Kommentar | Arbeit / Gewerkschaften - Parteien / Wahlanalysen - Gewerkschaftliche Kämpfe Die Zukunft der Demokratie entscheidet sich am Arbeitsplatz

Warum wir zum Widerstand gegen wachsenden Autoritarismus starke Gewerkschaften brauchen

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Todd Brogan,

Tausende Gewerkschafter*innen stehen am Internationalen Tag der Arbeit in Manila, Philippinen, der Bereitschaftspolizei gegenüber, 1.05.2023.
Tausende Gewerkschafter*innen stehen am Internationalen Tag der Arbeit in Manila, Philippinen, der Bereitschaftspolizei gegenüber, 1.5.2023. Foto: IMAGO / NurPhoto

Mit angeblich mehr als vier Milliarden Wahlberechtigten, die 2024 über ihre Regierung mitbestimmen können sollten, wurde das vergangene Jahr im Vorfeld zu einem «entscheidenden Jahr» für die globale Demokratie erklärt. Dem vorherrschenden Mediennarrativ zufolge sollte sich an den Wahlurnen von Jakarta in Indonesien bis Jersey City in den USA die Zukunft der Demokratie entscheiden. Aufregung und auch ein Hauch Nervosität lagen in der Luft. Einige besorgte Kommentator*innen ließen sich sogar zu der Aussage hinreißen, dass «die Demokratie auf dem Spiel» stehe. Denn die Auswertung der Wahlergebnisse ergab, dass die Wähler*innen den «Amtsinhaber*innen ein Grab» geschaufelt, die politische Mitte abgestraft und stattdessen Extremist*innen gestärkt hätten sowie dass junge Wähler*innen in den USA und Europa nach rechts außen abgedriftet seien.

Todd Brogan ist Kampagnen- und Organisationsleiter des Internationalen Gewerkschaftsbunds in Brüssel und war zuvor Kampagnenleiter der Amalgamated Transit Union in den USA. Er äußert sich hier in eigenem Namen.

Außerhalb des Globalen Westens war das Bild differenzierter. In den meisten Ländern verloren die amtierenden Parteien keineswegs. Tatsächlich nahmen auch keine vier Milliarden Menschen an diesem großen demokratischen Spektakel teil. 2024 gaben rund 1,2 Milliarden Menschen – etwa 61 Prozent der Wahlberechtigten – ihre Stimme ab; vor allem außerhalb Europas und der USA. Die Demokratie, zumindest in der Form politischer Wahlen, hat also überlebt. Problematisch an dem weitverbreiteten Narrativ ist nicht seine Fokussierung auf den Westen, sondern vielmehr, dass es das Wahllokal zum Herzstück jeglicher demokratischen Teilhabe erklärt und dabei ausblendet, was unseren Alltag jenseits formeller Politik prägt.

Demokratie – für wen?

Die Vorstellung, dass Demokratie mit dem allgemeinen Wahlrecht beginne und ende, ist weitverbreitet. Für die meisten Menschen auf der Welt ist die Stimmabgabe bei Kommunal- oder Parlamentswahlen wohl die gängigste Form demokratischer Teilhabe. In manchen Ländern gilt sie als Speerspitze eines andauernden, oft umkämpften Demokratisierungsprozesses.

In den USA mag dieser Prozess ungleichmäßig, mangelhaft und widersprüchlich verlaufen sein, doch wegzureden sind die Fortschritte, die das Land im 20. Jahrhundert bei der Demokratisierung gemacht hat, nicht. In Form des Frauenwahlrechts und des Voting Rights Act weitete zwar letztendlich der Staat selbst das Stimmrecht aus, seinen tieferen Ursprung hatte dieser Prozess jedoch in der Gesellschaft: am Arbeitsplatz, im Privaten und allgemein in der Bevölkerung. Es war der Aktivismus von unten, mit dem neue nationale Gesetze wie der National Labor Relations Act, die Programme der «Great Society», die Aufhebung der Rassentrennung und der Americans with Disabilities Act erkämpft wurden. Die Massenproteste der Arbeiter*innenbewegung in den 1930er-Jahren, der Bürgerrechts- und Friedensbewegung in den 1950er- und 1960er-Jahren, der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren, der Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1980er-Jahren sowie der Behindertenrechtsbewegung und der Bewegung für Klimagerechtigkeit der 1990er-Jahren waren ein Zeichen gelebter Demokratie. Die «demokratische Lebensform» war auf dem Vormarsch.

Gewerkschaften sind die Säulen des demokratischen Lebens, da sich hier Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen kollektiv und demokratisch für ihre gemeinsamen arbeitspolitischen und gesellschaftlichen Interessen einsetzen.

In den folgenden Jahrzehnten legte die amerikanische Demokratisierung jedoch eine Kehrtwende hin. Unternehmen wurden zu «juristischen Personen» erklärt, so dass sie mittels Lobbyist*innen und milliardenschweren Wahlkampfspenden Einfluss auf das politische System nehmen konnten. Die demokratischen Rechte der arbeitenden Bevölkerung gerieten noch heftiger unter Beschuss. Allein zwischen 2018 und 2021 wurden in 47 Bundesstaaten mehr als 361 Gesetzesentwürfe zur Einschränkung von Wahlrechten eingebracht. Die neue Trump-Regierung läutete dieses Jahr mit beispiellosen Angriffen auf Frauen, trans*-Personen, Migrant*innen, Gewerkschaften und die arbeitende Bevölkerung ein: also gegen all jene, die in einer Gesellschaft wohlhabender weißer Männer als illegitime Teilhaber*innen gelten.

Nur wenige Monate nach Ende des vermeintlichen «Demokratiejahrs» 2024 geben ganze 61 Prozent der US-Amerikaner*innen an, unzufrieden mit dem Zustand ihrer Demokratie zu sein. Diese Zahl wirft, ungeachtet der neuesten Angriffe Trumps auf die ohnehin ausgehöhlten demokratischen Institutionen der USA, eine grundlegende Frage auf: Wie lässt sich dieser weitverbreiteten Entfremdung von der Demokratie in einer Weise entgegenwirkten, dass diese nicht nur geschützt, sondern sogar gestärkt wird?

Ausweitung der Teilhabe

Der amerikanische Philosoph John Dewey setzte sich 1927 in seinem Essay Die Öffentlichkeit und ihre Probleme mit Bedingungen auseinander, die den heutigen nicht unähnlich waren. So schrieb er: «Die optimistischen Hoffnungen für die Demokratie sind heute getrübt». Bekannt ist Dewey vor allem für seine Auffassung, Demokratie sei nicht bloß ein Mittel der Selbstbestimmung, sondern eine kollektive «Lebensform», «eine weitere und reichere Idee, als dass sie selbst im besten Staat exemplifiziert werden kann.» (Dewey, John: «Die Öffentlichkeit und ihre Probleme.» Suhrkamp 2024)

Dewey sah den «Kern und letzten Garant der Demokratie» im freien und offenen Dialog zwischen Bürger*innen und innerhalb ihrer jeweiligen sozialen Gruppen. Doch selbst auf dieser Ebene zeichnete sich bereits um die letzte Jahrhundertwende ein rapider Einbruch der demokratischen Teilhabe ab. Seit den 1970er-Jahren ist der Anteil der US-Amerikaner*innen, die ihr demokratisches Vereinigungsrecht wahrnahmen – über Elternbeiräte an Schulen, Sozialvereine, Gewerkschaften oder politische Organisationen – um 25 bis 50 Prozent gesunken. Ein Trend, der bis heute anhält und insbesondere in der Arbeiterklasse mit einer starken Entfremdung von der Gesellschaft einhergeht.

Für John Dewey, der ein aktives Mitglied der American Federation of Teachers war, fehlte Demokratie insbesondere in einem Bereich, in dem sie zugleich dringend notwendig war: in der Wirtschaft. Während sich 1938 die europäische Kriegsmaschinerie in Gang setzte, sagte er voraus: «Auf den Widersinn eines Krieges für politische Demokratie, in dem zugleich die industrielle und ökonomische Autokratie nahezu unangetastet bleibt, wird mit solcher Häufigkeit hingewiesen, dass ich überzeugt bin, wir werden nach dem Krieg entweder eine Phase großer Unruhe, des Ungehorsams, der Orientierungslosigkeit und Konflikte erleben … oder aber eine Bewegung, die das Prinzip der Selbstverwaltung in allen Wirtschaftszweigen verankert.»

Diese Bewegung hatte einen Namen: die Arbeiter*innenbewegung. Nach Jahrzehnten erbitterter Kämpfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die das Leben von Millionen Menschen nachhaltig verbesserten, war in den 1950er-Jahren fast ein Drittel der US-amerikanischen Arbeitskräfte gewerkschaftlich organisiert. 2024 jedoch sank dieser Anteil erstmals unter zehn Prozent – obwohl eine Mehrheit der US-Bevölkerung Gewerkschaften unterstützt und überzeugt ist, dass ihr Verschwinden eine negative Entwicklung darstellt. Und doch fehlt es, wie bei so vielen Aspekten in unseren demokratischen Gesellschaften, an institutionellen Wegen, um dieses Problem überhaupt anzugehen.

Gewerkschaften zur Stärkung der Demokratie

Leider ist dies nicht nur ein US-amerikanisches Phänomen. Mit Ausnahme von Südamerika sind in allen Weltregionen, die von der Internationalen Arbeitsorganisation erfasst werden, in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften zurückgegangen.

Dieser Rückgang hat der Demokratie massiv geschadet. Gewerkschaften sind die Säulen des demokratischen Lebens, da sich hier Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen kollektiv und demokratisch für ihre gemeinsamen arbeitspolitischen und gesellschaftlichen Interessen einsetzen. Doch sie stehen seit Jahrzehnten unter ununterbrochenem Beschuss durch Arbeitgeber*innen und Regierungen. Der Global Rights Index des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) zeigt, dass der Anteil der Länder, in denen Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden, zwischen 2013 und 2023 von 26 auf 42 Prozent gestiegen ist. Im Jahr 2023 verweigerten satte 77 Prozent der Länder der arbeitenden Bevölkerung das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen oder ihr beizutreten.

Eine Datenerhebung des IGB aus dem Jahr 2024 bestätigt: «Wo grundlegende Arbeitnehmerrechte garantiert sind, ist die Demokratie im Allgemeinen stärker und nachhaltiger.» Das ist wenig überraschend. Die meisten Wähler*innen sind Beschäftigte und verbringen im Durchschnitt ein Drittel ihres Lebens am Arbeitsplatz. Doch weltweit haben fast 90 Prozent von ihnen keine gewerkschaftliche Vertretung.

In starken Gewerkschaften ist Demokratie allgegenwärtig, weil sie effizient ist.

Wenn der Arbeitsplatz als rein autoritärer Ort gilt – ohne Gewerkschaften, über die sich Beschäftigte demokratisch organisieren und mit den Arbeitgeber*innen verhandeln oder gemeinsame politische Ziele entwickeln können –, hemmt dies auch die Entwicklung der Demokratie als Ganze. John Dewey erkannte dieses Problem schon 1888, als er schrieb: «Demokratie ist nicht Wirklichkeit, solange sie nicht auch industriell, gesellschaftlich und politisch verwirklicht ist.»

Im vergangenen Jahr startete der IGB die Kampagne «For Democracy», die an dieser weiterreichenden Vorstellung von Demokratie anknüpft. Mit den Worten der Initiator*innen der Kampagne: «Gewerkschaften sind die Schmiede der Demokratie. In Gewerkschaften können sich Millionen Menschen zum ersten Mal frei äußern. Sie lernen, wie sie sich gegenseitig schützen können. Hier erleben sie die Kraft kollektiver Beratung und die Wucht kollektiven Handelns.»

Gewerkschaftsmitglieder sind bestrebt, auch selbst zu praktizieren, was sie fordern. In der Broschüre Them and Us Unionism von United Electrical, Radio and Machine Workers of America heißt es: «Kollektive Kräfte aufzubauen erfordert echte demokratische Praxis, damit die Arbeitenden das Gefühl der Eigenverantwortung für ihre Gewerkschaft entwickeln. Demokratie bedeutet mehr als bloße Teilnahme an Abstimmungen, sondern aktives Engagement, damit möglichst viele Mitglieder informiert sind und sich beteiligen.»

In ihrem Buch Democracy is Power. Rebuilding Unions from the Bottom Up (1999) für das Netzwerk gewerkschaftlicher Basisaktivist*innen Labor Notes schreiben Mike Parker und Martha Gruelle, dass sie unter Demokratie «weitaus mehr verstehen als faire Wahlen […] Wir meinen hiermit eine Kultur, in der die Mitglieder das Sagen haben.» Sie sehen «das übergeordnete Ziel» darin, «dass die Beschäftigten gemeinsam, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, Macht erlangen und ausüben.»

Der Herausforderung gewachsen sein

Im Gegensatz zu John Dewey, für den die Mittel selbst das Ziel waren, legen Gewerkschaften ihren Fokus darauf, was Demokratie konkret erreichen kann. Denn erst durch demokratische Auseinandersetzungen erkennen die Beschäftigten ihre gemeinsamen materiellen Interessen und sorgen durch kollektives Handeln dafür, dass diese auch durchgesetzt werden.

In starken Gewerkschaften ist Demokratie allgegenwärtig, weil sie effizient ist. Gut umgesetzt, führt gewerkschaftliche Demokratie zu besseren Tarifverträgen und Vereinbarungen, weil sie auf der Teilhabe und dem Vertrauen ihrer Mitglieder fußt. Sie schafft Zusammenhalt, Verantwortungsgefühl und gemeinsames Engagement: die Grundlage für erfolgreiche Streiks und Kampagnen. Sie ermöglicht eine unabhängige Politik für die Arbeitnehmer*innen, weil diese selbst ihre politischen Positionen entwickeln und über Wahlempfehlungen entscheiden können.

Wird Demokratie am Arbeitsplatz jedoch unmöglich oder verweigert, werden die Betriebe und letztlich ganze Volkswirtschaften egoistisch denkenden Diktator*innen überlassen. Die schlimmsten unter ihnen häufen Unmengen an Kapital an, monopolisieren ganze Wirtschaftszweige und beeinflussen ihre jeweiligen Regierungen. Das Paradebeispiel hierfür ist, wie der reichste Mann der Welt, Elon Musk, der online offen für faschistische Ideologien eintritt, heute Einfluss auf die Trump-Regierung, die deutsche Wahlpolitik und Javier Mileis Regierung in Argentinien ausübt. Als CEO von SpaceX, Tesla und das soziale Netzwerk X ist Musk weltweit einer der erbittertsten Gegner von Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innenrechten im Allgemeinen. Er stellt persönlich sicher, dass Demokratie in den Betrieben, die ihn reich machen, keinen Fuß fassen kann.

Auch wenn Gewerkschaftsmitglieder nicht alle dieselbe Partei wählen, bietet der Arbeitsplatz einen gemeinsamen Ausgangspunkt.

Der bulgarische Gewerkschafter und Premierminister Georgi Dimitroff warnte in den 1930er-Jahren, als die faschistische Macht in Europa ihren Höhepunkt erreichte, vor den Musks seiner Zeit: «Man kann den Faschismus nicht beseitigen, den arbeitenden Massen demokratische Rechte gewähren und diese sichern und weiterentwickeln, ohne die Herrschaft des Kapitals selbst infrage zu stellen. Denn Faschismus ist nichts anderes als die rücksichtslose, terroristische Diktatur des Großkapitals.»

Fraglos sieht heute die Welt grundlegend anders aus als vor knapp hundert Jahren, als der Faschismus zum ersten Mal die liberale Demokratie erschütterte und drohte, die Arbeiter*innenbewegung zu zerschlagen. Doch die Herausforderung ist dieselbe geblieben. Zum Glück kämpfen Beschäftigte auf der ganzen Welt an vorderster Front für Demokratie: in Fabrikhallen und Lieferketten, über die Milliardär*innen herrschen wie Könige. Und auch, wenn Gewerkschaftsmitglieder nicht alle dieselbe Partei wählen, bietet der Arbeitsplatz einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Hier, wo zurzeit am wenigsten Demokratie erlebt wird, entscheidet sich ihre Zukunft.

 
Übersetzung von Claire Schmartz & Daniel Fastner für Gegensatz Translation Collective.