
Nürnberg, der 25. Januar 2019: Joanna Sobalewska-Pyz wird am Abend die Ausstellung «Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern» eröffnen. Zuvor stattet sie dem Museum zu den Nürnberger Prozessen einen längeren Besuch ab. Tief beeindruckt springen ihre Gedanken nach dem Rundgang durch die Ausstellung und den legendären Verhandlungssaal 600 zurück in den Oktober 1946, in die noch immer von Ruinen gesäumten Straßen Warschaus. Die Straßenpassanten sind schlagartig stehengeblieben, zu wichtig ist in diesem Augenblick dasjenige, wovon die Radiostimme im Lautsprecher des Stadtfunks kündet. Die Verurteilung der deutschen Hauptkriegsverbrecher ist das Ereignis der Stunde! An der Hand des polnischen Vaters lauscht das siebenjährige Mädchen aufmerksam den Nachrichten aus dem fernen Nürnberg…
Holger Politt war von Mai 2002 bis Juni 2024 Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mehrere Jahre leitete er deren Büro in Warschau. Er publiziert regelmäßig zu Themen der Zeitgeschichte Polens und zu Leben und Werk Rosa Luxemburgs.
Die Ausstellung
Ohne Joanna Sobolewska-Pyz, der langjährigen Vorsitzenden des Verbandes der Kinder des Holocaust in Polen, wäre die Ausstellung sicherlich nicht entstanden. Sie hatte im Kreis ihrer Mitstreiter*innen immer hartnäckig dafür geworben, gemeinsam nach einem Weg zu suchen, um die bislang vornehmlich in Form verschiedener Publikationen und Bücher festgehaltenen Erinnerungen und Reflexionen der verschlungenen Lebenswege mit geeigneten künstlerischen Mitteln zu visualisieren. Entstanden ist eine faszinierende Ausstellung, die – zunächst in polnischer Sprache – im Frühjahr 2015 in Warschau im nagelneuen Museum zur Geschichte der polnischen Juden (POLIN) als eine der ersten temporären Ausstellungen vor großem Publikum die Premiere erlebte. Im Januar 2016 wurde die Ausstellung im damaligen Sitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Berliner Franz-Mehring-Platz auch in deutscher Sprache vorgestellt. Ab Januar 2018 folgten dann weitere Stationen in Deutschland, darunter jene Ausstellung in Nürnberg. In die Reihe der bislang 30 Ausstellungsorte in kleineren wie größeren deutschen Städten fügen sich fünf evangelische Kirchen, vier Synagogen, vier Rathäuser, zwei Landtage, Stadtbibliotheken und Volkshochschulen ein.
Gerade wenn man in Deutschland lebt, darf man keinen Augenblick lang vergessen, was geschehen ist.
Theodor W. Adorno an Gershom Scholem, 21. März 1969
Fünfzehnmal wird der Betrachter, nähert er sich aufgeschlossen den Ausstellungstafeln, in die Lebensgeschichte von Menschen hineingezogen, die – anders als sonst der irdische Neuankömmling – gleich vieler Geburtshelfer*innen bedurften, wobei die allermeisten ihnen ein Leben lang unbekannt bleiben sollen. Die knappen Texte auf den Tafeln verraten wichtige Bruchstücke in der Biographie, jene, die überliefert wurden oder in mühsamer Rekonstruktion – hier spielt der Verband der Kinder des Holocaust eine wunderbare Rolle – herausgefunden werden konnte. Von Ghettos ist die Rede, vom Verstecken, von mutigen Menschen, ganz zuvorderst von den polnischen Eltern, die den Mut besessen hatten, den todgeweihten jüdischen Kindern den gebrauchten Unterschlupf zu geben. Von jüdischen Eltern ist die Rede, die unter Bedingungen schlimmster Verfolgung die schier unmenschliche Entscheidung trafen, dass das Leben des eigenen Kindes womöglich sicherer sei, wenn die Wege der Eltern und des Kindes sich trennen. Häufig mag die Hoffnung getröstet haben, dass auf getrennten Wegen alle – Eltern wie das Kind – in der höllischen Zeit überleben könnten. Man werde sich anschließend schon wiederfinden.
Die Ausstellung öffnet den Blick zurück in die Zeit der deutschen Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg. Später wird die historische Forschung herausfinden, dass von etwa einer Million jüdischer Kinder in Polen vor Beginn der deutschen Okkupation nicht viel mehr als 5.000 am Leben geblieben waren, als am 8. Mai 1945 in Europa die Freiheitsglocken läuteten. Eine der einführenden Tafeln der Ausstellung stellt diese erschreckenden Zahlen heraus. Die Lebensgeschichte auf den Ausstellungtafeln ist jedes Mal die Geschichte einer großen Ausnahme, die Regel hatte anderes bestimmt. Da im okkupierten Polen – eine solche behördliche Zuspitzung erlaubten sich die Besatzer in den von ihnen eroberten Ländern nur hier – auf die Hilfeleistung für jüdische Menschen die Höchststrafe, also der Tod wartete, der umgehend exekutiert wurde, kann geahnt werden, wieviel der gründlichen Abwägung zu der Entscheidung gehörte, das Leben eines jüdischen Kindes zu retten.
Der Ausstellungstitel
«Meine polnischen Eltern» im Ausstellungstitel ist gleichermaßen die tiefe Verneigung vor diesem mutigen Akt des Widerstands gegen den barbarischen Willen des Okkupanten. Entschieden setzten sich später die Kinder des Holocaust dafür ein, dass den polnischen Eltern die Auszeichnung «Gerechter unter den Völkern» aus Yad Vashem verliehen wird. Am Abend in Nürnberg wird Joanna Sobolewska-Pyz, so wie immer, wenn sie die Ausstellung eröffnet, voller Stolz die Ehrenmedaille aus Israel für die polnischen Eltern zeigen.
Die Geschichte der Suche nach den Spuren der jüdischen Eltern ist eine Geschichte überraschender Begebenheiten, eine Entdeckungsreise zurück in die Zeit pulsierenden jüdischen Lebens in Polen, aber auch eine Reise, die nicht selten Enttäuschung und Fehlschläge bereithält, weil so gut wie nichts mehr aufzufinden ist aus der ganz frühen Kinderzeit. Die Gründung des Verbands der Kinder des Holocaust in Polen Anfang der 90er Jahre, also kurz nach der politischen Wende, markiert einen wichtigen Einschnitt in den Lebenswegen. Knapp 1.000 Menschen fanden sich in Warschau zusammen in einer Organisation, deren Aufnahmebedingung lautete, am Ende des Zweiten Weltkriegs ein jüdisches Kind von maximal 13 Lebensjahren gewesen zu sein. War bis dahin die Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln des eigenen Lebens allzu oft eine Privatsache, eine familiäre Angelegenheit, für die sich eine breite Öffentlichkeit weniger zu interessieren schien, änderte sich der Stellenwert mit der Gründung des Verbandes recht bald. Plötzlich gab es andere Möglichkeiten, in die Öffentlichkeit vorzudringen, inmitten der anderen mit einem ähnlichen Schicksal wurde deutlicher, welche Bedeutung die Rekonstruktion der eigenen Biographie für die Geschichtsschreibung des polnischen Judentums und umgekehrt, welche enorme Hilfe die Kenntnis der Geschichte des polnischen Judentums für das Verständnis der eigenen Biographie hat.
Ich hatte großes Glück, dass ich Eltern hatte, die mich weggaben, und andere, die mich aufnahmen.
Joanna Sobolewska-Pyz
Joanna Sobolewska-Pyz weiß bis heute nicht, wo die leiblichen Eltern ums Leben kamen. Die Spuren verlieren sich im Warschauer Ghetto, noch vor Ausbruch des Aufstands im Ghetto am 19. April 1943 wurde das dreijährige Mädchen aus dem Ghetto geschmuggelt, ihre Erinnerungen setzen erst ein mit den polnischen Eltern. «Ich hatte großes Glück», wird sie am Abend in Nürnberg sagen, «dass ich Eltern hatte, die mich weggaben, und andere, die mich aufnahmen.» Herausbekommen hatte sie in polnischen Archiven, dass die Eltern Ärzte gewesen waren, ins Warschauer Ghetto kamen und dort wohl auch praktiziert hatten. Am 22. Juli 1942 verkündeten die deutschen Besatzer ihr fürchterliches Urteil über das Warschauer Ghetto, bis zum September 1942 wurden ca. 300.000 Menschen nach Treblinka deportiert und dort umgebracht. Der Aufenthalt im Ghetto war ab diesem Sommertag nur noch Menschen gestattet, die arbeitsfähig waren und eine Arbeitsstelle nachweisen konnten, die Deutschen wollten von fast 400.000 Menschen nur 30.000 am Leben lassen, so der teuflische Plan. Anders gesagt, kleine Kinder mussten ab diesem Datum versteckt werden. Allein die Vorstellung, dass das kleine Mädchen mehr als acht Monate von den Eltern im Ghetto versteckt werden konnte, zeugt von der unbeschreiblichen Disziplin der Eltern, zeugt von ungebrochenem Widerstands und Lebenswillen im Ghetto.
«Meine jüdischen Eltern» im Ausstellungstitel betrifft jenen Teil, der häufig genug im Dunkeln bleiben muss. Joanna Sobolewska-Pyz hat vergleichsweise viel herausfinden können, auch deshalb, weil das akribisch geführte Ärztearchiv in Warschau Krieg wie Okkupation unbeschadet überstanden hatte. Viele Fragen bleiben indes häufig unbeantwortet, so die nach der Sprache, die zu Hause gesprochen wurde, ob Jiddisch oder Polnisch. Oder auch die nach Geschwistern, die für immer unbeantwortet bleiben muss. Vieles hat die historische Forschung – genannt sei hier das 1947 gegründete Jüdische Historische Institut in Warschau mit dem Ringelblum-Archiv – zur Geschichte des Judentums in Polen und zum Schicksal der polnischen Juden während der deutschen Okkupation aufgeschlossen. Die Ausstellung führt in diese Bereiche zurück und ist selbst wiederum ein Teil der historischen Forschung.
Die Ausstellung «Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern» wurde zunächst für ein polnisches Publikum konzipiert. Hier braucht es keine weiteren Erklärungen, denn es ist sofort klar, dass es sich um die jüdische Minderheit in Polen handelt, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an Zahl ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Polens (35 Millionen) betrug. In Warschau, einer Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern, gehörten etwa 35 Prozent zur jüdischen Minderheit. In Lublin, um eine weitere bekanntere Stadt herauszuheben, lag der Anteil bei 45 Prozent, in kleineren Städten östlich von Warschau waren es oftmals über 50 Prozent. Die allermeisten in dieser Minderheit verstanden sich als Polen, auch diejenigen, die nicht Polnisch, sondern Jiddisch zur Muttersprache hatten, selbst die meisten derjenigen, die sich als Zionisten – links- wie rechtsgerichtet – verstanden.
Für ein deutsches Publikum ist die Unterscheidung zwischen «jüdischen Eltern» und «polnischen Eltern» leider unterschwellig ausschließend, die beiden Seiten wirken viel entgegengesetzter, «jüdisch» ist also nicht «polnisch» und umgekehrt «polnisch» nicht «jüdisch». Präziser wäre eigentlich, wenn polnisch-jüdische bzw. polnisch-christliche Eltern oder polnisch-jüdische bzw. polnisch-polnische Eltern unterschieden wären. Aber dann ginge ein anderer Aspekt verloren, nämlich die Unterscheidung der zwei großen Lebenswelten, wie sie polnische Städte und Polens Gesellschaft bis zum Untergang der jüdischen Seite wie ganz selbstverständlich prägten. Dass zu diesem polnisch-jüdischen Verhältnis auch verstörende Abgründe gehören, sei hier angefügt, ohne es an dieser Stelle auszuführen. Joanna Sobolewska-Pyz wird in Nürnberg sagen, dass es im okkupierten Polen leichter gewesen sei, einen Panzer zu verstecken als ein jüdisches Kind!
Die Kinder des Holocaust sind am 8. Mai 1945 befreit worden. Sie haben ihr festes Geburtsdatum, das nicht in allen Fällen bekannt ist. Sie haben ein Datum der unmittelbaren Rettung zu einer Zeit, als ringsum noch Krieg und Okkupation herrschten. Als am 8. Mai 1945 Europas dunkelstes Kapitel beendet wurde, standen die Geretteten auf der Seite der Sieger. Auf der Seite der Sieger, unbewusst und stellvertretend für die zig Millionen, für die der Sieg zu spät kam, die nicht befreit werden konnten.
Kontakt zur Ausstellung
Rolle | Persondetails |
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Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik | Dr. Uwe Sonnenberg E-Mail: uwe.sonnenberg@rosalux.org Telefon: +49 30 44310 425 |
Referent Antisemitismus und jüdisch-linke Geschichte und Gegenwart/ Klassen | Dr. Florian Weis E-Mail: florian.weis@rosalux.org Telefon: +49 30 44310 114 |