Analyse | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Osteuropa 80 Jahre danach: Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine und Russland

Das Kriegsgedenken in der Sowjetunion und die Rolle der Ukraine

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Sowjetisches Ehrenmal in Hoschtscha in der Region Riwne/Ukraine, an dem nachträglich ein Mohnsymbol mit dem Schriftzug «1939-1945» angebracht wurde.
Sowjetisches Ehrenmal in Hoschtscha in der Region Riwne/West-Ukraine, an dem nachträglich ein Mohnsymbol mit dem Schriftzug «1939-1945» angebracht wurde. Foto: Mykola Homanyuk (2023)

Kein Land hat jemals so viele Menschen in einem Krieg verloren wie die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Entsprechend wichtig waren nach 1945 vielfältige Arten der Erinnerung an den Krieg. Viele der Überlebenden verspürten ein aufrichtiges Bedürfnis nach Formen des Gedenkens, der Sinnstiftung, der Trauer um die Toten – und auch des Stolzes über den letztendlichen Sieg. Zugleich war das Kriegsgedenken in der Sowjetunion immer auch ein Instrument innenpolitischer Kontrolle und außenpolitischer Selbstdarstellung.

Mischa Gabowitsch ist Historiker und Soziologe und aktuell Professor für Mehrsprachigkeit und transnationale Studien, insbesondere im postsowjetischen Raum, an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der JGU (Standort Germersheim) leitet er den Arbeitsbereich Russisch. Mehr: gabowitsch.net

Gegenstand von Denkmälern und Gedenkveranstaltungen war in der Sowjetunion nicht der gesamte Zweite Weltkrieg, sondern der Große Vaterländische Krieg, dessen Beginn auf den 22. Juni 1941 datiert wurde, den Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion. Als Tag des Sieges über NS-Deutschland galt seit 1945 der 9. Mai, daneben wurde zunächst auch der 3. September als Tag des Sieges über Japan umfassend begangen.

Das Kriegsgedenken in der Sowjetunion war nie eine rein russische Angelegenheit

Die Deutschen und ihre Verbündeten hatten in Russland schreckliches Leid verursacht: Allein während der Leningrader Blockade starben weit über eine Million Menschen. In den westlichen Teilen des Landes hatten sie jedoch noch länger und schlimmer gewütet: Anders als Russland waren Estland, Lettland, Litauen, Belarus, die Ukraine und Moldau komplett besetzt. In der Ukraine fanden die größten einzelnen Tötungsaktionen des Holocaust statt, und auch unter der nichtjüdischen Zivilbevölkerung waren enorme Opfer zu beklagen, von den unzähligen gefallenen Soldaten der Roten Armee ganz zu schweigen.

Entsprechend wichtig war nach 1945 das Kriegsgedenken in der sowjetischen Ukraine. Zum einen konnte die historische Erfahrung in den ehemals besetzten Gebieten nicht übergangen werden: Ihre Spuren waren hier viel unmittelbarer präsent als etwa in Sibirien oder Zentralasien. Zum anderen achtete die sowjetische Führung streng auf die Einhaltung der offiziellen Erzählung über den Krieg, in der nur die Themen Heldentum und Befreiung einen Platz hatten. Tatsächlich hatten die Menschen in der Ukraine die Besatzung auf sehr unterschiedliche Weise erlebt, und die aus sowjetischer Sicht schon 1939 neu eingegliederten westlichen Gebiete des Landes wurden erst nach dem Krieg und unter Einsatz massiver Gewalt sowjetisiert, lange Zeit gegen den Widerstand bewaffneter ukrainischer Nationalist*innen. Das Kriegsgedenken war hier nicht zuletzt ein staatliches Erziehungs- und Kampfinstrument.

Nach 1947 verlor der 9. Mai zunächst den Status eines arbeitsfreien Feiertags. Als Gedenktag wurde er – auch in Russland und den anderen Sowjetrepubliken – aber weiterhin begangen. Das Thema Krieg verschwand auch nie aus Film und Literatur, und in vielen Teilen des Landes entstanden Denkmäler, die nur zum Teil auf Anweisung aus Moskau oder den Republikhauptstädten errichtet wurden. Oft gehörte die Initiative einzelnen Armeeeinheiten, örtlichen Parteikomitees, Architekten oder auch einzelnen Angehörigen der Toten. In der Ukraine – wie auch in den anderen ehemals besetzten Teilen der Sowjetunion – spielten alle diese Formen des Gedenkens eine besonders wichtige Rolle. Hier wurden seit dem Krieg die Tage der Befreiung einzelner Städte begangen, hier lagen besonders viele Tote, die bestattet oder umgebettet werden mussten, hier war die Trauer besonders präsent. Zudem nahm sie oftmals religiöse Formen an, denn trotz Jahrzehnten atheistischer Politik blieb ein großer Teil nicht nur der ländlichen Bevölkerung durch traditionelle Volksfrömmigkeit geprägt.

Dagegen entwickelte die Kommunistische Partei bewusst neue sozialistische Rituale des Gedenkens, die die herkömmlichen Bräuche ersetzen sollten. Insbesondere in der Ukraine, und so war es kein Wunder, dass die neuerliche Aufwertung des Siegestages und überhaupt des Kriegsgedenkens in der Sowjetunion auf eine ukrainische Initiative zurückging. Im Januar 1965 schrieb der ukrainische Parteichef Petro Schelest an die neue Parteiführung in Moskau, dass «neue Rituale und Bräuche zur Verewigung der Heldentat des Volkes entstehen und sich immer weiter ausbreiten» und schlug vor, den 9. Mai wieder zu einem landesweit einheitlichen arbeitsfreien Feiertag zu machen, um solchen Praktiken – also etwa der Pflege von Sammelgräbern oder Treffen mit Kriegsveteranen an Denkmälern – Raum zu geben.

Nach 1965 entwickelte sich in der UdSSR ein regelrechter Kult des Großen Vaterländischen Kriegs. 

Neben Schelests Vorschlags gab es ab Mitte der 1960er Jahre viele andere Gründe für die wachsende Bedeutung des Kriegsgedenkens in der Sowjetunion. Den außenpolitischen Kontext bildeten der Vietnamkrieg, die neue Rivalität mit China und die westdeutsche Debatte um eine mögliche Verjährung von NS-Verbrechen. Die Erinnerung an den größten militärischen Triumph des Landes und die dafür gebrachten Opfer war für die sowjetische Führung eine Trumpfkarte in all diesen Konflikten. Innenpolitisch hatten Kriegsveteranen inzwischen wichtige gesellschaftliche Positionen eingenommen und verlangten nach Anerkennung und Unterstützungsleistungen. Zudem war die Erinnerung an den Krieg viel präsenter als diejenige an die ein halbes Jahrhundert zurückliegende Oktoberrevolution und wurde daher zu einer wichtigen Quelle von Legitimität für das sowjetische System.

Nach 1965 entwickelte sich in der UdSSR ein regelrechter Kult des Großen Vaterländischen Kriegs. Dabei wurden viele Praktiken des Gedenkens, die sich zuvor in der Ukraine und anderen westlichen Landesteilen entwickelt hatten, aufgegriffen und landesweit vereinheitlicht. Nun entstanden tausende Kriegsdenkmäler, selbst in den entlegensten Winkeln des Landes und in den vielen neuen städtischen Wohnbezirken. Viele der einfachen Denkmäler aus den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten wurden durch immer monumentalere Gedenkkomplexe ersetzt, darunter die Mutter-Heimat-Statuen in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad (1967), und in Kyjiw (1981), die bis heute die Liste der höchsten Statuen Europas anführen. Ende der 1980er Jahre wurden allein in der Ukrainischen Sowjetrepublik 40.000 Denkmäler für den Großen Vaterländischen Krieg gezählt, aber auch in anderen Republiken kam kaum ein Dorf ohne ein solches Denkmal aus.

Ab Mitte der 1980er Jahre jedoch wurden viele Menschen in der Sowjetunion des Kriegskults überdrüssig. Für viele Schüler*innen waren die regelmäßigen Treffen mit ehemaligen Frontsoldaten zu einer lästigen und immer gleichen Pflichtveranstaltung geworden. Die unwürdige Behandlung der inzwischen alten Kriegsveteranen in Altenheimen und Krankenhäusern stand im Kontrast zu den oft pompösen Gedenkveranstaltungen. Freiwillige Suchtrupps entdeckten immer neue unbestattete Gebeine in Wäldern und Sümpfen und straften somit die offizielle Formel Lügen, «nichts und niemand» sei vergessen. Und schließlich entbrannte im Zuge der Politik von Perestroika und Glasnost (Transparenz) eine Debatte über den Hitler-Stalin-Pakt, die Verbrechen des sowjetischen Systems und seiner Armee und den «Preis des Sieges» – die Millionen Rotarmisten, die nach Ansicht vieler durch eine menschenverachtende Militärstrategie unnötig zu Kanonenfutter geworden waren. Der Kriegskult, zumal in seinen triumphalen Aspekten, erreichte einen Tiefpunkt.

Das postsowjetische Russland

Nach dem Zerfall der Sowjetunion erfuhrt das Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg in Russland im Jahr 1995 eine neue Aufwertung. In dem politisch zutiefst gespaltenen Land war Präsident Boris Jelzin auf der Suche nach einer einigenden «nationalen Idee». Trotz der Debatten um den Preis des Sieges war die Kriegserinnerung das einzige, was noch dazu taugte. Zum 50. Jahrestag des Kriegsendes wurde in Moskau am 9. Mai eine Militärparade durchgeführt, die erst jetzt zu einer jährlich wiederholten Veranstaltung wurde: In der Sowjetunion hatten solche Paraden nur an besonderen, meist runden Jahrestagen stattgefunden. Unter Wladimir Putin gewann diese Gedenkkultur als Teil einer neuen Ideologie des Nationalstolzes immer größeres Gewicht und wurde zunehmend auch wieder außenpolitisch instrumentalisiert: Immer mehr nahm Russland eine Rolle als Hüter sowjetischer Kriegsdenkmäler im Ausland wahr, verurteilte die neuen nationalen Geschichtsnarrative in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken als revisionistisch und gebärdete sich als Schutzmacht der Menschen, die in anderen Ländern des Sieges der Roten Armee ehrend gedachten und sich deswegen gesellschaftlich marginalisiert fühlten – auch wenn ihre Beweggründe zunächst nichts mit einer Unterstützung von Russlands Politik zu tun hatten. Im offiziellen Diskurs lag der Fokus zunehmend auf dem Sieg gegen NS-Deutschland als welthistorischer Errungenschaft, statt auf dem gesamten Krieg mit seinen Opfern. Der 9. Mai wurde zunehmend zum wichtigsten Nationalfeiertag, der er in der Sowjetunion nie gewesen war.

Wenn das Kriegsgedenken nun in Russland neu erstarkte, war dies jedoch keineswegs nur auf die staatliche Politik zurückzuführen. Ein wichtiger Faktor war das Interesse an der Familiengeschichte seitens der Enkelgeneration, die – wie überall auf der Welt – eher dazu neigte, die Biographien und Errungenschaften der Großeltern zu verklären, als es deren Kinder taten. Vor allem auf ihre Initiative hin entstanden neue Kriegsdenkmäler, und alte wurden modifiziert, wie man es auch in vielen anderen postsowjetischen Staaten beobachten konnte: Porträts einzelner Kriegstoter wurden nachträglich an Sammelgräbern angebracht und Denkmäler etwa um religiöse Symbole erweitert. Da die Kriegsdenkmäler aus sowjetischer Zeit als geheiligte Orte des Gedenkens galten, entstanden an ihrer Seite neue Denkmäler für die Toten anderer Ereignisse, die sich ihren Platz im kollektiven Gedächtnis noch erkämpfen mussten – etwa der in Afghanistan oder Tschetschenien Gefallenen oder der Opfer der Atomkatastrophe von Tschernobyl.

Neue Praktiken erweiterten das sowjetische Repertoire des Kriegsgedenkens. Die bekanntesten unter ihnen sind das Georgsbändchen und das «Unsterbliche Regiment».

Weitere Faktoren trugen ebenfalls zur neuen Rolle des Kriegsgedenkens bei. Dies war zum einen die neue Reisefreiheit: Nun war es viel einfacher als zu sowjetischen Zeiten, das eigene Land zu verlassen und die Grabstätten gefallener Verwandter oder auch große sowjetische Ehrenmale in anderen Ländern zu besuchen. Vor allem das 1949 im Treptower Park in Berlin errichtete Ehrenmal, dessen Silhouette in der Sowjetunion jedes Kind kannte, entwickelte sich zu einem regelrechten Pilgerort. Zum anderen wurden viele neue Informationen bekannt, aus denen sich das Gedenken speisen konnte. Insbesondere stellte Russlands Verteidigungsministerium im Jahr 2007 eine Datenbank mit Millionen Archivakten zu den sowjetischen Kriegsteilnehmer*innen online.

Auf diesem Nährboden entwickelten sich nach und nach neue Praktiken, die das sowjetische Repertoire des Kriegsgedenkens erheblich erweiterten. Die bekanntesten unter ihnen sind das Georgsbändchen und das «Unsterbliche Regiment».

Das schwarz-orange Georgsbändchen als individualisiertes Symbol des Gedenkens an den Großen Vaterländischen Krieg entstand im Jahr 2005 auf Vorschlag einer Journalistin einer staatlichen Medienagentur. Inspiriert von der britischen Mohnblume zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg und angelehnt an die Farben des Georgsbands, einer militärischen Auszeichnung aus der Zeit des zaristischen Russlands, sollte es ursprünglich gegen Spenden für Veteranen verkauft werden. Diese Idee scheiterte. Stattdessen entwickelte es sich zu einem universellen Symbol für die Identifikation mit dem sowjetischen Sieg über Deutschland im Zweiten Weltkrieg, das vor allem um den 9. Mai herum allen möglichen Anliegen – auch kommerziellen – einen patriotischen Anstrich verleihen sollte.

Die Gedenkinitiative «Unsterbliches Regiment» wurde 2012 von einer Gruppe liberaler Journalisten in Tomsk lanciert. Unzufrieden mit dem staatszentrierten Gedenken bei der Parade auf dem Roten Platz, schlugen sie vor, mit Porträts einzelner Kriegsteilnehmer*innen durch Stadtzentren zu defilieren, um so die Gedenkkultur volksnäher und demokratischer zu gestalten und den Beitrag der gesamten Gesellschaft zur Kriegsanstrengung zu betonen. Die Initiative verbreitete sich wie ein Lauffeuer und schon zwei Jahre später fanden Aufmärsche des «Unsterblichen Regiments» an Dutzenden Orten in Russland und im Ausland statt, mit insgesamt mehreren Millionen Teilnehmer*innen.

Gerade aufgrund ihrer Beliebtheit wurden beide Initiativen jedoch schon sehr bald vom russischen Staat vereinnahmt. Das Georgsbändchen entwickelte sich – gerade im Kontext des Überfalls auf die Ukraine seit 2014 – zu einem Symbol der Unterstützung von Russlands Politik und seinen geopolitischen Ambitionen. Das «Unsterbliche Regiment» wurde – trotz erheblicher Widerstände – von einer horizontalen und apolitischen Initiative zu einer staatlich organisierten Bewegung transformiert. Im Spannungsverhältnis zwischen trauerndem und triumphierendem Gedenken, zwischen «Nie wieder» und «Wir können es wiederholen» – verschob sich das Gewicht immer stärker hin zum militaristischen Pol. Auch der Denkmalsbau wurde – stärker als selbst zu sowjetischen Zeiten – unter der Ägide der staatseigenen Russländischen Militärhistorischen Vereinigung zentralisiert.

Die postsowjetische Ukraine

Die postsowjetische Ukraine wurde oft als ein gespaltenes Land dargestellt. Demnach hänge der östliche Teil des Landes unkritisch der sowjetischen Erzählung vom Sieg über den Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg an. Demgegenüber habe sich im Westen ein neuer Kult um den Nationalistenführer Stepan Bandera (1909-1959) und die in großen Teilen faschistische Ukrainische Aufständische Armee (UPA) gebildet. Tatsächlich war diese Vorstellung immer eine sehr grobe Vereinfachung.

Auch im Westen der Ukraine – den Landesteilen, die erst infolge des Zweiten Weltkriegs in die ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert wurden – standen und stehen zahlreiche sowjetische Denkmäler für die Toten des Zweiten Weltkriegs. Umgekehrt gibt es auch im Osten und Süden des Landes Denkmäler für Bandera und die UPA, die im Rückblick oft geschichtsklitternd als unproblematische Freiheitskämpfer*innen wahrgenommen werden. Grabenkämpfe zwischen den beiden Positionen machten sich vor allem in den Großstädten bemerkbar und wurden lange Zeit von Politiker*innen verschiedener Lager angefacht, indem sie die verschiedenen Gedenktraditionen zu wichtigen Teilen der jeweiligen regionalen Identität stilisierten. Auf dem Land ist die Gedenkkultur zumeist pragmatischer und versöhnlicher. Oft kommt es vor, dass neuere Denkmäler für UPA-Kämpfer neben solchen aus sowjetischer Zeit für deren Opfer aus der Zivilbevölkerung stehen – und ein und dieselben Menschen an beiden Blumen niederlegen, um Dorfbewohner aus verschiedenen Lagern im Tode zu vereinen.

Die Jahreszahlen «1941-1945», die für den Großen Vaterländischen Krieg stehen, wurden durch «1939-1945» ersetzt, die gesamte Dauer des Zweiten Weltkriegs.

Zudem erschöpft sich die Bandbreite der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg nicht in diesen beiden Polen. So haben in dem heterogenen Land viele Regionen, ethnische Minderheiten – etwa die Krimtataren, Roma oder Ungarn – sowie auch Berufsgruppen ihre jeweils eigenen Kulturen der Erinnerung an den Krieg.

Bei seiner militärischen Intervention in der Ukraine im Jahr 2014 berief sich Russland nicht zuletzt auf das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und die angebliche Gefahr, die von der neuen Regierung in Kyjiw für das Erbe des Sieges ausgehe. Dadurch wurde Russlands Version des Kriegsgedenkens aus ukrainischer Sicht selbst zu einer Rechtfertigung für kriegerische Aggression. Als Reaktion darauf unternahm Kyjiw den Versuch einer Entsowjetisierung des Kriegsgedenkens. Die Jahreszahlen «1941-1945», die für den Großen Vaterländischen Krieg stehen, wurden – auch auf Denkmälern – durch «1939-1945» ersetzt, die gesamte Dauer des Zweiten Weltkriegs. Die – direkter als im Fall des russischen Georgsbändchens – an ein britisches Vorbild angelehnte Mohnblüte als Symbol von Trauer statt Triumph zum Gedenken an die Opfer eingeführt, und der 8. Mai zum neuen offiziellen Gedenktag erklärt, wobei der 9. Mai allerdings bis 2023 daneben bestehen blieb und weiterhin von vielen Menschen im Lande als Tag des Sieges begangen wurde.

Die sowjetischen Kriegsdenkmäler in der Ukraine blieben aber größtenteils unbehelligt. Im Zuge der Euromaidan-Proteste 2013-14 begann ein – zunächst von Aktivist*innen auf eigene Faust unternommener – Denkmalssturz, der als «Leninfall» bekannt wurde. In den darauffolgenden Jahren wurden Gesetze und Beschlüsse zur «Dekommunisierung» des Landes erlassen, aufgrund derer zahlreiche Statuen kommunistischer Anführer und Symbole des sowjetischen Staates aus dem öffentlichen Raum entfernt sowie Straßen- und Ortsnamen verändert wurden. Sowjetische Kriegsdenkmäler wurden jedoch dabei – bis auf einige wenige Ausnahmen – nicht angetastet. Zum einen fungieren die meisten von ihnen ebenfalls als Grabdenkmäler, zum anderen sind sie auch in der Ukraine inzwischen oft zu komplexen Gedenkstätten angewachsen, an denen zusätzlich der Toten des Afghanistankriegs, der Katastrophe von Tschernobyl, des Holocaust oder des Holodomor – der künstlichen Hungersnot von 1932-33 – gedacht wird.

So blieben sowjetische Kriegsdenkmäler, vor allem in kleineren Städten und auf dem Land, feste Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens. Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass die Menschen vor Ort sie auf vielfältige Weise modifizieren, um so ihre Wertschätzung auszudrücken und sie sich anzueignen. Hier werden sowjetische Symbole oft von der örtlichen Bevölkerung durch religiöse oder durch Embleme des ukrainischen Staates ersetzt. Porträts einzelner Gefallener werden im Nachhinein an Sammelgräbern angebracht und Denkmäler auf eigene Faust renoviert. Neben diesen Formen der Aneignung, die sich ähnlich auch in anderen postsowjetischen Ländern wie Russland oder Moldau finden, ist in der Ukraine in den letzten 10 bis 15 Jahren die Tradition entstanden, einzelne Elemente von Denkmälern durch bunte Bemalung hervorzuheben. Alle diese Praktiken zeugen davon, dass Kriegsdenkmäler inzwischen ähnlich behandelt werden wie Grabstätten von Familienmitgliedern.

Der Russisch-Ukrainische Krieg und der neue Denkmalsturz

Auch bei seinem Großangriff auf die Ukraine im Jahr 2022 berief sich Russland wieder auf die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg und den «Sieg über den Faschismus», wenn sich auch viele andere Motive dazu mischten, etwa eine Erzählung über die Wiederherstellung von Russlands imperialer Größe und Symbole eines christlichen heiligen Kriegs. Das Erbe des Siegs war also nur eine Begründung unter vielen; allerdings fand sich unter den offiziellen Rechtfertigungen für die Invasion auch die Behauptung, sowjetische Kriegsdenkmäler würden in der Ukraine systematisch vernichtet.

Viele russische Soldaten glaubten offenbar aufrichtig daran – und mussten sich kreative Lösungen einfallen lassen, als sie vor Ort unzählige gut erhaltene Denkmäler vorfanden. Die vielen für ein russisches Publikum erstellten Propagandafotos und -videos gaben daher oftmals gewachsene ukrainische Praktiken wie das bunte Bemalen von Denkmälern als russische Erfindung aus oder zeigten ewige Flammen, die an Denkmälern «wieder entfacht» wurden – auch an solchen, an denen auch zu sowjetischen Zeiten nie eine solche Flamme gebrannt hatte. Auch sonst betrieb Russland besonders im ersten Jahr der Großinvasion in den neu besetzten Gebieten eine aktive Denkmalpolitik: Denkmäler mit ukrainischer Symbolik – oft auf den Sockeln ehemaliger Leninstatuen errichtet – wurden fast durchweg zerstört und manchmal durch Denkmäler von Figuren wie etwa sowjetischen Geheimdienstlern oder dem mittelalterlichen Fürsten Alexander Newski ersetzt. 

Der Denkmalsturz in der Ukraine erreichte zunehmend auch sowjetische Kriegsdenkmäler.

Als Reaktion auf Russlands Aggression und seine Aneignung des Gedenkens an den Großen Vaterländischen Krieg geschah nun genau das, was offiziell verhindert werden sollte: Der Denkmalsturz in der Ukraine erreichte zunehmend auch sowjetische Kriegsdenkmäler – allerdings in weitaus geringerem Maße als oft dargestellt. In der Region Lwiw (Lemberg) verbündeten sich Aktivist*innen mit der Regionalverwaltung und ließen fast alle Kriegsdenkmäler aus sowjetischer Zeit entfernen, wie dies zuvor bereits auf staatlichen Beschluss in Estland, Lettland, Litauen und Polen (nicht aber in anderen Ländern) passiert war. Auch in den westukrainischen Gebieten Iwano-Frankiwsk und Ternopil gab es Ansätze zu einem flächendeckenden Denkmalsturz. In allen anderen Regionen wurden zwar einzelne Denkmäler auf örtlichen Beschluss entfernt, und in einigen Fällen nahmen Aktivist*innen das Gesetz in die eigene Hand und stürzten Kriegsdenkmäler mit sowjetischer Symbolik. Der überwiegende Teil der Kriegsdenkmäler blieb jedoch stehen, und auch in den westukrainischen Regionen gab es erheblichen Widerstand gegen eine Entfernung, da viele Menschen vor Ort die Verteidigung des Landes gegen die deutschen Besatzer mit derjenigen gegen die russischen Eroberer gleichsetzten. Vielerorts werden Porträts und Namen der Gefallenen des aktuellen Kriegs auch an den alten Denkmälern angebracht – auch um letztere zu schützen. Einzig Denkmäler für sowjetische Militärführer mussten daran glauben, auch solche, die nach der Unabhängigkeit der Ukraine errichtet worden waren: Ähnlich den vielen Denkmälern für kulturelle und politische Figuren aus Russland wurden sie nun als Sinnbilder russischer imperialer Herrschaft gesehen und zudem für das sinnlose Opfer von Millionen ukrainischer Rotarmist*innen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht.

Die Einstellungen zur Zukunft sowjetischer Kriegsdenkmäler gehen in der ukrainischen Gesellschaft weit auseinander. In Umfragen und Fokusgruppendiskussionen sprechen sich sehr viele Menschen dafür aus, alle Denkmäler – zumindest solange sie einfache Soldaten ehren – beizubehalten. Eine ebenfalls große Gruppe bejaht eine selektive Bewahrung, aber es gibt auch eine lautstarke Minderheit, die dafür plädiert, alle Kriegsdenkmäler aus sowjetischer Zeit vollständig aus dem öffentlichen Raum zu entfernen und allenfalls noch in Museen aufzubewahren.

Fazit

Die Zukunft des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg im postsowjetischen Raum bleibt also ungewiss. Russlands Versuche, die einzig richtige Form der ehrenden Erinnerung an den Krieg für sich zu beanspruchen, werden kaum Erfolg haben, denn auch in der Ukraine und in einigen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion spielen die entsprechenden Denkmäler und Gedenkrituale eine – jeweils eigene – wichtige gesellschaftliche Rolle. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass sich das Gedenken vor allem in Russland und der Ukraine unüberbrückbar auseinanderentwickelt hat und vor allem in der Ukraine zunehmend durch das enorme Leid des von Russland initiierten neuen Kriegs überschattet wird. Von dessen Ausgang wird abhängen, welche Rolle der Zweite Weltkrieg über den 80. Jahrestag des Kriegsendes hinaus im kollektiven Gedächtnis der beiden Länder spielen wird.