Analyse | Partizipation / Bürgerrechte - Rosalux International - Krieg / Frieden - Südostasien Südkorea nach dem Putsch

Das Verfassungsgericht hat Präsident Yoon endgültig abgesetzt, doch die politischen und sozialen Widersprüche bleiben

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Autorin

Canan Kus,

Viele Menschen feierten in Südkorea die endgültige Absetzung von Präsident Yoon durch das Verfassungsgericht. Mit dem Versuch, durch Ausrufung des Kriegsrechts die Opposition zu entmachten, hat Yoon tiefe Wunden in der koreanischen Gesellschaft hinterlassen. (Seoul, 4.4.2025) Foto: IMAGO / AFLO

Die Straßen von Seoul sind erfüllt von einer eigenartigen Mischung aus Alltag und politischem Ausnahmezustand. Junge Menschen sitzen neben mir in Cafés und Lernen für die nächste Prüfung oder diskutieren über die neueste Musik. Auf den Bildschirmen im Hintergrund flackern die Nachrichten zu den aktuellen politischen Umwälzungen. Es ist der 5. April 2025. Gestern hat das Verfassungsgericht den Präsidenten Yoon Suk Yeol endgültig seines Amtes enthoben. Das Urteil gegen Yoon war deutlich und bemerkenswert scharf. Die Verhängung des Kriegsrechts und die versuchte Einflussnahme auf die Justiz hat das Gericht als verfassungswidrig eingestuft. Doch einen grundsätzlichen Bruch mit den bestehenden Machtverhältnissen markierte das Urteil nicht.

Canan Kus arbeitet seit 2022 im Asien-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist derzeit in das Länderbüro Beijing entsandt. Sie hat einen MA in Ostasienwissenschaften und arbeitet zu Multipolarismus und Geopolitik im Indo-Pazifik.

Mit seiner letztlich am Parlament gescheiterten Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 2024 hat Yoon tiefe Wunden in der koreanischen Gesellschaft hinterlassen. Die Begründung für den versuchten Putsch, das Land vor «pro-nordkoreanischen und antinationalen Kräften» zu schützen, haben viele als Vorwand gewertet, autoritäre Kontrolle auszuüben und oppositionelle Kräfte zu unterdrücken. Die darauffolgenden Massenproteste und die große öffentliche Zustimmung zum Amtsenthebungsverfahren zeigen, dass die Hoffnung auf eine funktionierende Demokratie in Südkorea allein auf der Zivilgesellschaft ruht. 

Wie politisch zerrüttet das Land ist, zeigt sich auch durch eine gefährlich verengte Debattenkultur, die stark durch entgegengesetzte Weltbilder geprägt ist: pro-amerikanisch und (neo)liberal auf der einen, und – vermeintlich – pro-chinesisch, kommunistisch und pro-nordkoreanisch auf der anderen Seite. Diese ideologische Lagerbildung lenkt ab von den eigentlich wichtigen Fragen, die jetzt nach der Amtsenthebung Yoons gestellt werden müssten: Welche Rolle spielt Südkorea im globalen Kapitalismus? Und welche sozialen Widersprüche und Spaltungen ergeben sich daraus? 

Das einfache Freund-Feind-Schema hat eine Funktion: Es lenkt von den realen Machtverhältnissen ab. Mal muss Nordkorea, mal das kommunistische China herhalten, wenn innenpolitische Spannungen eskalieren oder soziale Forderungen zu laut werden.

Südkorea ist zwischen ideologische Lagern gespalten

Der Putschversuch vom Dezember 2024 und die ihm zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse haben ideologische Wurzeln, die weit in der koreanischen Geschichte zurückreichen. Die Polarisierung der öffentlichen Debatte geht zurück auf die Logik des Korea-Kriegs von 1950 bis 1953. Die Gegenüberstellung von vermeintlich pro-amerikanischer oder pro-kommunistischer Haltung wirkt bis heute als Raster, das den Blick auf die sozialen und ökonomischen Ursachen der gesellschaftlichen Konflikte verstellt. Wer sich etwa für Umverteilung, Arbeitnehmer*innenrechte oder einen Frieden mit Nordkorea einsetzt, gilt nicht nur als «links», sondern wird unabhängig von den tatsächlichen politischen Positionen als «pro-Nordkorea» oder «kommunistisch» verunglimpft. Auf der anderen Seite steht ein konservatives Lager, das sich stark mit den USA identifiziert, Sicherheit und Freiheit des Einzelnen in den Vordergrund stellt und neoliberale Reformen mit nationaler Stärke verbindet.

Doch Südkorea teilt sich nicht nur ideologisch, sondern auch soziologisch in Lager auf. In den letzten Jahren ist besonders bei jungen Männern und Frauen eine wachsende politische Polarisierung zu beobachten. Aber auch die Gräben zwischen konservativem Land und mehrheitlich progressiven Städten vertiefen sich. Die parteipolitische Ausrichtung ist oft nicht ideologisch fundiert, sondern emotional oder erfahrungsbasiert. Die Konfliktlinien laufen entlang der Themen nationale Sicherheit, der Nordkorea-Frage, Geschlechterpolitik und wirtschaftlicher Ängste.

Das einfache Freund-Feind-Schema hat eine Funktion: Es lenkt von den realen Machtverhältnissen ab. Statt nach den strukturellen Gründen für die zunehmende soziale Ungleichheit oder die Rückschritte in der Demokratie zu fragen, haben die bisherigen Regierungen die Schuld auf außenstehende Faktoren projiziert. Mal muss Nordkorea, mal das kommunistische China herhalten, wenn innenpolitische Spannungen eskalieren oder soziale Forderungen zu laut werden.

Die Paradoxie ist nicht zu übersehen: Während Washington neue Strafzölle und Technologiebeschränkungen erlässt, klammern sich Menschen in Seoul an die Flagge, die für sie Schutz, Ordnung und Wohlstand bedeutet.

Spagat zwischen China und den USA

Dabei wird im Land gerne vergessen, dass Südkorea tief in auch widersprüchliche globale Abhängigkeiten verstrickt ist. Ökonomisch ist es massiv von China abhängig, seinem größten Handelspartner, aus dem die Halbinsel auch große Teile ihrer Nahrungsmittel bezieht. Sicherheitspolitisch hingegen ist es fest verankert im strategischen Bündnis mit den USA und ein zentraler Pfeiler der Indo-Pazifik Strategie des Westens. Die geopolitische Lage des Landes zwischen Nordkorea, China, Japan und dem Pazifikraum macht es zu einem zentralen Baustein der US-amerikanischen Sicherheitsstrategie. Diese beidseitige und zumal ambivalente Einbindung führt zu einem ständigen Balanceakt. Doch in der öffentlichen Debatte in Südkorea wird dieses strukturelle Problem nie als ein solches angesprochen, sondern als moralische Frage nach «Loyalität». 

Als ich am Tag vor der Amtsenthebung an den historischen Mauern von Cheongdukgong, einem der wichtigsten Paläste in Seoul, entlang Richtung Anguk lief, stieß ich am Rand eines Platzes auf eine kleine, aber laute Versammlung. Ältere Männer in beigen Windjacken, einige davon mit «MAGA»-Kappen, schwenkten koreanische und amerikanische Flaggen. Eine Frau hielt ein Plakat hoch, auf dem in koreanischer Sprache geschrieben stand: «Koreanische Freiheit kann nur mit Amerika beschützt werden». Wenige Straßenzüge vom offiziellen Versammlungsort der Anti-Yoon-Proteste entfernt sangen Männer die Nationalhymne und protestierten für die Befreiung des Ex-Präsidenten und damit auch für die Freiheit Koreas insgesamt. Es war keine große Menge, vielleicht drei Dutzend Menschen, flankiert von einer Handvoll Polizisten mit Kameras. Was hier sichtbar wurde, war keine Randnotiz, sondern ein aufgeladener Ausdruck politischer Identität: Für viele von ihnen war Yoon nicht ein Präsident unter Kritik, sondern ein Garant der Ordnung – und die USA nicht irgendein geostrategischer Partner, sondern ein Symbol für Schutz und Aufstieg. 

Die Paradoxie ist nicht zu übersehen: Während Washington neue Strafzölle und Technologiebeschränkungen erlässt, klammern sich Menschen in Seoul an die Flagge, die für sie Schutz, Ordnung und Wohlstand bedeutet. Die enge Allianz mit den Vereinigten Staaten wird in der kollektiven Erinnerung mit dem Schutz vor dem «Kommunismus aus dem Norden», dem Wiederaufbau nach dem Krieg, dem Eintritt in den globalen Kapitalismus und dem zeitgleichen Aufschwung der Halbinsel verbunden. In Schulbüchern, Medien und politischer Rhetorik wurde die Erzählung über Jahrzehnte hinweg verfestigt. Die USA erscheinen nicht als imperiale Macht mit eigenen Interessen, sondern als «Befreier» und «Garanten für Demokratie» – eine Darstellung, die jede Kritik leicht als fehlende Dankbarkeit oder gar Verrat erscheinen lässt. Bildung, Medien und Kultur verstärken ein Bewusstsein, das die herrschenden Verhältnisse als natürlich erscheinen lässt. Die USA erscheinen als «Partner», obwohl die wirtschaftliche Realität längst von Abhängigkeiten, Wettbewerbsverzerrungen und politischer Bevormundung geprägt ist. Die Loyalität bleibt bestehen, weil sie kulturell tief verankert ist – nicht, weil sie rational begründet oder materiell gerechtfertigt wäre. Die symbolische Nähe zu Amerika hat sich verselbstständigt: Sie funktioniert nicht als Analyse, sonders als Identität und Sicherheitsversprechen. Gleichzeitig dient die Ablehnung gegenüber China als ideologisches Ventil, um Unsicherheiten, wirtschaftliche Ängste oder nationale Minderwertigkeitsgefühle umzulenken. Die emotional aufgeladene US-Treue und das Misstrauen gegenüber China erschweren eine eigenständige politische Strategie, die gerade jetzt im Anschluss an die Amtsenthebung von Yoons notwendig wäre.

Die Absetzung Yoons bedeutet also nicht, dass sich die Lage im Land schnell beruhigen wird. Die vergangenen Monate haben tiefe Spuren hinterlassen, politisch, gesellschaftlich aber auch wirtschaftlich.

Krise, Repression – und soziale Proteste

Die Folge ist, dass kaum über Friedenspolitik, Abrüstung oder regionale Entspannung gesprochen wird. Zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich etwa für eine friedliche Koexistenz einsetzen oder die militärischen Aufrüstung kritisieren, stoßen vor dem Hintergrund der aktuellen Krise zusätzlich auf Ablehnung. Doch die Gewerkschaften, allen voran die KCTU, die in entscheidenden Momenten des Protests eine führende Rolle einnahm, zeigen, dass es Widerstand gibt. Sie sind eine der wenigen verbleibenden Akteure, die nicht nur organisatorisch stark sind, sondern auch einen realen Klassenbezug in die politische Auseinandersetzung einbringen. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend entlang kultureller und identitärer Linien polarisiert, fällt ihre Verankerung in den sozialen Kämpfen um Löhne, Arbeitszeit oder Wohnungspolitik umso mehr ins Auge und verleiht ihnen Glaubwürdigkeit.

Doch auch die Gewerkschaften stehen unter Druck: Repression, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, mediale Diffamierung – all das hat in den letzten Monaten zugenommen. Die Öffentlichkeit ist müde und kaum aufnahmefähig für politische Visionen, die über den Ausnahmezustand oder ein «zurück zum Alten» hinausgehen. In einem solchen Klima werden Forderungen nach Abrüstung und Frieden nicht als Lösung, sondern vielmehr als Risiko und naive Zugeständnisse wahrgenommen. Wenn zivilgesellschaftliche Räume schrumpfen und die politische Gestaltungskraft delegitimiert wird, gewinnen jene Kräfte an Boden, die Sicherheit und Ordnung nicht als soziale Gerechtigkeit, sondern als Kontrolle verstehen. So reproduzieren sich Unsicherheit und autoritäre Tendenzen gegenseitig. 

Die Absetzung Yoons bedeutet also nicht, dass sich die Lage im Land schnell beruhigen wird. Die vergangenen Monate haben tiefe Spuren hinterlassen, politisch, gesellschaftlich aber auch wirtschaftlich. Die wiederholten Krisen, das Kriegsrecht, die Unsicherheit in der Führung und der zunehmend autoritäre Umgang mit abweichenden Meinungen haben das Land in einen Zustand permanenter Anspannung versetzt. Straßen wurde aus «Sicherheitsgründen» gesperrt, öffentliche Veranstaltungen kurzfristig abgesagt oder verschoben, und die Überwachung wurde intensiviert, durch Polizeipräsenz, Kameras und die umfassende Erhebung von Daten. Es bleibt abzuwarten, ob die in Teilen fast zur Normalität gewordene Krise auch das Vertrauen in die Demokratie beeinträchtigt.

Hinzu kommt, dass sich die politische Unsicherheit längst wirtschaftlich bemerkbar macht. Die Verunsicherung bremst Investitionen, der Binnenkonsum stagniert und die in Südkorea «normalen» Probleme der sozialen Ungleichheit und der Macht der Großkonzerne des Landes treten noch klarer zu Tage. Zwar ist es eine Illusion der neoliberalen Ordnung, dass Stabilität Wachstum bedeutet, aber in den letzten Wochen ist deutlich geworden, dass ohne politische Teilhabe, ohne soziale Absicherung und ohne kollektiv Organisierung auch die wirtschaftliche Erholung ausbleibt.

Das Land muss jetzt erst einmal zur Ruhe kommen. Nicht im Sinne einer Rückkehr zur alten Ordnung, sondern als Chance, die gesellschaftlichen Kräfte neu zu sortieren. Denn das Problem war nie nur ein einzelner Präsident. Es sind die Strukturen, die seine Politik ermöglicht und geschützt haben, und die Frage, wie lange eine Gesellschaft unter andauernder Anspannung funktionieren kann, ohne innerlich auszubrennen. Die progressiven Parteien und die zersplitterte NGO-Szene sind kaum in der Lage, das Soziale mit dem Politischen zu verbinden. Es sind die Gewerkschaften und feministischen Bewegungen, die Mieter*innen-Initiativen und Klimaaktivist*innen, die prekär beschäftigten Jugendlichen und die Studierenden – all jene, die nicht vom System profitieren, sondern täglich mit seinen Zumutungen konfrontiert sind. Sie stehen vor der Herausforderung, eine gemeinsame Sprache zu finden – eine, die nicht zwischen «pro-amerikanisch» und «pro-kommunistisch» pendelt, sondern die soziale Frage in den Mittelpunkt rückt.