
Die nach monatelangem politischen Stillstand gebildete belgische Regierung präsentiert sich unter der Führung von Premierminister Bart De Wever als stabilisierende Kraft in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit. Die sogenannte «Arizona-Koalition», benannt nach den Farben der liberalen, christdemokratischen und flämisch-nationalistischen Parteien, verspricht den Bürger*innen eine Stärkung der Haushaltsdisziplin und wirtschaftliche Erholung. Dabei zeigt sich schon von Anfang an, dass ihre tatsächliche politische Agenda die sozialen Unsicherheiten des Landes nicht beheben, sondern höchstwahrscheinlich weiter vertiefen wird.
Federico Tomasone ist Projektmanager im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel und befasst sich vorwiegend mit Gewerkschaften, globalen sozialen Rechten und Landwirtschaft sowie den Projekten der Stiftung in Italien.
Im Herzen des politischen Regierungsprogramms steht ein Rezept, das Arbeiter*innen in Europa und auf der ganzen Welt wohl bekannt ist: Sparmaßnahmen im sozialen Bereich bei gleichzeitigen Steuererleichterungen für Unternehmen und einem Fokus auf Sicherheitsfragen und Aufrüstung. Die Regierung behauptet zwar, die Maßnahmen seien nötig, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und strategische Position Belgiens zu sichern, allerdings folgen sie einem europaweiten Trend, demnach die Arbeiterklasse die Last der Krise schultern soll, während das Kapital davon weitgehend unberührt bleibt.
Doch die belgischen Arbeiter*innen nehmen diese Entwicklung nicht einfach so hin. Mit ihrer langen Tradition gehören die belgischen Gewerkschaften zu den stärksten in Europa. In der aktuellen Debatte setzen sie strategisch auf Mobilmachungen, mit denen sie Sichtbarkeit und Standhaltevermögen des Widerstands fördern. Die landesweiten, monatlichen Proteste, zu denen sie aufrufen, haben in Brüssel und in anderen Städten schon mehrere Tausend Menschen auf die Straßen gebracht. Auch wenn die Regierung bislang keine Anzeichen zeigt, dass sie den Protesten nachgeben könnte, werden diese Proteste nicht einfach so verstummen.
Austeritätspolitik und ihre Widersprüche
Die wirtschaftspolitische Strategie der Arizona-Koalition ist alles andere als neu. Wie viele andere EU-Mitgliedstaaten unterliegt auch Belgien den Vorgaben des Europäischen Semesters – einem Verfahren zur Überwachung der Wirtschaftspolitik, das strenge Haushaltsregeln vorschreibt. Im Juli 2024 leitete der Rat der Europäischen Union ein Defizitverfahren gegen Belgien und mehrere andere Mitgliedstaaten ein, um ihr Haushaltsdefizit bis 2027 auf unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken.
Auf dieser Grundlage argumentiert die Regierung, diese politischen Maßnahmen seien nicht nur notwendig, sondern zudem von den europäischen Institutionen vorgeschrieben, um den nationalen Haushalt auszugleichen und das Vertrauen der Investor*innen zu erhalten. Tatsächlich bedeuten die Maßnahmen jedoch einen massiven Angriff auf die Lebensstandards der belgischen Arbeiterklasse. Zur Einhaltung der EU-Vorgaben plant die Bundesregierung Einsparungen in Höhe von insgesamt 5,4 Milliarden Euro – darunter 2,7 Milliarden bei den Renten sowie weitere 2,7 Milliarden im Bereich der Gesundheitsversorgung und Arbeitslosenunterstützung.
Die geplanten Kürzungen im Gesundheitswesen würden einen drastischen Anstieg der direkt zu erbringenden Auslagen bedeuten – bei Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten und Medikamenten –, und das bei einer gleichzeitigen Absenkung der Erstattungssätze, wodurch sich die Eigenbeteiligung, das sogenannte ticket modérateur, bedeutend erhöhen würde. Die Budgets der Krankenhäuser sollen massiv gekürzt werden, was zu Personalengpässen und längeren Wartezeiten führen dürfte. Apotheken könnten unter Druck geraten, vermehrt Generika zu verkaufen. Unter diesen Reformen werden insbesondere vulnerable Gruppen wie einkommensschwache Haushalte und Senior*innen leiden. Sie könnten ein Zwei-Klassen-System etablieren, in dem nur privat Versicherte eine angemessene Versorgung erhalten, was letzten Endes auch einen ersten Schritt in Richtung Privatisierung des Gesundheitswesens bedeutet.
Unterdessen soll das gesetzliche Renteneintrittsalter 2025 auf 66 und bis 2030 auf 67 angehoben werden. Strengere Bedingungen für und stärkere Abschläge bei Frührenten sind vorgesehen. Das bislang vergleichsweise großzügige belgische Arbeitslosengeld soll gekürzt, auf eine maximale Bezugsdauer von zwei Jahren begrenzt und erst nach frustrierend langen Wartezeiten angepasst werden, während die Familienleistungen, die vulnerable Haushalte unterstützen gänzlich gestrichen werden soll. Darüber hinaus soll die Kündigungsfrist neuer Mitarbeiter*innen während der Probezeit auf nurmehr eine Woche verkürzt werden und ein neues Leistungsregister die staatliche Kontrolle über Sozialtransfers verschärfen.
Der Generalssekretär der belgischen Gewerkschaftskonföderation, der Féderation Générale du Travail de Belgique, bezeichnete die Maßnahmen als den größten Angriff der letzten 80 Jahre auf den belgischen Sozialstaat. Während die automatische Lohnindexierung vorerst bestehen bleibt, verhindert das unveränderte Lohngesetz faktisch einen realen Lohnzuwachs. Gleichzeitig bleiben Versprechen (wie etwa der angekündigte monatliche Nettozuschlag von 100 Euro für Alleinverdiener*innen bis 2029) frustrierend unverbindlich. Die Förderung der sogenannten «Flexi-Jobs» und die Deregulierung von befristeten Arbeitsverhältnissen sowie Studierendenjobs gehen in Richtung eines deregulierten Arbeitsmarktes – und zu Lasten von Beschäftigungssicherheit und fairer Entlohnung.
Zu guter Letzt will De Wevers Regierung Maßnahmen zur Restriktion des Demonstrationsrechts einführen. So soll etwa das sogenannte Van-Quickenborne-Gesetz ein bis zu sechsjähriges Demonstrationsverbot für sogenanntes «Randaliereren» ermöglichen. Der Begriff ist laut Kritiker*innen des Gesetzes absichtlich vage gefasst, so dass er auch gewaltfreie Protestformen wie das Blockieren von Infrastruktur oder geringfügigen Sachschaden einschließen könnte. Darüber hinaus erwägt die Regierung die Überarbeitung oder gar Abschaffung eines Abkommens zwischen Gewerkschaften und Staat aus dem Jahr 2002, das das Streikrecht rechtlich absichert.
Gleichzeitig weigert sich die Regierung kategorisch, höhere Steuern für Spitzenverdiener*innen und Unternehmen einzuführen – mit der Behauptung, solche Maßnahmen würden die «wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit» gefährden. In einem Land wie Belgien, in dem Unternehmensgewinne erschreckend niedrig besteuert werden, wodurch das Land faktisch als verstecktes Steuerparadies innerhalb der EU fungiert, ist dieses Argument allerdings kaum glaubhaft. Vielmehr tritt hier eine klar klassenpolitisch motivierte Agenda zu Tage: Während Arbeiter*innen durch den Sozialabbau belastet werden, bleibt das steuerliche Schonregime für Unternehmen und Vermögende unangetastet. Diese eklatante Doppelmoral wird für immer mehr Menschen sichtbar und befeuert den wachsenden Protest gegen ein System, das die Interessen des Kapitals über das Wohlergehen der Bevölkerung stellt.
Waffen statt Wohlfahrt
Einer der auffälligsten Widersprüche im Regierungsprogramm ist die gleichzeitig geplante massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben. In Anlehnung an die NATO-Vorgaben soll der Militärhaushalt deutlich ausgeweitet werden: ein Schritt, der sich in eine breitere europäische Tendenz der Wiederaufrüstung einfügt. Verteidigungsminister Theo Francken, der wie Premierminister Bart De Wever Mitglied der nationalistischen Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) ist, bezeichnete diesen Kurswechsel als dringend notwendig, um eine «historische Unterfinanzierung» zu korrigieren. Die derzeitige Verteidigungsfähigkeit des Landes sei, so Francken, eine «nationale Schande» und Belgien «nicht vorbereitet» auf die Abwehr globaler Bedrohungen.
Zur Schließung der Finanzierungslücke von rund vier Milliarden Euro will die Regierung einen Verteidigungsfonds einrichten, der durch Dividendenausschüttungen staatlicher Unternehmen, den Verkauf staatlicher Vermögenswerte und durch möglicherweise von der EU befürwortete haushaltspolitische Spielräume finanziert werden soll. Francken zufolge sollen diese Investitionen die «Resilienz» der Streitkräfte wieder aufbauen, die nationale Politik mit den NATO-Zielen in Einklang bringen und eine Antwort auf die hybriden Bedrohungen sein, die von Russland und der Instabilität im Nahen Osten ausgehen. Während das 150-Milliarden-Euro-Schuldenprogramm der EU für gemeinsame Verteidigungsausgaben eine mögliche Unterstützung sein könnte, äußerte sich De Wever skeptisch über eine neue Verschuldung. Er argumentierte, dass es so etwas wie «Gratisgeld» nicht gäbe, und verwies auf mögliche haushaltspolitische Einschränkungen.
Dieses Gesamtbild wirft grundlegende Fragen über die politischen Prioritäten auf – Fragen, die unmittelbar in das Feld der Klassenpolitik führen. Während die Budgets für Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherungssysteme drastisch gekürzt werden, stellt die Regierung Milliarden für die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge und den Personalausbau der Streitkräfte bereit. Der scharfe Kontrast zwischen Sozialabbau und militärischer Aufrüstung ist dabei kein rein belgisches Phänomen: In der gesamten EU stellen die Regierungen Militärausgaben vor soziales Wohlergehen. Die politische Botschaft ist unmissverständlich: Öffentliche Mittel sind vorhanden – aber nicht für die Bedürfnisse der Arbeiter*innenklasse. Der sich zuspitzende Widerspruch zwischen militärischer Aufrüstung und sozialer Austerität hat sich europaweit zu einem ideologischen Leitmotiv entwickelt, das traditionelle Parteien immer näher an Parteien der extremen Rechten rückt, die ihre anti-systemische Rhetorik inzwischen weitgehend abgelegt haben und nun aktiv einen Kurs der Aufrüstung und gesellschaftlichen Militarisierung vorantreiben.
Zeit, sich zu wehren
Angesichts dieser umfassenden Offensive sind belgische Gewerkschaften zu einer Strategie einer kontinuierlichen Mobilisierung übergegangen und organisieren Proteste, die am 13. jedes Monats stattfinden. Der gewählte Zeitpunkt hat starken symbolischen Charakter: Er markiert den Zeitpunkt, ab dem zahlreiche Arbeitnehmer*innen monatlich die Belastung stagnierender Löhne und steigender Lebenshaltungskosten schmerzlich zu spüren bekommen.
Die Wahl eines fixen, wiederkehrenden Datums ist allerdings mehr als reine Symbolik. Die Proteste begannen bereits vor der Bildung der aktuellen Regierung: Die erste große Demonstration fand am 13. Dezember 2024 statt. Die Gewerkschaften wollten bereits während der Koalitionsverhandlungen Druck aufbauen und von Anfang an ihren Widerstand gegen die zu erwartenden Sparmaßnahmen signalisieren. Die präventive Mobilisierung verfolgte zwei Ziele: Erstens sollte das Mandat der künftigen Regierung noch vor ihrem Amtsantritt geschwächt werden. Zweitens sollten so die gewerkschaftlichen Forderungen die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit erhalten. Als die Koalition rings um De Wever vereidigt wurde, war der monatliche Protestrhythmus bereits etabliert und der 13. zu einem wiederkehrenden Stichtag zur Äußerung des öffentlichen Unmuts geworden.
Die Mobilisierungen waren alles andere als spontan, sondern sind Teil einer kalkulierten politischen Zermürbung: Jeder Protest zur Monatsmitte wird zu einem Baustein für größere Aktionen und sorgt so dafür, dass von Anfang an die Gegner*innen der Sparpolitik – und nicht die Regierung – die Deutungshoheit über die zur Debatte stehenden Maßnahmen innehatten. Einen ersten großen Höhepunkt erreichte diese Strategie am 13. Februar 2025, als in Brüssel über 100.000 Menschen auf die Straße gingen. Eine Mobilisierung in dieser Größenordnung hatte es zuletzt 2014 gegeben, als die Michel-Regierung ihre erste Welle des Sozialabbaus und stagnierender Löhne durchsetzte. Kurz nach der Februar-Demonstration kündigten die Gewerkschaften an, dass ein Festhalten der Regierung an ihrem Sparkurs eine Eskalation zur Folge hätte: Der Widerstand würde mit einem landesweiten Generalstreik in die nächste Phase übergehen.
Dieser folgte am 31. März und brachte das Land zum Stillstand. Besonders betroffen war das Transportwesen: Sämtliche Abflüge von den Flughäfen Brüssel und Charleroi wurden gestrichen; der Bahnverkehr fiel auf unter 50 Prozent der regulären Kapazität, wobei die meisten Züge in der Hauptverkehrszeit sowie internationale Verbindungen nach Deutschland, Österreich und in die Niederlande ausgesetzt wurden. Der öffentliche Nahverkehr in Brüssel stand kurz vor dem Kollaps. Blockaden in den Häfen führten dazu, dass 30 Schiffe im Hafen von Antwerpen festsaßen. Die Stahlarbeiter*innen im Werk von ArcelorMittal in Gent schlossen sich dem Streik an. Auch der Bildungsbereich war stark involviert. Über 34.000 flämische Lehrer*innen legten die Arbeit nieder – eine historisch hohe Beteiligung, die dazu führte, dass Schulen im ganzen Land geschlossen blieben. Öffentliche Dienstleistungen wie die Müllabfuhr oder die Post wurden eingestellt; im Gesundheitswesen lief nur noch im Notbetrieb. Arbeitgeberverbände bezifferten den wirtschaftlichen Schaden auf rund 500 Millionen Euro und warnten vor einem Imageverlust für Belgien, da so das Bild des Landes als «streikfreudige» Nation weiter gefestigt würde.
Die Bewegung wird auch durch wiederkehrende sektorale Streiks gestützt. Lehrkräfte in der Wallonie und in Brüssel traten am 27. und 28. Januar in einen 48-stündigen Streik. Die Eisenbahner*innen legten im März neun Tage lang die Arbeit nieder und streiken bisher im April 2025 jeden Dienstag für jeweils 24 Stunden. Diese Aktionen richten sich insbesondere gegen die geplante Rentenreform – inklusive der schrittweisen Anhebung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre – sowie gegen Kürzungen in Höhe von 675 Millionen Euro im Bahnbereich.
Die Forderungen der Protestierenden zeigen, wie viel ein breiter Widerstand der Arbeiterklasse erreichen könnte: Sie fordern die Rücknahme der Kürzungen der Renten und im Gesundheitssektor, die Einführung höherer Unternehmenssteuern, den Schutz der Lohnindexierung und der Arbeitnehmerrechte vor weiterer Deregulierung, die Beibehaltung des aktuellen Rentenalters sowie eine Umverteilung der Militärausgaben zugunsten sozialer Investitionen. Entschieden abgelehnt werden sowohl das Van-Quickenborne-Gesetz, das Demonstrationsverbote ausweiten will, als auch die von der EU geforderte Austeritätspolitik. Der politische Kampf versteht sich dabei explizit als ein Ringen um den Erhalt sozialer Rechte gegen eine zunehmend unternehmensfreundliche Politik.
Bemerkenswert an all dem ist die verbindende Kraft, die diese Protestwelle zwischen unterschiedlichen sozialen Forderungen und Gruppierungen entfaltet. Sie ermöglicht ein neues Bündnis zwischen der Arbeiterbewegung und den jüngeren Generationen und könnte eine noch stärkere Koalition hervorbringen.
Wenn das Leben dir Zitronen gibt …
Belgiens Mitte-links Parteien befinden sich derzeit in einer widersprüchlichen, ambivalenten Position. Während die flämischen Sozialdemokrat*innen von Vooruit direkt an der Regierungskoalition beteiligt sind und sich als moderierende Kraft innerhalb der Koalition inszenieren, haben sich die wallonische Sozialistische Partei (SP) und die Grünen auf die Seite der Proteste geschlagen. Diese «progressiven» Traditionsparteien haben allerdings jahrelange Regierungserfahrung hinter sich, in denen sie selbst wiederholt Austeritätsmaßnahmen durchgesetzt haben. Weder die Sozialdemokrat*innen noch die Grünen haben jemals ernsthaft das Dogma der Haushaltsanpassungen und die Opfer der Arbeiterklasse infrage gestellt – geschweige denn gebrochen. Ebenso wenig haben sie Steuerreformen eingeführt, die neue Ressourcen für öffentliche Investitionen und Wohlstandsumverteilung ermöglicht hätten.
Vor diesem Hintergrund konnte sich die Partei der Arbeit Belgiens (Partij van de Arbeid / Parti du Travail de Belgique, PVDA/PTB) vergleichsweise mühelos als glaubwürdige Kraft des politischen Bruchs profilieren: Sie legte konkrete Gesetzesinitiativen vor und verlieh den Forderungen der Arbeiterklasse innerhalb von Gewerkschaftsmobilisierungen und Arbeiterorganisationen Sichtbarkeit. Anfang 2025 startete eine Kampagne mit dem provokanten Slogan «On n’est pas des citrons» (Wir sind keine Zitronen), die mit pointierter Symbolik die Arbeitnehmer*innen gegen die Kürzungsmaßnahmen mobilisierte: Die Arbeiter*innen wurden als «ausgepresste Zitronen» dargestellt, Opfer der Gier der Konzerne und De Wevers neoliberaler Politik. Die Kampagne richtete sich gegen die Rentenkürzungen, die Angriffe auf die Lohnindexierung und die 5,4 Milliarden Euro Einsparungen bei Sozialleistungen, die mit den gleichzeitig gewährten 16 Milliarden Euro Unternehmenssubventionen kontrastiert wurden.
Die PTB-Demonstration unter dem Motto «Alle auf die Straßen am 13. Februar» brachte unzählige Arbeiter*innen und Studierende auf die Straße. Sie waren mit Zitronenstickern und -plakaten ausgestattet, die die aktuelle Deregulierung mit der brutalen Ausbeutung im 20. Jahrhundert verglichen. In der Verbindung der Theatralik von Graswurzelbewegungen und klassenkämpferischer Rhetorik machte die PTB die Zitrone zum Symbol des Widerstands.
Neben der Ausweitung ihrer Bemühungen in den Gewerkschaften hat die PTB also auch mit ihrer kreativen Kampagne an Boden gewinnen können. Sie ist ein direkter, schwerwiegender Angriff auf die Preistreiberei und Profitgier der Konzerne, der bei vielen Belgier*innen Anklang findet. So gewinnt die PTB zunehmend an Einfluss, insbesondere bei jungen Menschen und Wähler*innen aus der Arbeiterklasse.
Europaweiter Klassenkampf
Die Entwicklungen in Belgien sind kein isoliertes Phänomen. Vielmehr stellen sie einen spezifischen Ausdruck jener Klassenauseinandersetzungen dar, die derzeit in weiten Teilen Europas stattfinden. Seit 2022 sind die Anzahl und das Ausmaß von Streiks in Europa bedeutend gestiegen. In Frankreich führten 2023 umfassende Proteste gegen die Rentenreformen zu weitreichenden Störungen. Öffentliche Verkehrsmittel standen still, auf den Straßen türmten sich Müllberge. Im Vereinigten Königreich kam es zu groß angelegten Aktionen der Angestellten im öffentlichen Dienst, insbesondere im Transport- und Gesundheitswesen. Und auch in Deutschland legten Streiks im Luftfahrtsektor zentrale Flughäfen wie Frankfurt und München zeitweise lahm.
Angefeuert wird dieses Wiederaufleben gewerkschaftlicher Kämpfe in erster Linie durch die sich zunehmend verschlechternde Lebenslage der europäischen Arbeiterklasse. Nach der Pandemie hat sich der bereits seit der Finanzkrise 2008 anhaltende Rückgang des Lebensstandards intensiviert und die jüngsten Inflationsschübe haben die bereits angespannte Situation zusätzlich verschärft.
Während Arbeiter*innen in ganz Europa einen spürbaren Verlust ihrer Kaufkraft hinnehmen müssen, haben inflationsbedingte Zufallsgewinne – die durch Maßnahmen wie Zinserhöhungen durch die Europäische Zentralbank abgesichert wurden – die ungerechte Wohlstandsverteilung nur noch weiter polarisiert. Kapitaleinkommen sind geschützt, Arbeitseinkommen hingegen nicht.
Das immer weiter auseinanderklaffende globale Wirtschaftsgefälle hat die ökonomischen Widersprüche weiter zugespitzt, die immer dramatischer werden – befeuert durch Handelskriege und bewaffnete Konflikte, die zunehmend nach Europa gelangen. In den letzten zwei Jahren sind die Volkswirtschaften der EU in strukturelle Schwierigkeiten geraten und das Gespenst der Deindustrialisierung nimmt sogar in Deutschland, das lange als Europas Wirtschaftsmotor galt, klare Konturen an.
Um dieser Krise Meister zu werden, verfolgen die herrschenden Klassen Europas – sowohl auf staatlicher Ebene als auch in den EU-Institutionen – eine Strategie mit zwei Pfeilern: Einerseits setzen sie den austeritätspolitischen Kurs fort, der öffentliche Investitionen einschränkt und die Kaufkraft der Lohnabhängigen weiter schwächt. Andererseits wollen sie durch einen massiven Ausbau des Rüstungssektors ihre geopolitische Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Ungeachtet der wirtschaftlichen Logik und Wirksamkeit dieser Maßnahmen, offenbaren sie einen klaren Klassencharakter: Die Arbeitenden werden durch eine gedrosselte Kaufkraft und eine Kriegswirtschaft diszipliniert, bei der ein externer Feind ebenfalls zu einer inneren Destabilisierung führt. Die Ausschaltung des sozialen Dialogs, zunehmende Disziplinierungsmaßnahmen am Arbeitsplatz und die bevorstehende Umlenkung von Einsparungen in die Rüstungsproduktion: All das sind typische Merkmale einer Mobilisierung in Kriegszeiten, die inzwischen deutlich sichtbar werden.
Was tun?
Derzeit scheint die belgische Regierung noch fest entschlossen, ihr Programm ungeachtet des Widerstands voranzutreiben. Die Strategie erinnert stark an die eiserne Faust der Thatcher-Ära, die jüngst auch unter Emmanuel Macron in Frankreich wiederbelebt wurde. Während die Regierung jedoch eine kompromisslose Haltung an den Tag legt und versucht, die Proteste zu diskreditieren (wobei sie auch zunehmend Rhetoriken der extremen Rechten übernimmt), hat die Protestbewegung in der Gesellschaft tiefe Wurzeln geschlagen. Der nächste Generalstreik ist bereits für den 29. April angekündigt.
Heutzutage verzichten die herrschenden Klassen Europas weitgehend auf das Zuckerbrot und greifen bei Verhandlungen bevorzugt direkt zur Peitsche. Doch die Hartnäckigkeit und das Potenzial wachsender Proteste in Belgien und in anderen Ländern eröffnen einen Horizont, der nationale Grenzen überwindet.
Während der Krise von 2008 wurden die Unterschiede in den Lebensbedingungen in den verschiedenen europäischen Ländern und die daraus resultierende Zersplitterung der Interessen der Arbeiterklasse deutlich sichtbar. Heute können wir eine objektive Angleichung der Lebensstandards in den EU-Mitgliedstaaten beobachten, was eine Möglichkeit einer koordinierten, von der Arbeiterklasse bestimmten Antwort eröffnet. Ein strategischer Zusammenschluss der Kämpfe und Zielsetzungen ist heute nicht nur notwendiger denn je, sondern womöglich auch realistischer als noch vor einem Jahrzehnt.
Um diese Situation produktiv zu nutzen, muss die Arbeiterbewegung jedoch eine klare Vision entwickeln und diese überzeugend artikulieren, wobei radikalen Parteien der Arbeiterklasse eine zentrale Rolle zukommt. Angesichts der zunehmenden sozialen Polarisierung können sie als strategische Klammer fungieren. Sie organisieren die kämpferischsten Segmente der Klasse und bringen zugleich die Gewerkschaften auf einen ernstzunehmenden konfrontativen Kurs, der es den Arbeiter*innen ermöglicht, ihr universales und transformatives Potential jenseits bloßer Abwehrkämpfe zu erkennen. Denn rein defensive Haltungen sind letztlich zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht durch mit einer vorausschauenden, offensiven Strategie einhergehen.
Die gewaltsame Offensive der herrschenden Klasse ist Ausdruck ihrer zerfallenden Hegemonie. Die Parteien der Arbeiterklasse dürfen es jetzt nicht dabei belassen, sich lediglich an den Kämpfen zu beteiligen. Ihre Aufgabe besteht darin, den kollektiven Aufbau einer gegenhegemonialen Kraft aktiv voranzutreiben. Die PTB hat in dieser Hinsicht zwar bereits einige Schritte unternommen, doch erfordern sowohl das Ausmaß als auch die Tragweite des Konflikts auch von ihrer Seite mehr Entschlossenheit und Mut.
Eine Reihe von Fragen bleibt bisweilen unbeantwortet. Können die Gewerkschaften in Belgien und auf dem gesamten Kontinent den Kampf fortsetzen und dem Druck standhalten? Und werden sie es darüber schaffen, den Rückzug in einen defensiven Korporatismus und alte Bündnisse mit einem dem Tod geweihten sozialen Kompromiss zu vermeiden? Werden Arbeiterorganisationen – sowohl Gewerkschaften als auch politische Parteien – in der Lage sein, nicht nur die Lebensstandards ihrer Basis zu verteidigen, sondern auch einen alternativen Weg zu kollektivem Wohlergehen und friedlicher Koexistenz zu bahnen? Können sie zu gegenhegemonialen Projekten im gramscianischen Sinne werden – fähig, die soziale und politische Führung zu übernehmen und die Unterstützung von Millionen zu gewinnen?
In einer Zeit, in der die Krisenbewältigungsstrategien des Kapitals zunehmend katastrophale Dimensionen annehmen, markiert der Kampf der belgischen Arbeiterklasse einen organischen Moment in den sich zuspitzenden Klassenkämpfen Europas. Bleibt nur zu hoffen, dass Arbeiter*innen auf dem ganzen Kontinent diesem Beispiel folgen.
Übersetzung von Charlotte Thießen & Claire Schmartz für Gegensatz Translation Collective.