Hintergrund | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - 8. Mai 1945 Unrecht kennt keinen Verrat

Jan Korte über den langen Kampf für die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz

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Jan Korte,

Das «Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur und für die Opfer der NS-Militärjustiz» in Erfurt gibt es seit 1995.
«Dem unbekannten Wehrmachtsdeserteur – Den Opfern der NS-Militärjustiz – Allen die sich dem Naziregime verweigerten» Das «Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur und für die Opfer der NS-Militärjustiz» in Erfurt gibt es seit 1995., CC BY-SA 2.0, Foto: Torsten Maue, via Flickr

Am 8. September 2009 hatte ich zusammen mit meinem Team wahrscheinlich einen meiner größten politischen Erfolge als Bundestagsabgeordneter der Linken, auf den ich heute noch stolz bin: Die Mehrheit des Deutschen Bundestags stimmte der Rehabilitierung von «Kriegsverrätern» zu. Drei Jahre harte und zähe Auseinandersetzungen waren diesem Beschluss vorausgegangen waren. Wir erlebten revanchistische Ausfälle, üble Geschäftsordnungstricks und alle Kniffe der Verzögerungstaktik. Mehrfach hatte ich wirklich genug von diesen Tricksereien. Aber: Zum Glück gab es Menschen wie Ludwig Baumann (1921-2018), den Gründer und Vorsitzenden der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, der uns mit Euphorie und Expertise immer wieder Beine und Lust machte, weiterzuarbeiten. Doch der Reihe nach:

Jan Korte studierte Politikwissenschaften, Geschichte und Soziologie an der Universität Hannover. Von 2005 bis 2025 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, von 2009 bis 2023 gehörte er dem Vorstand der Fraktion DIE LINKE an, deren Erster Parlamentarischer Geschäftsführer er von 2017 bis 2023 war. Jan Korte ist stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

2006 erhielt ich einen Brief von Ludwig Baumann. Darin machte er mich auf das skandalöse Problem aufmerksam, dass auch mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Faschismus, die sogenannten Kriegsverräter immer noch nicht rehabilitiert waren. Als «Kriegsverräter» wurden im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldaten verurteilt, die z.B. kritische Tagebucheinträge verfasst oder Kriegsgefangenen ein Stück Brot zugesteckt hatten. Doch während es im Jahre 2002 endlich gelungen war, die Urteile gegen Deserteure und «Wehrdienstverweigerer» pauschal aufzuheben, scheiterte die Rehabilitierung der «Kriegsverräter», trotz rot-grüner Mehrheit und insbesondere am damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Denn nicht nur Union und FDP, sondern auch weite Teile der Sozialdemokratie hingen weiter den Mythen und Lügen der «sauberen Wehrmacht» und damit auch ihrer Militärjustiz an. Angesichts des Ausmaßes der Verbrechen unfassbar: Denn die NS-Militärjustiz verurteilte etwa 1,5 Millionen der ca. 20 Millionen Wehrmachtssoldaten. Auf Hitlers Weisung «Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben», wurden die Wehrmachtsdeserteure und «Kriegsverräter» unbarmherzig verfolgt. Rund 30.000 Soldaten wurden von den ca. 1300 Militärgerichten zum Tode verurteilt und etwa 23.000 Todesurteile anschließend vollstreckt. Überlebt haben die Verfolgungen in den Konzentrationslagern und Strafbataillonen keine 4.000.

Die meisten Wehrmachtjuristen konnten ihre Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen, viele von ihnen gelangten in hohe Schlüsselstellungen der Justiz.

Trotzdem galt in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Wehrmachtjustiz als über jeden Verdacht erhaben. Veröffentlichungen zur Wehrmachtjustiz waren ausschließlich apologetisches Schrifttum ehemaliger NS-Juristen. Im Unterschied zum Volksgerichtshof hätten die Wehrmachtrichter sich von jeglichen politischen Vorgaben freigehalten und Milde walten lassen, wo es das Gesetz irgendwie ermöglichte. Der Versuch, die Wehrmachtjuristen zur Verantwortung zu ziehen, ist niemals ernstlich unternommen worden. Von den wenigen gegen Kriegsrichter eingeleiteten Strafverfahren ist kein einziges mit Erfolg zu Ende geführt worden. Kein einziges der von den Wehrmachtgerichten verhängten Todesurteilen wurde gesühnt. Die meisten Wehrmachtjuristen konnten in der Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzen, viele von ihnen gelangten in hohe Schlüsselstellungen der bundesdeutschen Justiz.

Erst durch die Arbeiten des damaligen Leiters des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr (MGFA), Prof. Dr. Manfred Messerschmidt, wurde die wissenschaftliche Aufarbeitung der Wehrmachtjustiz angestoßen und zum Forschungsgegenstand. Doch noch in einer Wanderausstellung des Bundesjustizministeriums zu den Verstrickungen der Justiz im Nationalsozialismus Anfang der 1990er Jahre fehlte die Militärjustiz gänzlich. Mit der Ausstellung «Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944», die seit 1995 in vielen Städten große öffentliche Aufmerksamkeit fand, wurde in den umfänglichen Rahmenprogrammen Aufmerksamkeit auch auf die Wehrmachtjustiz gelenkt, obwohl diese selbst kein Thema der Ausstellung war.

Die NS-Militärjustiz verurteilte etwa 1,5 Millionen der ca. 20 Millionen Wehrmachtssoldaten.

So verwundert es auch nicht, dass jahrzehntelang keinerlei politische Anstrengung seitens der Bundesrepublik unternommen wurde, die Aufhebung dieser Unrechtsurteile und die Rehabilitierung der Opfer zu erwirken. Entschädigungsanträge wurden von den Sozialgerichten bis 1991 stets abgewiesen, da der betreffende Soldat nicht zu Unrecht verurteilt worden sei. Dies änderte sich erst mit einem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991, in dem der Witwe eines hingerichteten Wehrmacht-Deserteurs eine Witwenrente zuerkannt wurde, mit der Begründung, die Todesurteile der Wehrmachtgerichte gegen Deserteure und Überläufer seien offensichtlich unrechtmäßig.

Die einsetzende kritische Auseinandersetzung führte zum Unrechtsaufhebungsgesetz von 1998. Dieses beschränkte sich im Wesentlichen jedoch auf die Aufhebung der Unrechtsurteile des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte. Auch in dem Unrechtsaufhebungsänderungsgesetz von 2002, das sonst alle anderen Opfer der Wehrmachtjustiz rehabilitierte, blieben die nach Paragraf 57 Militärstrafgesetzbuch, also gegen «Kriegsverräter» verhängten Todesurteile ausdrücklich ausgeschlossen. Und dies, obwohl es Fritz Bauer, der große hessische Generalstaatsanwalt, bereits 1952 im sogenannten Remer-Prozess in seinem Schluss-Plädoyer in wunderbarer Form auf den Punkt gebracht hatte: «Unrecht kennt keinen Verrat!»

Im Oktober 2006 brachte die Linksfraktion unseren entsprechenden Gesetzentwurf mit dem sperrigen Titel «Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG)» ein. Damals waren CDU/CSU und SPD unter Kanzlerin Merkel in der Regierungskoalition. Und obwohl etliche Koalitionsabgeordnete wussten, dass eine Rehabilitierung richtig wäre, wurde diese ewig verzögert. Darüber berichteten damals unter anderem der SPIEGEL («Rehabilitierung von NS-Opfern wird zum Trauerspiel»), der Tagesspiegel («Das letzte Tabu»), die taz («Im Namen des Führers») oder auch der Deutschlandfunk («Deserteure, ‹Wehrkraftzersetzer› und ‹Kriegsverräter›»).

Die pauschale Rehabilitierung war ein großer Erfolg.

In der SPD dauerte es lange, bis das Anliegen dort so viel Unterstützung hatte, dass man den Mut fand, es gegenüber der Union zu thematisieren. Selbst als aus unserer Initiative ein gemeinsamer Gruppenantrag entstanden war, dem sich Abgeordnete aus Linksfraktion, Grünen, SPD, FDP und sogar Unionsabgeordnete angeschlossen hatten, gab es aus der SPD-Fraktion noch die Empfehlung, dem Antrag nicht zuzustimmen. Die traute sich erst nach dem OK aus der Unionsfraktion aus der Deckung, in der sich die Vernunft gegen die letzten Vertreter des «Stahlhelmflügels» durchgesetzt hatte. Vorausgegangen war dieser Kehrtwende die Aufdeckung einer veritablen Lüge: So baute die Ablehnung der Union maßgeblich auf einem Gutachten des von ihr benannten Sachverständigen Professor Dr. Rolf-Dieter Müller vom MGFA auf. Müller führte darin «als besonders krasses Beispiel» von Kriegsverrat ein angeblich auf Kriegsverrat lautendes Todesurteil des Reichskriegsgerichts gegen General Edgar Feuchtinger ins Feld. Unserem Sachverständigen Dr. Helmut Kramer gelang es durch akribische Recherchen in der Öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses am 5. Mai 2008 jedoch nachzuweisen, dass Feuchtinger nie wegen Kriegsverrat verurteilt worden war. Der Skandal führte medial zu einem Stimmungsumschwung: Zwischen März und August 2009 erschienen kritische Beiträge in fast 200 Zeitungsartikeln.

Drei Jahre nach Einbringung unseres Gesetzentwurfs, stand unser Antrag schließlich im Herbst 2009 zur Abstimmung. Außerdem der überfraktionelle, wortgleiche Gruppenantrag sowie ein gleichlautender Antrag von allen Fraktionen außer der LINKEN - sonst wäre die CDU/CSU nicht mit draufgegangen. In meiner Rede zur Debatte im Plenum stellte ich damals fest:

«Auch wenn ich dazu ein wenig Lust verspüre, will ich nicht darüber sprechen, was hier in den letzten drei Jahren gesagt und wie diskutiert wurde. Ich will auch nicht darüber reden – man kann hier eine andere Position haben –, was  aus parteitaktischen Erwägungen in den letzten drei Jahren abgelaufen ist. Ich will auch nicht näher darauf eingehen, dass es schon relativ absurd ist, dass ausgerechnet der Name derjenigen Fraktion, die dieses Thema seit dreieinhalb Jahren vorangebracht hat, nicht auf diesem Antrag steht. Aber geschenkt! Wir stimmen auf jeden Fall zu; das haben wir immer gesagt. Uns geht es um die Sache. Deswegen werden wir heute natürlich allen Anträgen zustimmen, in denen eine pauschale Rehabilitierung vorgesehen ist.»

Es lohnt sich auch heute noch das Protokoll der gesamten Debatte, inklusive der Beiträge aus der CDU/CSU-Union, nachzulesen.

Die pauschale Rehabilitierung war ein großer Erfolg. Gesellschaftlich, aber auch für mein Team und damals vor allem Dominic Heilig, mit dem ich später ein Buch darüber herausgegeben habe. Sie gelang, weil viele unser gemeinsames Anliegen unterstützten: die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz um Ludwig Baumann, die evangelische Kirche, die jüdische Gemeinde Berlin, einzelne, engagierte und aufrechte Journalist*innen und Abgeordnete, kritische Juristen wie Helmut Kramer,  und viele andere mehr. Sie alle haben mit ihrem Engagement und dem langen Kampf um das Erinnern an die Deserteure und «Kriegsverräter», die sich dem Wahnsinn des verbrecherischen Weltkrieges von Hitlers Wehrmacht verweigerten, zur Demokratisierung und Zivilisierung dieser Gesellschaft beigetragen. Doch diese Erfolge sind fragil und akut bedroht.

Wir brauchen keine neuen ‹Helden›, die für Nation, Gott oder Kapital auf zukünftigen Schlachtfeldern verrecken, sondern Humanisten und Diplomatinnen.

Über die vom Bundestag getroffenen Einzelbeschlüsse hinaus sollte deshalb endlich ein abschließender Beschluss gefasst werden, der an dem grundsätzlichen Unrechtscharakter der NS-Militärjustiz keinen Zweifel lässt. Damit würden antimilitaristische Einstellungen gestärkt und nicht zuletzt Bestrebungen zur Schaffung einer neuen Militärjustiz erschwert. Denn nach Ausrufung der «Zeitenwende» wird innerhalb der Bundeswehr auch wieder fleißig an einer eigenen Militärgerichtsbarkeit gearbeitet.

Wir brauchen keine neuen «Helden», die für Nation, Gott oder Kapital auf zukünftigen Schlachtfeldern verrecken, sondern Humanisten und Diplomatinnen. Der Frieden muss gestärkt werden, nicht der Krieg! Die weitere Aufarbeitung des Unrechtscharakters der Wehrmachtjustiz kann vielleicht dabei helfen, der «inneren Mobilmachung» und Militarisierung der Bundesrepublik etwas entgegenzusetzen. Studien zu Opfern, zur Spruchpraxis und vor allem auch biografische Studien zu den fast 3.000 Richtern wären denkbar und nötig. Nötig wäre aber auch die kritische Auseinandersetzung mit dem System dieser «Justiz» und dessen personeller Rekrutierung. Antworten auf Fragen, wie z. B. auf welchem Weg Juristen in solche Dienste genommen wurden, wie sie sich darin verhielten, welche Handlungsspielräume bestanden, sind gesellschaftlich relevant und können helfen, immer noch bestehende Legenden zu überprüfen und zu widerlegen. Auch Fragen nach der Wiederverwendung dieser Juristen und deren Einfluss auf die nachfolgende(n) Juristengeneration(en) in der Bundesrepublik könnten endlich erforscht werden. Es bleibt also jede Menge zu tun. Mehr denn je.

 
Literatur: Jan Korte und Dominic Heilig (Hrsg.): Kriegsverrat. Vergangenheitspolitik in Deutschland - Analysen, Kommentare und Dokumente einer Debatte, Berlin 2011