellte – nicht einmal an den 60. Jahrestag des Militärputsches von 1964 wurde von offizieller Seite erinnert.

Obwohl Bolsonaro geschwächt ist, bleibt die extreme Rechte gut organisiert, mobilisiert, finanziert und bewaffnet.

Innerhalb der Kasernen kam es zur Spaltung. Auf der einen Seite suchten die Generäle unter der Führung von Braga Netto und Augusto Heleno, unterstützt von Offizieren im aktiven Dienst, den Beistand des Oberkommandos der Armee, um die Amtsübernahme der gewählten Regierung zu verhindern. Auf der anderen Seite erkannten hochrangige Generäle, dass für einen erfolgreichen Staatsstreich die Voraussetzungen fehlten, wie etwa die Unterstützung durch die USA, die Einigkeit der brasilianischen Bourgeoisie und das Wohlwollen der Presse. Angesichts des großen Risikos eines politischen Scheiterns und der hohen Kosten entschied man sich im Militär dafür, die Mobilisierung von Bolsonaro-Anhänger*innen vor Kasernen (und in der Nähe des Regierungsviertels) nicht zu unterbinden, um die eigene Verhandlungsposition gegenüber der neuen Regierung zu stärken.

Gleichzeitig bemühte sich die Armee, ihr Image zu verbessern, das durch die Unterstützung der Bolsonaro-Regierung und die Beteiligung von Offizieren am Putschversuch des 8. Januar erschüttert worden war. Sie wurde von links und rechts dafür kritisiert, den Putsch entweder zu stark oder zu wenig unterstützt zu haben. Um dem entgegenzuwirken, haben die Streitkräfte in die Sichtbarkeit «unterstützender Aktionen» investiert: strategische Aktionen in der Öffentlichkeit, die ein positives Image erzeugen und das Bild des «Freund und Helfers» bedienen, und die Ausführung ihrer Zuständigkeiten im Bereich der öffentlichen Sicherheit, was ihr Image als «starker Arm» fördern sollte.

Lulas dritte Amtszeit ist durch eine dem Militär entgegenkommende Haltung gekennzeichnet. Man strebt ein «unpolitisches» Militär an, das «seine verfassungsmäßigen Aufgaben erfüllt». Umsetzen soll dies General Tomás Paiva, der derzeitige Befehlshaber des Heeres. Das öffentliche Profil der Kommandeure ist zweifellos zurückhaltender als in der vorangegangenen Periode. Die Regierung erteilte jedoch keine Befehle und stellte somit den Gehorsam auch nicht auf die Probe. Man entschied sich größtenteils für Beschwichtigung, behielt die Machträume des Militärs im Staatsapparat und ein politisch entleertes Verteidigungsministerium bei – durchaus ähnlich wie in der Bolsonaro-Regierung, deren Hauptanliegen darin zu bestehen schien, die großen und kleinen Betrügereien der letzten Jahre vor dem Bundesrechnungshof zu verbergen. Da die Regierung nach dem 8. Januar in den Kasernen nicht hart durchgriff, verpasste sie die historische Chance, das Kräfteverhältnis für Reformen in der Verteidigungspolitik des Landes und in den Beziehungen zu den Streitkräften zu verbessern.

Anhaltende Anspannung

Zur Mitte der Amtszeit gestalten sich die Beziehungen durchaus angespannt. Indem die Regierung die Streitkräfte in die geplanten Haushaltskürzungen einbezog, testete sie die mögliche Gegenreaktion des Militärs – und sie kam per Schiff, wobei die hohen Ränge der Marine durch expliziten Ungehorsam auftraten. Auch wenn nun das Meer auf der Oberfläche ruhiger scheint, erinnert die jüngste Episode daran, dass die Strömungen unter Wasser weiterhin stark bleiben – und gegen die Linke gerichtet sind.

Die Regierung überlässt die Aufgabe, die Militärputschisten zur Rechenschaft zu ziehen, weiterhin dem Obersten Gerichtshof. In diesem Sinne ist die Verhaftung von General Braga Netto, Bolsonaros Vizepräsidenten, wegen Behinderung der Ermittlungen zweifellos ein historischer Schritt für das Land. Die Kronzeugenregelung für Oberstleutnant Mauro Cid scheint hier der Schlüssel für das gerichtliche Handeln gewesen zu sein. Aber eine bloß vorgetäuschte Unterordnung des Militärs unter die gewählte Regierung reicht der brasilianischen Demokratie nicht aus, und das Szenario hat sich mit der Wahl Donald Trumps in den USA noch verschlechtert.

Exekutive und Legislative haben die in ihre Zuständigkeit fallenden Maßnahmen – wie beispielsweise eine Quarantäne für Militärangehörige, die eine politische Karriere anstreben, und eine demokratische Diskussion über die Aufgaben der nationalen Verteidigung und des Ministeriums selbst – kaum vorangetrieben. Jene, die entsprechende Anweisungen hätten erteilen können, taten nichts; und andere gehorchten nicht, weil sie es nicht mussten.

Deshalb gab es selbst dort, wo es zu rechtlichen Verurteilungen kam, keine politischen Verurteilungen. Eine mögliche Straffreiheit für die Putschisten steht somit weiter im Raum. Obwohl Bolsonaro geschwächt ist, bleibt die extreme Rechte gut organisiert, mobilisiert, finanziert und bewaffnet. Die vielen Maßnahmen, die möglich wären, wenn die Regierung ihre Versöhnungsstrategie aufgäbe, müssen hier nicht erörtert werden. Zwei Voraussetzungen sind jedoch all diesen Maßnahmen gemein: die Mobilisierung der Bevölkerung und die politische Bildung, auch in Bezug auf Verteidigungspolitik und Streitkräfte.