
Durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hat sich die Zusammensetzung der jüdischen Communities in Deutschland fundamental verändert. 2020 lebten hierzulande mehr als 275.000 Personen, die mindestens einen jüdischen Großelternteil, und davon 118.000, die nach orthodoxer Interpretation jüdischen Status hatten, von diesen wiederum waren knapp 94.000 Mitglied in den gut hundert Gemeinden (S. 174). Zudem leben heute geschätzt 20.000 Israelis in Deutschland, zwei Drittel davon in Berlin. Zum Vergleich: Ende der 1980er-Jahre lebten in Westdeutschland ungefähr 28.000 Jüdinnen sowie Juden in den überalterten Gemeinden, und in der DDR waren es nur noch wenige Hundert. Diejenigen, die in der frühen BRD jüdisches Leben wiederbegründet hatten, waren meist Displaced Persons gewesen oder deren Nachkommen.
Diese Entwicklung hat eine neue Diversität erzeugt, was jüdische Religion, Kultur und Selbstverständnis angeht. Sie hat immense Bedeutung für die Sichtbarkeit jüdischen Lebens ebenso wie für die Erinnerungsgemeinschaften und -politik. Es gibt eben nicht die eine, homogene deutsch-jüdische Geschichte, sondern komplexe Muster und Verflechtungen.
Waren für die alteingesessenen Jüdinnen und Juden (und die hegemoniale Erinnerungspolitik) etwa die Shoah und die Novemberpogrome wichtig, so ist es für die eingewanderten die Befreiung von Auschwitz. Dies hat historische Gründe: Mehr als eine halbe Million jüdische SoldatInnen kämpften in der Roten Armee, von denen 200.000 fielen oder in deutscher Gefangenschaft umgebracht wurden. Tausende waren auch im Widerstand oder kämpften bei den PartisanInnen. Sie und ihre Nachkommen sahen und sehen sich in erster Linie nicht, wie die Nachkommen von Holocaustüberlebenden als Opfer, sondern als SiegerInnen und Befreier.
Mehrere, sehr lesenswerte Beiträge in diesem aus einer Tagung des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden 2022 in Hamburg resultierenden Bandes (Programm als PDF) drehen sich um diese mentalen Landkarten und ihre Folgen. Vier andere Beiträge thematisieren historische Aspekte im engeren Sinne, etwa wenn der Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden nach 1945 in Bremen sowie vergleichend in Dresden und Würzburg untersucht wird. Die Architekturhistorikerin Alexandra Klei widmet sich sehr kritisch der Rekonstruktion von Synagogen; und Susanna Kunze berichtet von den Neugründungen jüdischer Privatschulen, 2023 gibt es insgesamt 16 solcher Schulen, 13 davon wurden erst nach 1990 gegründet. Auch wenn einige neue Gebäude gebaut wurden, ist doch vieles baulich gleich geblieben. Die in ihnen von Jüdinnen und Juden gelebten Praktiken und die geistigen Traditionen haben sich ab 1990 aber radikal verändert.
Die Publikation skizziert einige Aspekte, bietet neue Perspektiven und lädt zur weiteren Beschäftigung mit diesem politisch wichtigen Themenfeld ein. Sie ist auf der Verlagswebsite auch als Open-Access-Version zugänglich.
Karen Körber und Björn Siegel: Deutsch-Jüdische Geschichte und Gegenwart. Herausforderungen und Perspektiven am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 58, Wallstein-Verlag, Göttingen 2025, 188 Seiten, geb., 34 Euro