Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Shoah und linkes Selbstverständnis - Nahost und Antisemitismus in der BRD - Antisemitismus und Nahost global Glöckner/Jikeli (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023; Baden-Baden 2025

Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr in vielen Milieus

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Zusehends gibt es immer mehr Literatur zu den Folgen des Überfalls der Hamas auf Israel und des dabei verübten Massakers an größtenteils Zivilisten. Während Israel und die jüdische Community in eine Art Schockstarre verfielen, und sich dort heute noch befinden, legitimierten, wenn nicht gar bejubelten online und offline viele die Morde und die Verschleppungen der Geiseln. Die vorliegende Publikation widmet sich in 15 Beiträgen den vielen Facetten des wachsenden Antisemitismus in Deutschland. Grundthese ist dabei, der Überfall habe wie ein Katalysator gewirkt, der dazu geführt habe, dass verschiedene Milieus sich neu antisemitisch artikulieren, die dort bereits vorhandene Judenfeindschaft sich steigerte und diese sich endlich freier äußern könne. Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr seien überall zu finden. Empathie für Juden und Jüdinnen sei jedoch ausgeblieben, so die Sprachwissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel in ihrem fast verzweifelten, aber trotzdem fulminanten Text.

Die in Artikeln untersuchten und beschriebenen Milieus und Themen sind islamischer Antisemitismus, die evangelische Kirche, der Kulturbereich (documenta 15 und so weiter), die Hochschulen, die AfD und die radikale Linke. Alle Artikel sind mit vielen gedruckten und Online-Quellen versehen, der Beitrag zum Antisemitismus unter derzeit Studierenden basiert auf Befragungen, der Text zu den Folgen der massenhaften sexualisierten Gewalt auf die jüdische Community in Deutschland (von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai) auf ersten Ergebnissen aus dem bundesweiten Forschungsprojekt des Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und der Fachhochschule Potsdam.

Einige weitere seien herausgehoben: Dani Kranz berichtet in einem autobiografischen Text von ihren Erfahrungen mit Antisemitismus im Wissensbetrieb der letzten über 20 Jahre in Deutschland, Großbritannien, Mexiko und den USA. Sie weist außerdem daraufhin, dass sich die Judaistik in Deutschland kaum mit jüdischem Leben der Gegenwart beschäftige. Verena Buser kritisiert und dekonstruiert den Genozid-Vorwurf, der auch von renommierten HolocaustforscherInnen gegen Israel vorgebracht wird. Uwe Dziuballa betreibt zusammen mit seinem Bruder Ariel das Restaurant Shalom in Chemnitz, und ist dort seit dem 7. Oktober merklich mit noch mehr Attacken konfrontiert, wie er eindrücklich berichtet.

Eine auffällige Leerstelle hat das Buch: Die sich stetig radikalisierende politische und gesellschaftliche Mitte und deren Antisemitismus kommt nicht vor. Es wäre aber wichtig gewesen, sie einzubeziehen um ein besseres und genaueres Bild zu erhalten.

Die Texte dieses Bandes beziehen Position, sie sind durch die AutorInnen größtenteils dem antisemitismuskritischen und israelsolidarischen Lager zuzurechnen. Die vertretenen Thesen sind mit Belegen untermauert, und sie sind, wenn das Thema nicht so ernst und beunruhigend wäre, anregend zu lesen. Ein trotz des formulierten Kritikpunktes sehr nützliches und immens wichtiges Buch.

Olaf Glöckner/ Günther Jikeli (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023, Olms Verlag bei NOMOS, Baden-Baden 2025, 316 Seiten, 29 Euro