Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Türkei «Nichts mehr zu verlieren»

Gespräch mit einer protestierenden Studentin in Istanbul

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Autorin

Svenja Huck ,

Protest vor der Universität Istanbul am 21. März 2025: «Mama, ich stehe hinten, keine Sorge.»
«Mama, ich stehe hinten, keine Sorge.»  Das Schild bezieht sich auf einen Slogan, der während der Gezi-Park-Proteste 2013 bekannt wurde. Er basiert auf der Lüge, dass die Studierenden im Hintergrund der Proteste stehen, um die Sorgen ihrer Mütter über die Polizeibrutalität zu zerstreuen. Protest vor der Universität Istanbul am 21. März 2025, Foto: Alparslan Aydın

Seit mehreren Wochen demonstrieren Tausende in der Türkei gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Vor allem Studierende sind dabei eine treibende Kraft. Rümeysa A. ist eine davon. Sie ist 19 Jahre alt und studiert seit diesem Jahr an der Boğaziçi Universität in Istanbul Physik im Vorbereitungsjahr für das Lehramt. Rümeysa ist Mitglied der Jugendorganisation der Türkischen Arbeiterpartei TİP.  Mit ihr sprach Svenja Huck über die Proteste gegen das Erdoğan-Regime und die Perspektiven des studentischen Widerstands. 
 

Svenja Huck: Nach dem die Partei İmamoğlus, die CHP, nun entschieden hat, dezentrale Kundgebungen zu organisieren und nicht mehr täglich vor das Istanbuler Rathaus in Saraçhane zu mobilisieren, scheint sich die Studierendenbewegung auch unabhängiger zu entwickeln. Könntest du etwas genauer beschreiben, in welchem Verhältnis ihr zu der CHP steht? 

Svenja Huck ist freie Journalistin promoviert derzeit an der FU Berlin zur türkischen Zeitgeschichte 1960-80.

Rümeysa A.: Die Studierenden wollten eigentlich von Anfang an die CHP nicht ins Zentrum der Proteste stellen. Es war ja klar, dass der Auslöser der Proteste die Inhaftierung von İmamoğlu war, aber wir Studierenden hatten auch schon vorher zahlreiche Probleme, gegen die wir uns organisieren. Wir gehen alle zur Uni, aber wissen, dass wir nach dem Abschluss arbeitslos sein werden. Die wirtschaftliche Unsicherheit macht uns große Sorgen. Unsere Universitäten werden unter Zwangsverwaltung gestellt, wir haben an unseren Hochschulen kein Recht auf freie Meinungsäußerung. Es gibt keinen öffentlichen Raum für uns, während mit regierungsnahen Unternehmen Verträge abgeschlossen werden, damit sie beispielsweise ihre Cafés auf dem Campus eröffnen können. Wir Studierenden werden dabei nur als Kunden betrachtet. Nach dem letzten Aufstand während der Gezi-Proteste 2013 hat das AKP-Regime seinen Druck ohne Unterlass weiter erhöht. Wir Studierende waren uns schon lange bewusst darüber, dass unser Leben mittlerweile an einem sehr kritischen Punkt angelangt ist. Auch wenn die CHP nicht mehr im gleichen Umfang mobilisiert wie zu Beginn der Proteste, haben die Studierenden nicht aufgehört. Wir machen immer noch weiter – und wir werden weitermachen. 

Wir gehen alle zur Uni, aber wissen, dass wir nach dem Abschluss arbeitslos sein werden.

Denn unsere Probleme sind nicht gelöst und sie werden auch nicht gelöst sein, solange die AKP nicht weg ist – das wissen wir. Der Zwangsverwalter-Rektor an unserer Hochschule, der Boğaziçi-Universität ist immer noch im Amt. Wir haben derzeit auch keine Bibliothek, in der wir lernen können. Studierende arbeiten außerdem meist unterhalb des Mindestlohns, ohne Sozialversicherung, also unter prekären Bedingungen. Unsere staatlichen Stipendien betragen nur 3000 Lira (ca. 69 Euro, Anm. d. Red.) das ist viel zu wenig. Wir sind uns all dieser Zustände bewusst, und wir wissen auch, dass wir nichts mehr zu verlieren haben. Mit der Aberkennung von İmamoğlus Diplom fragen wir uns, ob wir nach all der Mühe, die wir uns gemacht haben, um überhaupt an die Uni zu kommen, nach dem Abschluss unser hart erarbeitetes Diplom noch behalten dürfen. Daher sind die Studierenden mit diesem Bewusstsein und der Haltung «Ich habe sowieso nichts zu verlieren» entschlossen, nicht aufzuhören, bis die Forderungen erfüllt sind. 

Was konkret fordert ihr? 

Unsere Forderungen, die direkt aus den Universitäten kommen, sind folgende: Wir wollen wieder gewählte Rektor*innen. Das heißt, dass das normale Verfahren eingehalten wird, nachdem ein*e Rektor*in einer Hochschule gewählt und nicht von oben eingesetzt. Wir wollen unsere eigenen Dozent*innen, die durch Leistung und Qualifikation an die Universität gekommen sind. 

Schluss mit dieser Polizeipräsenz an den Hochschulen.

Außerdem gibt es an unseren Universitäten sehr viel Zivilpolizei. Normalerweise ist es verboten, dass Polizei überhaupt den Campus betritt. Aber mittlerweile ist es so weit gekommen, dass diesen Polizisten sogar Studierendenausweise ausgestellt werden, damit sie reinkommen. Sie sitzen dort, wo wir Tee oder Kaffee trinken, hören uns zu, führen Listen über uns, verfolgen uns. Wir wissen, dass unsere Campusse sichere Räume sein sollten – und wir wollen, dass das so bleibt. Deshalb ist eine unserer Forderungen auch: Schluss mit dieser Polizeipräsenz an den Hochschulen. 

Eine weitere Forderung betrifft den öffentlichen Raum – das ist für uns besonders wichtig. An der Boğaziçi-Universität zum Beispiel haben wir Anfang Februar eine sogenanntes «Besetzungscafé» gestartet. Kurz zuvor hatten wir erfahren, dass auf dem Campus ein neues Café eröffnen sollte und uns war klar, dass dadurch ein regierungsnahes Unternehmen reingeholt wurde. Das geschah ohne die Zustimmung der Studierenden. Gleichzeitig gibt es keinen Ort mehr, an dem man sich sozial austauschen kann ohne Geld auszugeben. Deshalb haben wir diese Aktion gestartet. Auch an anderen Universitäten gab es solche Fälle – überall dort, wo Cafés zu überhöhten Preisen verkaufen. Wir finden, dass Studierende ein Recht auf kostenfreie soziale Räume haben. Auch das ist eine unserer zentralen Forderungen.

Die Forderungen, die du genannt hast, wären ja auch nachvollziehbar, wenn İmamoğlu nicht ins Gefängnis gekommen wäre – es sind eben spezifische Forderungen der Studierendenbewegung. Kann man das nun irgendwie mit der Situation von İmamoğlu oder der CHP verknüpfen? Könntet ihr zum Beispiel durch die Unterstützung der CHP eure Forderungen in irgendeiner Weise durchsetzen? 

Vielleicht würden sie uns an irgendeinem Punkt schon irgendwie unterstützen. Aber wir als Studierende der TİP vertreten grundsätzlich die Haltung, dass sich diese Probleme durch keine der etablierten Parteien an der Macht lösen lassen. Das haben wir auch in der Vergangenheit gesehen. Vielleicht wäre es unter İmamoğlu als Präsident ein bisschen leichter, dafür zu kämpfen. Aber auch dann würden wohl nicht alle Forderungen erfüllt werden. Denn die CHP ist eben auch eine Partei, die das grundlegende System aufrechterhält. Vielleicht nicht so konservativ wie die AKP, vielleicht nicht ganz so repressiv. Und ja, vielleicht würde es unter einer CHP-Regierung für uns Sozialist*innen ein wenig mehr Spielraum geben. Aber ohne eine sozialistische Regierung wissen wir, dass unsere Forderungen als Studierende nicht vollständig erfüllt werden.

Die CHP will die verbleibenden Demonstrationen auch nutzen, um Unterschriften für ihre Kampagne zu sammeln. (Sie hofft, mehr als 27 Millionen Unterschriften für die Freilassung von İmamoğlu und für Neuwahlen in der Türkei zusammen zu bekommen. Gleich viele Stimmen hatte Präsident Erdoğan bei der letzten Wahl 2023 erzielt.) Wie wird das denn unter den Studierenden aufgenommen? Wird das unterstützt oder kritisiert?

Es wird definitiv nicht unterstützt. Ich habe sehr viele kritische Stimmen dazu gehört. Denn die Studierenden sind sich sehr wohl bewusst, dass die Straße – auch wenn sie manchmal ruhig scheint – Hoffnung bedeutet. Jede*r einzelne Studierende spürt das, auch wenn er oder sie keine ausgefeilte politische Analyse hat. Der Grund, warum die Menschen keine großen Hoffnungen mehr in die CHP setzen, ist genau das. Die CHP ist eine Partei, die sich am Ende einfach wieder auf das Wählen zurückzieht. Aber wir wissen – sowohl als Studierende als auch als TİP-Mitglieder –, dass sich diese Probleme nicht allein über Wahlen lösen lassen. Deshalb stößt das auf sehr viel Kritik. Ich habe kaum Unterstützung von Studierenden gesehen.

Nun sieht man vor allem auch an der staatlichen Repression, dass die Studierenden die Mehrheit der Inhaftierten ausmachen. Derzeit sind noch rund 80 Personen in Haft. Macht euch das Angst oder was löst das bei euch aus? 

Bei unseren friedlichen Protesten wurden unsere eigenen Freund*innen und Kommiliton*innen inhaftiert. Menschen, die wir persönlich kennen. Das hat uns sehr getroffen. Denn man weiß, dass diese Personen dort aus Sorge um das Land und die Zukunft protestieren. Und trotzdem wird selbst so eine Person vom Staat dermaßen als Feind betrachtet, morgens um fünf aus dem Bett geholt, kriminalisiert, ihr Recht auf Bildung wird ihr genommen und so weiter. Wir wissen, dass das inakzeptabel ist. Auch das hat uns sehr mitgenommen. Wir wissen aber auch, dass wir nicht aufhören werden für ihre Freilassung zu kämpfen.

Anfang April wurden dann plötzlich doch recht viele Studierende wieder aus der Haft entlassen, auch der Hausarrest für einige wurde aufgehoben. Seht ihr das als eine Art Zugeständnis der Regierung gegenüber den Protestierenden? 

Wir sehen das eigentlich nicht als einen Rückschritt des Regimes. Wir denken eher, dass das AKP-Regime aktuell hysterisch und planlos handelt und angesichts dieser Bewegung überfordert ist. Denn vermutlich hatte die AKP, als sie İmamoğlu festnehmen ließ, nicht damit gerechnet, dass sich die Situation so entwickeln würde. Sie hatten nicht erwartet, dass so viele Menschen wütend sein und diese Wut auch nach außen tragen würden.

Die AKP weiß nicht mehr, was sie tun soll. Sie handelt außerhalb ihrer ursprünglichen Agenda.

Deshalb wissen sie jetzt selbst nicht mehr, was sie tun sollen. Sie handeln außerhalb ihrer ursprünglichen Agenda. Das ist eine Dynamik, wie man sie zuletzt bei den Gezi-Protesten gesehen hat – und selbst Gezi war irgendwann abgeklungen, während das hier nun schon länger andauert. Zum Beispiel Mitte April, als wir uns als TİP Jugend im Istanbuler Gülhane-Park getroffen haben und eine Versammlung abhielten, wurden wir plötzlich ohne ersichtlichen Grund von der Polizei eingekesselt. Dabei war sogar einer unserer Abgeordneten (der Parteivorsitzende Erkan Baş) dabei, der parlamentarische Immunität genießt.

Die aktuelle Bewegung wird oft mit den Gezi-Protesten von 2013 verglichen. Manche sehen große Ähnlichkeiten, andere sagen, die jetzigen Proteste seien «weniger links». In der Tat sieht man auch die Präsenz von Nationalisten und rechten Gruppierungen, auch der Wolfsgruß wird immer wieder gezeigt, das Symbol der faschistischen Grauen Wölfe. Welcher Bedeutung kommt deiner Meinung nach diesem rechten Teil der Jugend zu und wie sollte man – besonders als jemand von der TİP – darauf reagieren?

Was diese Bewegung von Gezi unterscheidet, ist eigentlich, dass sie es geschafft hat, viele Menschen zusammenzubringen. Und der Punkt, an dem sie alle vereint sind, ist nicht einmal eine bestimmte politische Linie. Es gibt Leute, die den Bozkurt-Gruß zeigen, wir selbst gehen mit dem Friedenszeichen dorthin. Was diese Einheit ermöglicht hat, ist der gemeinsame Hass auf die AKP. 

Ich persönlich habe nie eine andere Regierung erlebt. Wenn man so lange unter solch einem Druck lebt, entsteht eine gemeinsame Wut, die verbindet.

Ich persönlich habe nie eine andere Regierung erlebt. Wenn man so lange unter solch einem Druck lebt, entsteht eine gemeinsame Wut, die verbindet. Deshalb sind so viele Menschen aus verschiedenen politischen Richtungen auf die Straße gegangen. Aber natürlich hat jede*r eine andere Vorstellung davon, wie sich diese Bewegung entwickeln und was sie bewirken soll. Wir als TİP-Mitglieder stellen uns zum Beispiel gegen die rechtswidrige Inhaftierung von İmamoğlu, weil wir sagen: Die AKP muss diese illegale Inhaftierung beenden. Es gibt hier etwas Unrechtmäßiges – und İmamoğlu war ein Kandidat, der theoretisch auch Präsident hätte werden können. Wenn İmamoğlu gewählt worden wäre, hätte das vielleicht Räume eröffnet, die uns dem sozialistischen Ziel näherbringen.

Um noch einmal auf die Nationalisten zurück zu kommen, habt ihr als Linke also keine Sorge, von ihnen angegriffen zu werden?

Natürlich haben wir keine Angst. Denn wenn man selbst auf der Straße ist, merkt man sehr schnell, warum. Bei der Demo zum Beispiel – die, die den Bozkurt-Gruß gezeigt haben oder Parolen mit Schimpfwörtern gerufen haben – das sind Unorganisierte. Die wissen vielleicht, was sie sagen, aber sie haben auf keinen Fall die Macht, die sie in den 1960ern oder 80ern mal hatten. Sie sind nur verbal aktiv, mehr ist da nicht. Unsere Organisation ist viel stärker als ihre. Deshalb hat man keine Angst, wenn man draußen ist. Man kann sich auf seine Genoss*innen verlassen und auf die eigene Organisiertheit vertrauen.

Während die Studierenden versuchen, die Bewegung auf der Straße weiterzuführen, gibt es auch immer wieder die Forderung nach einem Generalstreik, der sich an die Werktätigen und Gewerkschaftsführungen richtet. Doch die organisierte Arbeiterklasse in der Türkei ist weder besonders stark noch politisch besonders links – im Gegenteil, viele stehen der AKP eher nahe. Glaubst du, dass dieser Ruf nach einem Generalstreik eher symbolisch gemeint ist?

In der Türkei gibt es tatsächlich gerade viele Fabriken, die im Streik sind. Aber wenn wir über einen «Generalstreik» im eigentlichen, organisierten Sinne sprechen, dann denken auch wir, dass die Arbeiterklasse in der Türkei dafür aktuell noch nicht ausreichend organisiert ist. Wir denken aber, dass wir den gewerkschaftlichen Aufbau nach dem Ende des AKP-Regimes viel besser vorantreiben können. Vielleicht würde ein Generalstreik heute tatsächlich noch keinen echten Widerhall auf der Straße finden. Aber wenn das AKP-Regime einmal gefallen ist, werden wir in den kommenden Jahren diese Organisierung viel stärker betreiben können. Und dann könnte ein Generalstreik ein richtiger Schritt sein – für eine bessere, sozialistische, gerechtere Türkei.