Analyse | Soziale Bewegungen / Organisierung - Parteien / Wahlanalysen - Rosalux International - Türkei Erdoğan wird nicht in kurzer Zeit zu Fall gebracht

Über das Potenzial von Organisierung und Kreativität: die neue Protestbewegung in der Türkei

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Alp Kayserilioğlu,

Istanbul, 23. März 2025: Bei den Protesten gegen die Verhaftung Ekrem İmamoğlus tanzt ein Derwisch in Gasmaske vor türkischen Anti-Riot-Polizisten, die Pfefferspray einsetzen.
Die derzeitigen Proteste in der Türkei zeichnen sich aus durch Vielfalt und Kreativität. Istanbul, 23. März 2025: Bei den Protesten gegen die Verhaftung Ekrem İmamoğlus tanzt ein Derwisch in Gasmaske vor türkischen Anti-Riot-Polizisten, die Pfefferspray einsetzen., Foto: IMAGO / ABACAPRESS

Der 18. März 2025 war der Auslöser einer Kette von Ereignissen, die unmittelbar zur Entstehung der jüngsten Protestbewegung in der Türkei führte: Das Dekanat der Universität Istanbul entzog Bürgermeister Ekrem Imamoğlu – der vor über 30 Jahren dort sein Hochschuldiplom erworben hatte – seinen Abschluss. Imamoğlu wird als Spitzenkandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) für die nächsten Präsidentschaftswahlen und damit als Herausforderer Erdoğans gehandelt. In der Türkei braucht man ein Universitätsdiplom, um an der Präsidentschaftswahl teilnehmen zu können. Doch das war erst der Auftakt: Am 19. März wurde er – zusammen mit rund hundert Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen – unter dem Vorwurf von Korruption und Terrorunterstützung in Untersuchungshaft genommen, und vier Tage später per Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis überführt.

Alp Kayserilioğlu promoviert zu Hegemonie, Autoritarismus und Widerstand in der AKP-Ära an der Universität Tübingen und lebt derzeit in Berlin.

Das Erstaunlichste an diesen Ereignissen war jedoch die darauffolgende Reaktion: Bereits am Tag der Verhaftung Imamoğlus hat sich eine landesweite Massenbewegung formiert, die unterschiedlichste Akteur*innen zusammenbrachte und diverse Forderungen artikulierte, darunter am prominentesten den Rücktritt Erdoğans und der Regierung, die Freilassung Imamoğlus und vorgezogene Neuwahlen. Schon am ersten Protestwochenende, dem 22. und 23. März, mobilisierten sich in Istanbul täglich 600.000 Menschen, und eine Großkundgebung am 29. März brachte auf der anatolischen Seite der Stadt sogar bis zu einer Million Teilnehmer*innen zusammen. Das von Erdoğan gezielt zur Schwächung der Demonstrationen auf neun Tage verlängerte Zuckerfest nach dem Ramadan führte zwar zum Abflauen der Protestbewegung. Seit dem Ende des Zuckerfests am 7. April fangen die Mobilisierungen jedoch wieder an.

Was steckt hinter dieser Dynamik? Welche strategischen Überlegungen verfolgen die zentralen Akteur*innen und wie reagiert die Opposition?

Erdoğans Kalkül

Seit Jahren steht der erfolgreiche Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu im Visier der Regierung. Bereits vor den jüngsten Entwicklungen wurde in mindestens fünf gerichtlichen Verfahren gegen ihn vorgegangen, und seit langem droht ihm das Damoklesschwert eines politisch motivierten Tätigkeitsverbots im Zuge eines jener Verfahren. Die gegen Imamoğlu erhobenen Vorwürfe entbehren jeder justiziablen Grundlage. Sein «wahres» Vergehen liegt darin, dass er sich in kurzer Zeit, nämlich seit seiner erfolgreichen Wahl zum Istanbuler Bürgermeister 2019, als ernstzunehmender Gegenkandidat zu Erdoğan etabliert hat. Seine jetzige Inhaftierung und der Diplomentzug sind jedoch nur ein Teil von Erdoğans fortwährender Strategie, alle autonomen oder oppositionellen Akteur*innen in Staat und Gesellschaft systematisch auszuschalten – ein Muster, das sich zeigt, wenn man die langjährigen Inhaftierungen führender kurdischer und linker Politiker*innen wie Selahattin Demirtaş, Figen Yüksekdağ, zahlreicher kurdischer Bürgermeister sowie von Persönlichkeiten wie dem wichtigsten Kulturmäzen des Landes, Osman Kavala, betrachtet. Neu ist daher vor allem, dass die autoritäre Eskalation nun auch gezielt gegen die republikanische türkische Opposition und einen ihrer führenden Politiker gerichtet ist – einen Kandidaten, der erstmals seit mehr als 20 Jahren eine realistische Chance gegen die AKP und Erdoğan darstellt.

Warum aber greift Erdoğan genau jetzt so entschlossen zu? 

Als politischer Stratege hat er auf den optimalen Moment gewartet: Erstens stehen die nächsten Wahlen frühestens in zwei, wahrscheinlich eher in drei Jahren (2028) an. Schafft er es, seinen Hauptgegner auszuschalten, wird es der Opposition schwerfallen, kurzfristig eine vergleichbare Führungsfigur hervorzubringen. Zudem bleibt Erdoğan ausreichend Zeit, um auch gegen einen zweiten aussichtsreichen Oppositionskandidaten – den Bürgermeister von Ankara und ebenfalls CHP-Politiker Mansur Yavaş – vorzugehen, gegen den bereits auch ein mehrstufiges Korruptionsverfahren läuft.

Der Druck, die Zinsen zu erhöhen, um den Inflationsdruck zu dämpfen, nimmt wieder zu.

Aber auch die möglichen wirtschaftlichen Folgen der Verhaftung sind, zweitens, für Erdoğan noch gut verkraftbar. Was sind diese Schäden und auf welche ökonomischen Umstände trafen sie? Die Inhaftierung hat zu einem rapiden Wertverlust an der Istanbuler Börse wie auch der Türkischen Lira geführt; letzterer konnte nur durch die Interventionen der Türkischen Zentralbank gebremst werden. Vermutlich alle Devisenreserven, die die Zentralbank mit der (semi-)orthodoxen Wende in der Zinspolitik nach den nationalen Wahlen im Mai 2023 aufbauen konnte, sind in diesem Zuge zum Einsatz gekommen. Aufgrund des Währungsverfalls und des daraus resultierenden erneuten Inflationsdrucks ist es nun wieder fraglich, ob die Zentralbank den ebenfalls ab Mai 2023 schrittweise eingeleiteten Ausstieg aus der Hochzinspolitik fortsetzen kann. Der Druck, die Zinsen zu erhöhen, um den Inflationsdruck zu dämpfen, nimmt hingegen wieder zu. Die Hochzinspolitik hatte aber zu großen Unmut vor allem bei inlandsfokussierten Unternehmer*innen geführt, da dadurch die Finanzierungskosten enorm gestiegen sind. Die Beibehaltung und eventuell sogar erneute Verschärfung der Hochzinspolitik wird die Tendenzen zur Rezession wieder stärken. Gleichzeitig konnte zwar die Inflation vergleichsweise gebändigt werden, die Kaufkraftverluste für breite Teile der Bevölkerung sind aber weiterhin immens. Die mit der (semi-)orthodoxen Wende in der Wirtschaftspolitik einhergehende lohndeflationäre Austeritätspolitik verspricht da in mittelfristiger Hinsicht auch keine Besserung. Unmut über die wirtschaftliche Situation ist daher eines der wichtigsten Elemente für die Wahlniederlage der AKP bei den Lokalwahlen im März 2024 gewesen. In Umfragen hält sich diese hohe Unzufriedenheit und die populäre Abkehr von der AKP weiterhin.

Auf dieser Grundlage könnte man nun zurecht einwenden, dass Erdoğan nicht nur keinen optimalen Moment erwischt hat, sondern völlig irrational entgegen seiner eigenen Interessen handelt, zumindest ist politökonomischer Hinsicht. Aber ein optimaler Moment ist nicht unbedingt ein problemloser; entscheidend ist, dass er der bestmögliche unter allen realistisch erscheinenden Momenten und Situationen ist. Die aktuellen wirtschaftlichen Schäden, bisher noch in Form makroökonomischer Ungleichgewichte, können bis 2027/28 so verwaltet werden, dass Erdoğan auch kurz vor den nächsten Wahlen wieder auf Wirtschaftspopulismus in Form von Mindestlohn- und Rentenerhöhungen, staatlichen Zuzahlungen, Mietpreisbremsen und vielem mehr zurückgreifen könnte. Diese Instrumente kamen auch früher schon unmittelbar vor Wahlen zur Anwendung und waren mit dafür verantwortlich, dass das Ruder wieder im Sinne der AKP und Erdoğans gewendet werden konnte. Parteistrategen der AKP wie auch der wirtschaftspolitisch stark orthodox-neoliberal orientierte Wirtschafts- und Finanzminister Mehmet Şimşek argumentieren jedenfalls in eine Richtung, wonach die derzeitigen Turbulenzen kurzfristig seien und die Türkei mittelfristig durch eine gute Positionierung in der globalen Unordnung wirtschaftlich profitieren könnte.

Es wird schwierig, das Mobilisierungstempo und die Kampfbereitschaft bis zu den nächsten Wahlen aufrechtzuerhalten.

Wendet man, drittens, den Blick auf die Opposition, so wird es zunehmend schwieriger, das anfängliche Mobilisierungstempo und die anfängliche Kampfbereitschaft bis zu den nächsten Wahlen aufrechtzuerhalten. Gut vernetzte Journalist*innen in regierungsnahen Kreisen berichten, dass die AKP plant, die Istanbuler Stadtverwaltung durch Verfahren, Repression und Schikanen zu zermürben. Gleichzeitig hofft sie darauf, dass Imamoğlu und sein öffentliches Image mit der Zeit durch die Inhaftierung verblassen und schwächer werden. Zudem mehren sich wieder interne Friktionen und Spaltungstendenzen innerhalb der Opposition. 

Nicht zuletzt profitiert Erdoğan, viertens, auch von den internationalen Entwicklungen: Mit Trump in den USA und einer EU, die dringend einsatzbereite Truppen für den Ukrainekrieg sowie moderne Rüstungsindustrien benötigt, findet er keinen besseren Zeitpunkt für seine aktuelle Offensive. Das ist nicht nur spekulative Analyse: Auch Portale wie Euractiv oder Politico berichten mit Verweis auf anonyme Quellen aus Brüssel und der EU, dass auch die EU das so ähnlich sieht.

Die jüngste Eskalationsspirale ist also noch lange nicht abgekühlt – sie hat gerade erst begonnen.

Der Charakter der Proteste

Was aber zeichnet die Proteste aus und was sind ihre Errungenschaften? 

Ursprünglich rief die CHP zu Kundgebungen vor dem Istanbuler Rathaus und dem angrenzenden Saraçhane-Park auf, doch die Proteste sprengten diesen engen Rahmen schnell. Bereits am 19. März, danach täglich, organisierten zehntausende Studierende aus nahezu allen öffentlichen Eliteuniversitäten eigenständige Demonstrationen unter der Führung linksrevolutionärer Jugendorganisationen. Parallel dazu mobilisierten sich auch anpolitisierte Jugendliche mit diffusen nationalistischen Überzeugungen, teils eigenständig, teils unter dem Einfluss rechtsextremer Gruppen, ebenfalls zu Zehntausenden und täglich. Der starke Einfluss des Nationalismus insbesondere unter Jugendlichen ist eines der Charakteristiken, die die derzeitige Protestwelle von Gezi 2013 unterscheiden. In allen Landesteilen, auch in den konservativen Hochburgen Zentralanatoliens und den Küstenregionen am Schwarzen Meer, kam es zu spontanen und lokal organisierten Protestmärschen. In Istanbul dehnten sich die Kundgebungen auf einzelne Stadtviertel aus, und fanden parallel zur täglich stattfindenden Hauptkundgebung am Rathaus statt.

Nach anfänglichem Zögern öffnete sich die CHP-Führung der Dynamik der Straße und rief sogar aktiv dazu auf, Polizeibarrikaden zu überwinden.

Einmal mehr avancierte die Jugend zur treibenden Kraft des populären Aufstandes und trieb ihn zu ungeahnten Höhen. Die Demonstrationen wiesen einen karnevalesken Charakter auf ähnlich wie beim Gezi-Aufstand 2013: Banner mit humorvollen Slogans wie «Liebe Polizei, bitte kein Tränengas – mein Mascara geht kaputt»; IT-Studierende, die Erdoğans Unmöglichkeiten per Funktionsgleichungen zu entlarven versuchen und Menschen, die verkleidet als Pikachu in der ersten Reihe mitlaufen. Da ist mal ein Demonstrant, der unter dem Beschuss von Wasserwerfern einen Fisch imitiert, während andere vor der hochgerüsteten Polizeireihe in einem Wettstreit um Liegestützen antreten; verliebte Paare machen sich Heiratsanträge direkt vor der Polizeikette, und ein Derwisch in Gasmaske tanzt seinen sufistischen Semazen, während kollektive Volkstänze, Chöre, Töpfeklopfen und hupende Autos das facettenreiche Bild des Protests untermalen.

Die CHP hat diesen Strom der Massendemonstrationen nicht selbst ausgelöst und konnte ihn auch nicht ohne weiteres kontrollieren. Doch diesmal gelang etwas, was bisher nie gelungen war: Nach anfänglichem Zögern öffnete sich die CHP-Führung der Dynamik der Straße und rief sogar aktiv dazu auf, Polizeibarrikaden zu überwinden. Seit dem Wochenende vom 22. und 23. März schwankt die CHP zwischen zwei Positionen: Einerseits versucht sie, die Bewegung zu dämpfen und kontrollierbar zu halten. Andererseits bekennt sich die CHP zugleich weiterhin zum Kampf gegen die Polizeibarrikaden und kündigt an, die Demonstrationen sogar zu verstärken. Neben der wachsenden Überzeugung, dass es ohne einen aktiven politischen Kampf auch außerhalb des Parlaments nicht gehen wird, wird die Aussicht auf noch mehr Repression die CHP dazu bewogen haben, diesmal nicht völlig vor einer aktiven Massenmobilisierung zurückzuschrecken angesichts des Drucks der Straße – etwas, was sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder getan hat.

Ohne diese Massenmobilisierung hätten sich die Wut und der Protest vermutlich in individuelle Frustration, Depolitisierung und Apathie verwandelt.

Die zweite wesentliche Errungenschaft der Mobilisierungen steht in direktem Zusammenhang mit den Dynamiken, die zur ersten Errungenschaft geführt haben. Erdoğan und sein Regime haben offensichtlich eine solche Reaktion nicht erwartet. Der Unmut, vor allem der oppositionellen Gruppen und der frustrierten Jugend, entlud sich in einer starken und organisierten Massenbewegung, die unvorhergesehen war – ein Grundmerkmal spontaner Massenereignisse, wie sie auch beim Gezi-Aufstand zu beobachten waren.

Ohne diese Massenmobilisierung hätten sich die Wut und der Protest vermutlich auf individuelle Frustration, Depolitisierung und Apathie zurückgezogen. Stattdessen versetzte die Bewegung (kleine) Berge: Erdoğan sah sich gezwungen, in kürzester Zeit Rückzieher zu machen. Offensichtlich plante die politische Justiz, die gesamte CHP-Führung abzusetzen und einen von der Zentralregierung eingesetzten Zwangsverwalter für die Partei zu installieren. Ebenso war vorgesehen, einen Zwangsverwalter für das Bürgermeisteramt Istanbuls einzusetzen. Beide Maßnahmen musste Erdoğan letztlich (vorerst) zurücknehmen.

Eine dritte unmittelbare Errungenschaft der Mobilisierungen betrifft die symbolische Bedeutung der Wahlurne in der Türkei: Die Bewegung hat einen Meinungsumschwung manifestiert. Denn die Ergebnisse von Wahlen haben in der Türkei einen nahezu sakrosankten Stellenwert, auch wenn es nur mehr verkümmerte Überreste von bürgerlicher Demokratie gibt in der Türkei. Erdoğan tut alles, was in seiner Macht steht, um ihm konforme Wahlergebnisse hervorzubringen. Aber das klappt nicht immer so, wie er will, und er bleibt weiterhin daran gebunden, sich irgendwie elektoral zu legitimieren. Zudem ist auch zu beachten, dass die Missachtung von Wahlergebnissen nicht überall die gleiche Empörung hervorruft. In den kurdischen Regionen beispielsweise werden Wahlergebnisse seit langem mit Füßen getreten – ein Umstand, der im übrigen Teil der Türkei meist nur mit wenig Interesse aufgenommen wird. Hier verläuft die racial line im Lande. Dennoch gibt es Gelegenheiten, bei denen Wahlbetrug oder die Missachtung der Ergebnisse auch über diese Grenze hinaus heftige Reaktionen auslösen – besonders in Istanbul.

Umfragen verdeutlichen das Ausmaß der Legitimationskrise, in der sich die AKP derzeit befindet.

Bereits bei den Lokalwahlen am 31. März 2019 scheiterte der Versuch, den Sieg Imamoğlus durch den Einsatz der politischen Justiz zu unterdrücken. Bei der Wiederholung der Wahl in Istanbul am 23. Juni 2019 errang Imamoğlu einen überwältigenden Vorsprung. Bei den Lokalwahlen 2024 wuchs Imamoğlus Vorsprung noch mehr. Und nicht zuletzt taucht er in Wahlumfragen als ein starker Konkurrent zu Erdoğan in anstehenden Präsidentschaftswahlen auf. Unter diesen Umständen war es von Anfang an ein riskantes Unterfangen, einen derart populären und erfolgreichen Politiker gewaltsam unterdrücken zu wollen. Die starke Mobilisierungswelle machte den kollektiven Unmut sichtbar und formte ein breites Bewusstsein für Ungerechtigkeit und legitimen Widerstand. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage des KONDA-Instituts halten 73 Prozent der Befragten diese Demonstrationen für legitim, wenn auch mehrheitlich unter der Bedingung, dass sie gewaltfrei bleiben – während eine weitere Umfrage ergibt, dass etwa 60 bis 70 Prozent die Verhaftungen als ungerecht empfinden. Andere Umfragen bestätigen grob diesen Trend und den weit verbreiteten Wunsch nach vorgezogenen Neuwahlen. Sie verdeutlichen das Ausmaß der Legitimationskrise, in der sich die AKP derzeit befindet.

Wie geht es weiter? Linke Perspektiven auf die Proteste

Die eigentliche Herausforderung beginnt jetzt: Es gilt, das gegenwärtige Mobilisierungsniveau nicht nur beizubehalten, sondern noch weiter auszubauen. Erdoğan wird nicht in kurzer Zeit zu Fall gebracht, er ruht sich nicht aus. Stattdessen setzt er konsequent seine Kontrolle über die politische Justiz ein und droht mit Gewalt, um die Protestierenden einzudämmen. Ohne regelmäßige Straßenproteste besteht die Gefahr, dass die Macht und Aura seines Repressionsapparates unvermindert bleibt und der Mut sowie das Unrechtsgefühl in der Bevölkerung langsam schwinden. Deshalb sind neue, kreative Protest- und Aktionsformen erforderlich, die über symbolische Gesten hinausgehen und politische Impulse setzen, während sie zugleich frische Energien freisetzen.

Ziel ist es, mehr als 27 Millionen Unterschriften zu sammeln

Vor diesem Hintergrund ist der Plan der CHP, mit einer landesweiten Unterschriftenkampagne Neuwahlen zu erzwingen, ein guter Ansatz. Ziel ist es, mehr als 27 Millionen Unterschriften zu sammeln – eine Zahl, die der Stimmenzahl entspricht, die Erdoğan bei der letzten Präsidentschaftswahl erhielt. Die ersten Schritte sind bereits erfolgt: Durch spontan organisierte Solidaritätsurnen konnte die Bewegung landesweit 15 Millionen Unterschriften für Imamoğlu als Präsidentschaftskandidaten gewinnen. Wird es gelingen, nun in einem zweiten Schritt die 27 Millionen zu knacken, wird der Druck auf Erdoğan erheblich zunehmen. Zusammen mit fortwährenden Demonstrationen wäre es dann selbst für Erdoğan und sein Umfeld kaum mehr möglich, den Protest nachhaltig zu unterdrücken. Die CHP ist derzeit zu zaghaft und mobilisiert wieder nur auf überschaubarem Niveau. Eine alternative Dynamik zu ihr entwickelt sich derzeit noch nicht. 

Parallel dazu könnten wirtschaftliche Boykotte den Protest zusätzlich stärken. Zunächst hatte die CHP zu einem flächendeckenden Boykott regierungsnaher Unternehmen aufgerufen. Die Studierenden hingegen ließen sich durch erfolgreiche Kampagnen in Ländern wie Serbien und Kroatien inspirieren und weiteten den Boykott auch über diese Kreise hinaus aus. Schließlich profitieren die größten türkischen Unternehmen am meisten vom neoliberalen System der AKP-Ära – selbst wenn sie sich heute als Unterstützer einer Demokratisierung präsentieren. Ein Generalboykott umgeht kulturkämpferische Spaltungen in «gute» und «böse», fortschrittliche und rückschrittliche Kapitalist*innen – eine Unterscheidung, die Erdoğan selbst oft nutzt zur Polarisierung der Bevölkerung und Mobilisierung seiner eigenen Basis.

In der Tat fand der erste landesweite Konsumboykott bereits am 2. April statt – spontan, ohne zentrale Koordination. Erste Daten und Analysen zeigen, dass er partiell erfolgreich war und das Einkaufsvolumen in Teilen bis zu 40 Prozent zurückging. Hier zeigte sich auch, dass der Widerstand nicht nur das Bestehende ablehnen muss, sondern auch alternative Formen des Zusammenlebens fördern kann. In oft von Linken organisierten Boykott-Cafés und Tauschbörsen trafen sich Menschen, um abseits von Warenbeziehungen Gemeinschaft zu schaffen und so öffentlichen Raum und Gesellschaft zurückzuerobern. Boykott bedeutet aus einer solchen Perspektive dabei nicht den Rückzug ins Private, sondern aktives Engagement in der Gemeinschaft. In Zukunft könnten auch Boykott-Restaurants, -Bars oder -Konzerte auf Straßen, in Parks und an öffentlichen Plätzen organisiert werden. Der von der Linken diskutierte Generalstreik ist zwar schwer durchsetzbar, aber Arbeitsniederlegungen in Bildungseinrichtungen und gut organisierten Sektoren könnten den Protest auf der Produktionsseite weiter radikalisieren. Bereits jetzt sind Studierende Vorreiter*innen, indem sie kontinuierlich Universitäten bestreiken – ein Trend, dem auch das akademische Personal und ihre gewerkschaftlichen Vertreter*innen folgen und dafür auch juristisch geahndet werden.

Der gravierende Nationalismus in weiten Teilen der Opposition ist ein Problem.

Ein anderes Problem ist der gravierende Nationalismus in weiten Teilen der Opposition. Politisch relevant ist vor allem der Rassismus gegen Kurd*innen, da diese eine gut organisierte starke Minderheit bilden und mehrheitlich zur Opposition gehören. Nationalismus, vor allem der türkische, hat seit Jahren zu einer Spaltung der Opposition geführt und tut es auch heute noch. Ein durchdachtes politisches Vorgehen sollte nicht nur klare Stellung beziehen gegen die organisierten Spitzen des Nationalismus und Rechtsextremismus in der Türkei, vor allem in der Opposition. Es muss sich auf verbindende Elemente wie Demokratisierung und sozialen Frieden konzentrieren – Elemente, von denen alle Bevölkerungsgruppen in der Türkei profitieren würden.

Die Herausforderung besteht darin, den Einfluss rechtsextrem-nationalistischer Kräfte auf die Demonstrationen zu verhindern, ohne die nationalistisch geprägten Teile der türkischen Jugend zu verlieren – denn starker, aber diffuser Nationalismus muss nicht zwangsläufig in Faschismus oder Rechtsextremismus umschlagen. Viele junge Menschen beklagen den Verlust persönlicher Freiheiten und ihre ökonomische Perspektivlosigkeit, erinnern sich positiv an frühere Proteste und wünschen sich echte, alternative Angebote. Es gilt, diesen Widerspruch – nationalistisch und zugleich freiheitsorientiert zu sein – anzusprechen und den Jugendlichen andere Perspektiven zu eröffnen als jene, die von rechtsextremen Kräften propagiert werden. Eine konsequente Demokratisierungsperspektive zu stärken wird gleichzeitig die Kurd*innen stärker in die Proteste einbinden können, von denen diese bisher eher fern blieben wegen des starken Nationalismus.

Kampfformen, die aktive Partizipation ermöglichen, sind zentral für die Entfaltung des Protestpotenzials.

Über eine politische Ökonomie im Sinne der Arbeiter*innen redet heut keine der führenden Kräfte auf Regierungs- und Oppositionsseite: Wenn die Linke den dramatischen Einbruch des Lebensstandards des Großteils der Bevölkerung adressiert und Alternativen zu den herrschenden Spielarten des Neoliberalismus aufzeigt, kann sie auch die lagerübergreifende Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage in Richtung einer postneoliberalen Wirtschaftsordnung mobilisieren und damit die Proteste stärken. Kampfformen, die nicht das Private oder eine paternalistische Bevormundung im Rahmen bestehender Strukturen betonen, sondern aktive Partizipation ermöglichen wie die erwähnten Boykott-Cafés, sind zentral für die Entwicklung und Entfaltung eines solchen Potenzials.

Die derzeitigen Proteste in der Türkei zeichnen sich aus durch Vielfalt, Kreativität und Spontaneität einerseits, und organisierte Strukturen andererseits. Ohne eine Verdichtung oppositioneller Macht werden Erdoğans institutionelles Gefüge und die Reste seiner Hegemonie nicht zu brechen sein – ohne Vielfalt und Spontaneität wird es jedoch keine breitere Legitimation der Proteste in der Bevölkerung geben und keine alternative Vision für eine zukünftige Türkei entstehen. Beides wird jetzt benötigt.