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Interview mit Julia Bar-Tal zum Tag des bäuerlichen Widerstands

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Julia Bar-Tal, Landwirtin und Aktivistin Foto: Spore Initiative

Der Internationale Tag des bäuerlichen Widerstands wird seit 29 Jahren am 17. April begangen. Die Organisation La Via Campesina ruft in der Woche um den 17. April weltweit zu Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen auf. Der Gedenktag geht auf ein Massaker im Jahr 1996 im brasilianischen Eldorado dos Carajás zurück, bei dem 19 Aktivist*innen der Bewegung der Landlosen (MST) von der Polizei ermordet wurden. 

Tanja Tabbara (Rosa-Luxemburg-Stiftung) sprach mit Julia Bar-tal, Landwirtin und Aktivistin, über diesen Tag im Jahr 2025, was es auf dem Land in Brandenburg braucht und wie bäuerliche Solidarität in Kriegszeiten aussieht.  

Tanja Tabbara: Kannst Du beschreiben, was Du hier aufbaust?

Julia Bar-Tal ist Landwirtin mit eigenem Betrieb in Brandenburg, Agrarreferentin, Aktivistin. Sie engagiert sich seit vielen Jahren in der internationalen Solidaritätsbewegung und hat in Syrien während des Krieges 2015 ein Netzwerk zu Ernährungssouveränität mitgegründet.

Julia Bar-Tal: Als Landwirtin bewirtschafte ich wahnsinnig gerne große Grünlandflächen mit Weidetieren und spanne unglaublich gerne Arbeitspferde ein. Im Grünland bin ich also auf größeren Flächen unterwegs, auf dem Acker und im Garten auf sehr viel kleinteiligeren Strukturen. Hier an meiner neuen Hofstelle entsteht ein schöner Gemüsegarten und ein gastfreundliches Haus. Das ist das, was mir Freude macht und was ich gut kann. Politisch stehe ich aber für die Vielfalt der Brandenburger Betriebe ein. Das sind große und kleine und in der Vielzahl auch solche, die besser mit dem Traktor bewirtschaftet werden. Wichtig ist mir, dass wir für Bauern und Bäuerinnen einstehen und nicht für Konzerne und Investoren. Wenn ich im Moment schaue, was in Deutschland passiert, habe ich das Gefühl, dass wir in einer immer stärker polarisierten Gesellschaft leben: Landwirtschaft wird gegen Naturschutz ausgespielt oder die Biolandwirtschaft gegen die konventionelle Landwirtschaft. Zunehmend spürt man, dass Menschen so unter Druck stehen, sich verteidigen und abgrenzen müssen und oft nicht mehr in der Lage sind, miteinander ins Gespräch zu kommen oder diese Polarisierungen aufzubrechen. Daher soll dieser Hof auch ein Ort des Austauschs werden. 

Und wie ist es für dich, das hier in Brandenburg zu machen, wo die AfD etwa 40 Prozent bei den letzten Bundestagswahlen geholt hat? 

Also zumindest überrascht mich das Wahlergebnis nicht. Leider. Und gleichzeitig komme ich aus dem ländlichen Raum und bin natürlich auch solidarisch mit meinem Berufsstand und lasse nicht zu, dass alle über einen Kamm geschoren werden. In vier Jahren Geschäftsführung der ABL Nordost (Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft, Anmerkung der Red.) habe ich unsere Bauern und Bäuerinnen mit Herz und Leidenschaft und in all ihren Unterschieden vertreten und trete immer für die Solidarität und die Empathie mit den Leuten hier ein und den vielen, die ja nicht rechts wählen, die einfach übersehen werden. 

Das meiste Wissen, die meisten Bildungsinitiativen bleiben in den Städten, und wenn sie überhaupt mal den Weg aufs Land schaffen, kommen sie vielleicht gerade so hinter die Stadtgrenze gerollt und erschlaffen da dann auch schon wieder. 

Es gibt manchmal eine Art, wie der urbane Raum den ländlichen Raum behandelt und auch uns Menschen aus dem ländlichen Raum. Wir produzieren hier alles, was der städtische Raum braucht, und wir haben keines der Privilegien, um es mal zuzuspitzen. Also jede Energie, jedes Lebensmittel, alles, was der städtische Raum konsumiert, wird hier geschaffen. Und es bleibt fast nichts von der Wertschöpfung in der Region. Und diese Strukturfragen werden nicht gestellt und diskutiert. 

Was braucht es denn an Strukturen und Initiativen auf dem Land in Brandenburg? 

Es hat ja Konsequenzen, wenn wir diese Regionen nicht entwickeln. Wenn allerdings «entwickeln» von oben nach unten geschieht, also über die Köpfe der Leute hinweg, dann wenden Menschen sich ab oder fühlen sich im Stich gelassen. Wir brauchen soziale Infrastruktur, wir brauchen Austausch, wir brauchen Leute, die mit der notwendigen Offenheit herkommen. Wir müssen aber auch Geld verdienen mit dem, was wir hier machen. Wenn wir nicht davon leben können, wenn Betriebe insolvent gehen, wenn Leute nur beschissene Jobs machen, die sie frustrieren, mit schlechter Bezahlung, dann ist das natürlich ein Riesenproblem. 

Natürlich brauchen wir eine kritische und widerständige Auseinandersetzung, wenn Leute für furchtbare Dinge eintreten, aber ich glaube auch, dass Kritik besser funktioniert, wenn sie erstmal aus einer solidarischen Basis heraus entsteht. Wenn man Leuten und dem ländlichen Raum grundsätzlich nicht empathisch gegenübersteht, und dann mit dem erhobenen Zeigefinger um die Ecke kommt, bringt das wenig. Und dann wünsche ich mir eine Pluralität der Debatte, die auch neue Perspektiven eröffnet. Das meiste Wissen, die meisten Bildungsinitiativen bleiben in den Städten, und wenn sie überhaupt mal den Weg aufs Land schaffen, kommen sie vielleicht gerade so hinter die Stadtgrenze gerollt und erschlaffen da dann auch schon wieder. 

Wie kamst Du als Landwirtin in Brandenburg zur internationalen Solidaritätsarbeit?

Egal, ob ich hier in Brandenburg agrarpolitisch tätig bin und unsere Bauern und Bäuerinnen vertrete, oder ob ich in Syrien oder in anderen Ländern Bauern und Bäuerinnen unterstütze, kann und will ich persönlich das nur aus meiner bäuerlichen Identität heraus machen. Als Landwirt oder Landwirtin verbindest du dich mit dem Ort, mit dem Klima, mit dem Boden, auf eine Art, dass, wenn dir das Land verloren geht, das eine wirkliche Identitätskrise auslöst. Das sind nicht einfach ein Job oder ein Wohnort, die ich dann wechsle. Für Leute in Ländern, die von Krieg, Konflikt und Vertreibung betroffen sind, ist natürlich das Ausmaß der Gewalt noch viel massiver und schwerwiegender. Durch meine Identität als Bäuerin, und meine Liebe und Empathie –  wir können es auch Solidarität nennen –  ist es für mich irrelevant, ob es der Landwirt in Brandenburg ist, die Landwirtin in Bayern oder in Syrien oder dem Libanon oder wo auch immer. 

Die Welt kann sehr grausam gegenüber Bauern und Bäuerinnen sein, und wir gleichen uns doch oft, in unserem Leiden, aber eben auch in unseren Stärken. Und es geht dabei auch nicht nur um Bauern und Bäuerinnen, oft sind auch Landlose betroffen, wie zum Beispiel migrantische Arbeiter*innen oder Saisonarbeiter*innen, oder eben auch Gartenaktivist*innen, die zum Beispiel in Syrien in den Städten unter Bombardierung Netzwerke für Ernährungssouveränität aufgebaut haben. Also dieses Zupackende und Lösungsorientierte, das ist auch eine wahnsinnige Stärke, die wir in dem Berufsstand miteinander haben. Da wo wir solidarisch miteinander sind und uns gegenseitig unterstützen kann das Berge bewegen. Das ist dann eine unglaubliche Kraft.

Wenn Städte ausgehungert werden, wenn es darum geht, Leute zu ermorden, ganze Gemeinden durch Hunger in die Knie zu zwingen, dann werden Leute im Zweifelsfall umgebracht, die versuchen, durch diese Blockade Saatgut zu bringen.

Du warst bei der Gründung des Netzwerkes 15th Garden zu Ernährungssouveränität in Syrien dabei. Wie entstand das Netzwerk?

15th Garden ist das erste Netzwerk zu Ernährungssouveränität von Syrien und all seinen Menschen. Im Deutschen klingt es etwas komisch, auf Englisch heißt es Syria and all its people. Wir haben uns das erste Mal am 15. März 2014 getroffen, das ist ja auch der Jahrestag der syrischen Revolution (am 15. März 2011, Anmerkung d. Red.). Der 15. Garten ist der Garten, wo Selbstbestimmung, Freiheit, Würde, also alle Forderungen der syrischen Revolution und darüber hinaus symbolisch wachsen sollten. Und zwar eben für alle Menschen Syriens. Die Mitbegründer*innen des Netzwerks, die aus allen Regionen Syriens kamen, drückten es explizit antisektiererisch aus. Es war den Leuten total wichtig, dass das in diesem Untertitel auch noch vorkommt, of Syria, First Food Sovereignty Network of Syria and all its people, whoever they are. Und auch of Syria and all its people, also auch geografisch, weil ja damals schon der Massenexodus, die Fluchtbewegungen, stattfanden. Das Netzwerk hat sich in kürzester Zeit in alle Regionen Syriens ausgebreitet und wurde ein sehr großes Netzwerk.

Was bedeutet Krieg für kleinbäuerliche Strukturen?

Ich glaube, wir waren das erste Netzwerk, das Strategien zur Verteidigung der Ernährungssouveränität in Kriegszeiten entwickelt hat. Nehmen wir als Beispiel den Irakkrieg, wo 2003 mit der Bombardierung der Saatgutbank, aber dann auch mit der später aufoktroyierten Verfassung und den Gesetzen zu Saatgut, die bäuerlichen Strukturen zerstört wurden. Die Menschen mussten während der Bombardierungen fliehen und es wurde ganz viel zerstört, sie selber wurden teilweise ausradiert. Für Landwirt*innen hieß das, dass ihr Saatgut, was jedes Jahr in die Erde kommen muss, nicht weiter vermehrt wurde. Es ging damit unwiederbringlich verloren. Das gleiche gilt für Obstbäume, für Beeren, die niedergebrannt, ausgerissen, niedergeschnitten wurden oder die einfach eingingen, weil sie ein paar Jahre nicht gepflegt wurden. Und die sind dann für immer weg. In Afghanistan haben 40 Jahre Krieg zur kompletten Vernichtung von bäuerlichen Strukturen geführt. 

Wer profitiert vom Hunger in Kriegszeiten?

Es gibt eine Form von Cold Violence die nicht unbedingt erst nach der Hot Violence einsetzt, sondern oftmals zeitgleich. Wir sehen, wie dann auch Entwicklungshilfe oder auch Ernährungshilfeprogramme schon in der Zeit der Hot Violence laufen und Schaden anrichten, indem zum Beispiel hybrides oder gentechnisch verändertes Saatgut eingeführt wird. Der Wiederaufbau oder die Vereinnahmung der zukünftigen Märkte wird ja oft schon während des Krieges entschieden und gestaltet. Nothilfe kann in Form von Foodpackets daherkommen. Aber wenn dann Verkehrswege zu sind oder die internationale Gemeinschaft einfach entscheidet, nicht zu liefern, dann wird Hunger als Waffe eingesetzt. Das haben wir in Syrien gesehen, das sehen wir auch in anderen Regionen. Jetzt verrecken die Leute in Gaza, während die LKWs vor der Grenze stehen. Im Netzwerk in Syrien haben wir Strategien entwickelt, dass Menschen überleben können, oder dass sie weiter anbauen können. Man hat im Laufe des Krieges so viel Gewalt über Syrien ausgeschüttet, damit wurde auch das Netzwerk in Syrien ausradiert. Aber das Wissen konnte man den Leuten nicht nehmen. Das Netzwerk hat sich dann wie ein Geschenk an die Welt in anderen Ländern der Region weiterentwickelt. Ich hoffe sehr, dass Syrer*innen jetzt in einem freien Syrien, wo noch nicht ganz klar ist, wie die Entwicklung weitergeht, auch wieder daran anknüpfen können.

Wie habt Ihr in dem Netzwerk konkret die Menschen in Syrien unterstützt? 

Wir haben zum Beispiel Saatgut hingebracht. Wenn ich jetzt sage «wir», dann meine ich ein syrisches Netzwerk. Das Netzwerk war syrisch und die Arbeit wurde von den Menschen dort gemacht. Und dann kamen immer wieder Unterstützer*innen dazu. Also ich meine ein syrisches Wir, an dem ich das große Privileg hatte, teilhaben zu dürfen. Das Brückenbauen wurde dann eine meiner solidarischen Aufgaben, zum Beispiel, wenn Saatgut oder bestimmte Informationen zu einem Thema gebraucht wurden. Syrer*innen waren ja auch teilweise einfach eingesperrt und abgeschnitten in Syrien. Durch Jahrzehnte der Diktatur hatten sie nicht diese Beziehungen zu internationalen Netzwerken.

Ähnlich wie hier hat in Syrien eine Industrialisierung der Landwirtschaft stattgefunden und auch eine Urbanisierung, wo ganze Generationen gar keine Ahnung mehr haben, wie man eigentlich Lebensmittel produziert. Das heißt, es wurde in dem Netzwerk Wissen entwickelt und verbreitet, zum Beispiel was hybrides, gentechnisch verändertes oder samenfestes Saatgut bedeutet. Die Menschen hatten gar keinen Zugang mehr zu ihrem eigenen Saatgut. Das Wissen darüber, wie man eigenes Saatgut vermehrt, geht dann auch über ein, zwei Generationen verloren. Das syrische Regime hatte ja alles kontrolliert und zentralisiert. Leute haben ihr Leben riskiert, Saatgut zu schmuggeln. 

Wenn Städte ausgehungert werden, wenn es darum geht, Leute zu ermorden, ganze Gemeinden durch Hunger in die Knie zu zwingen, dann werden Leute im Zweifelsfall umgebracht, die versuchen, durch diese Blockade Saatgut zu bringen. Das heißt, es waren wirklich auch Gärten in Städten, die umzingelt und ausgehungert und bombardiert wurden, wo dann Gemeinschaften immer noch viel zu wenig Lebensmittel hatten, aber zumindest überleben konnten. 

Wie wurden in dem Netzwerk Entscheidungen getroffen?

Es ging im Netzwerk immer darum, für die jeweilige Situation passende Lösungen zu finden. Es hat sich ja nicht jemand in einem Büro überlegt, was das Richtige für die Leute ist, sondern wir haben uns getroffen als Bauern und Bäuerinnen, Gärtner und Gärtnerinnen und jeder hat seinen Ort und die eigenen Herausforderungen vorgestellt und für jeden Ort wurde auch gemeinsam eine eigene Strategie entwickelt. Das galt auch für die Vermarktung oder die Verteilung von Lebensmitteln. Zum Beispiel wurden durch Nothilfe Essenspakete in Regionen gebracht, wo aber Bauern und Bäuerinnen immer noch produzierten. Für viele sind dann die lokalen Märkte kollabiert. Da brauchte es dann eine Vermarktung, dass Lebensmittel nicht einfach umsonst verteilt wurden, sondern dass man Strategien zusammen mit den lokalen Räten und den Gemeinden entwickelte, um wieder einen Kreislauf zu entwickeln, an dem Menschen sich beteiligen konnten. 

Am 17. April ist der Tag des bäuerlichen Widerstands. An welche Bewegung oder an welche Person denkst Du dabei im Jahr 2025? 

Ich bin einfach gerade so traurig und so verzweifelt wie, glaube ich, viele von uns über das unglaubliche Leid in einer wahnsinnigen Konzentration auf einem so kleinen Landstrich wie Gaza, wo Hunger als Waffe so gnadenlos und so explizit und vor den Augen der Weltöffentlichkeit eingesetzt wird. Ich bin entsetzt über die Position Deutschlands dazu und die Gefahr, die auch uns droht, wenn plurale Debatten für das Völkerrecht hier so unter Angriff stehen, wie wir es gerade erleben. 

Ich sehe auch die riesigen Herausforderungen, vor denen die Bauern und Bäuerinnen jetzt in Syrien stehen. Manche Freunde von unseren Leuten aus dem Netzwerk von 15th Garden sind nach dem 8. Dezember zurückgekehrt in ihre Dörfer, zum ersten Mal seit Jahren. Ob sie dann erst mal nur gucken oder auch bleiben? Und sie finden ihr Zuhause als Geröllhalde vor oder als nackte Bauruine, weil alles geplündert ist, jahrelange Geisterdörfer. Es gibt kein Stromkabel, kein Wasser. 

Ich denke an jeden, der Obstbaumvermehrer ist und jetzt in sein Dorf zurückkehrt, das früher geblüht hat und wo lebendige Erde und zugängliches Wasser und Felder waren und wo jetzt Brache und Geröll sind und keine Infrastruktur mehr und auch kein einziger Baum. Die Menschen müssen sich aus dem Nichts heraus wieder neu erfinden. Ihre Hoffnung braucht unsere Solidarität.