
Indien und Pakistan bereiten sich auf einen Krieg vor. Der Casus Belli ist einmal mehr das besetzte Kaschmir. Seit 1947 stellt die Kontrolle über diese umstrittene Region das zentrale Hindernis für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten dar.
Tariq Ali ist Redaktionsmitglied der «New Left Review».
Dann griff am 21. April eine Gruppe kaschmirischer Extremisten Tourist*innen in Pahalgam an, die gerade die Schönheit der Blumenwiesen, der kristallklaren Bäche und schneebedeckten Berge genossen. 26 Menschen wurden getötet. Schnell bekannte sich eine kaum bekannte Gruppe namens «Resistance Front» zum Anschlag, distanzierte sich jedoch bald darauf wieder davon. Für Narendra Modi – der als Ministerpräsident für die Massaker in Gujarat im Jahr 2002 mitverantwortlich war, bei denen schätzungsweise 2.000 Zivilist*innen getötet wurden, und der sich seit langem als Verteidiger antimuslimischer Gewalt inszeniert – stellte dies eine besondere Provokation dar. Der rechtsradikale Hindu-Nationalist Modi, der Indien in seiner dritten Amtszeit als Premierminister regiert, hatte zuvor bekannt gegeben, dass das Kaschmir-Problem de facto gelöst sei und dass seine «endgültige Lösung» – der Entzug des Autonomiestatus von Kaschmir im Jahr 2019 – funktioniert habe.
Anhaltender Streit um Kaschmir
Nichts kann das Massaker an den Urlauber*innen in Pahalgam oder ähnliche Taten rechtfertigen, die nur von einer verschwindend kleinen Minderheit der Kaschmiri oder indischen Muslim*innen befürwortet werden. Doch um die Lage in der Region zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte unerlässlich. Selbst Israel verfügt mit Haaretz über ein kritisches Medium. Indien hat keines. Kaschmir bleibt ein Tabuthema. Die mehrheitlich muslimische Provinz erhielt nie das Selbstbestimmungsrecht, das die Kongresspartei (Indian National Congress) bei der Unabhängigkeit Indiens zugesagt hatte. Stattdessen wurde die Region nach einem kurzen Krieg zwischen den neu gegründeten Republiken Indien und Pakistan aufgeteilt, da der britische Oberbefehlshaber der pakistanischen Armee den Einsatz regulärer Truppen verweigert hatte, woraufhin ein zusammengewürfelter Haufen von Milizen gegen reguläre indische Einheiten kämpfen musste. Der als Pazifist bekannte Mahatma Gandhi gab der indischen Invasion seinen Segen. Dabei sollten die Artikel 370 und 35A der indischen Verfassung eigentlich den Sonderstatus Kaschmirs absichern, nicht zuletzt durch das Verbot für Nicht-Kaschmiri, dort Land zu erwerben und sich niederzulassen. Jede Äußerung von Unzufriedenheit wurde brutal unterdrückt; Kaschmir wurde zu einem Polizeistaat, in dem das Militär nie weit entfernt war. Tötungen und Vergewaltigungen waren keine Seltenheit. Seither wurden Massengräber entdeckt.
Mutige indische Bürger*innen wie Arundhati Roy, Pankaj Mishra und andere haben diese Verbrechen unermüdlich angeprangert. Angana Chatterji dokumentierte im Zuge ihrer Feldforschung von 2006 bis 2011 zahlreiche Beispiele:
Menschen wurden gezwungen, die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen ihrer Familie mit anzusehen. Eine Mutter, die dabei zusehen sollte, wie Soldaten ihre Tochter vergewaltigten, flehte um Erbarmen. Die Soldaten gaben ihr nicht nach. Daraufhin bat sie, den Raum verlassen zu dürfen oder getötet zu werden. Ein Soldat hielt ihr eine Waffe an die Stirn und sagte, dass er ihr diesen Wunsch erfüllen werde, und erschoss sie – bevor sie ihre Tochter vergewaltigten.
Das war nicht einmal rechtwidrig. Denn das vom Obersten Gerichtshof Indiens bestätigte Gesetz über Sondervollmachten für die Streitkräfte (Armed Forces Special Powers Act) von 1958 gewährt uniformierten Vertreter*innen des Zentralstaates in «unruhigen Gebieten» faktische Straffreiheit.
Im Jahr 2019 bestand Modis Strategie darin, Kaschmir mit indischen Truppen zu überschwemmen, Ausgangssperren zu verhängen, lokale Führungspersonen und Journalist*innen zu verhaften und die Bevölkerung so sehr in Angst und Schrecken zu versetzen, dass es keine Proteste geben würde, die die westlichen Mächte zum Einspruch veranlassen könnten. Das Ziel war, das Tal zum Zentrum der Milchproduktion für das ganze Land zu verwandeln. Die Repression schien zu funktionieren – bis jetzt.
Aufrufe zum Krieg auf beiden Seiten
Die indische Regierung ist überzeugt, dass das Massaker auf das Konto der pakistanischen Armee geht. Bislang wurden keine Beweise vorgelegt, aber der Vorwurf erscheint plausibler als die pakistanische Antwort, es habe sich um eine Operation unter falscher Flagge gehandelt. Nicht zuletzt hatte der pakistanische Verteidigungsminister, Khawaja Asif, am 24. April im britischen Fernsehen eingeräumt, dass Pakistan seit Jahrzehnten im Auftrag der USA Terrorgruppen ausgebildet und finanziert habe. Einige Tage später sagte Asif einen indischen Angriff auf Pakistan voraus, nur um diese Äußerung später wieder zurückzunehmen.
Indische Politiker*innen verschiedener Parteien rufen offen zum Krieg auf. Shashi Tharoor, ein prominentes Mitglied der Kongresspartei und ehemaliger hochrangiger UN-Diplomat, erklärte: «Ja, es wird Blut vergossen werden. Aber mehr von ihrem als von unserem.» Die öffentliche Stimmung ist geprägt von Rachedurst und der Forderung nach einem schnellen, entschlossenen Krieg. Israels Genozid in Gaza wird zustimmend als Vorbild genannt, doch ein anderes Szenario erscheint wahrscheinlicher: Nach dem israelischen Bombenangriff auf die iranische Botschaft in Damaskus im April 2024 koordinierte die CIA innerhalb kürzester Zeit eine gezielte iranische Vergeltungsaktion, bei der US-amerikanische, französische, britische und jordanische Luftabwehrsysteme iranische Drohnen und Raketen abfingen.
Die indische Armee und Luftwaffe bereiten einen Angriff vor, der sich offenbar am iranischen Vergeltungsschlag orientieren soll. [Am 7. Mai ist dieser Angriff erfolgt – d. Red.] Pensionierte Generäle rühmen sich öffentlich des eigenen Drohnenarsenals. Die radikalste Maßnahme, die derzeit diskutiert wird, ist die Besetzung des von Pakistan kontrollierten Teils von Kaschmir und dessen Anschluss an den indischen Teil. Die Drohungen, Pakistan den Zugang zu Wasser abzuschneiden, sind bloßes Säbelrasseln, und Bilawal Bhuttos Replik – «Wenn das Wasser nicht fließt, wird euer Blut fließen» – war unbedacht und unklug, selbst für einen ehemaligen Außenminister Pakistans.
War Pahalgam ein Vergeltungsschlag für den Angriff in Bolan, der einen Monat zuvor stattfand? Möglich. Wird ein Krieg irgendetwas lösen, selbst wenn Indien nur ein weiteres kleines Stück von Kaschmir annektiert? Wohl kaum.
Indische Medien behaupten, dass die aufwieglerische Rede des pakistanischen Armeechefs, General Asim Munir, am 17. April vor Vertreter*innen der pakistanischen Diaspora der Auslöser für Pahalgam gewesen sei. Andere, wie der frühere pakistanische Major Adil Raja, sind überzeugt, dass Munir selbst den Anschlag angeordnet habe, um sein Ansehen zu steigern und den Weg für eine neue Militärdiktatur zu ebnen. Doch der Geheimdienst ISI habe sich dem versperrt. Schadensbegrenzung oder Wahrheit? Schwer zu sagen, doch Munirs alarmierende Rede liefert zumindest Hinweise auf die späteren Ereignisse.
Ziel der Rede war es offenbar, wohlhabenden Auslandspakistani unmissverständlich zu vermitteln, dass die Armee die Macht innehat. Unter den Zuhörer*innen befanden sich offenbar Claqueure, die dem General für seine beispiellos groben, vulgären und ignoranten Aussagen stehenden Applaus spendeten. Mir ist kein früherer Militärdiktator Pakistans bekannt, der sich je in einem ähnlich herablassenden Tonfall geäußert hätte. Der in Sandhurst ausgebildete General Ayub Khan war farblos und säkular. General Yahya Khan war höchst unterhaltsam, wenn er betrunken war, und mied öffentliche Auftritte. General Zia-ul-Haq war ein religiöser Fanatiker mit sadistischen Zügen, zugleich aber offen für Verhandlungen mit Indien; anti-hinduistische Rhetorik war nicht seine Art. General Pervez Musharraf schließlich war im Wesentlichen säkular, vergleichsweise gebildet und ernsthaft an einer Annäherung an Indien interessiert.
Munirs Versuch, sich als pakistanischer Modi in Uniform zu inszenieren, scheiterte kläglich. Er stellte drei Thesen auf, die allesamt abscheuliche nationalistische Lügen sind. Erstens, dass Hindus immer der Feind gewesen seien und Muslim*innen nie mit ihnen zusammenleben könnten. Das ist eine Umkehrung von Modis Behauptung, dass alle indischen Muslim*innen vom Hinduismus konvertiert seien und zu ihm zurückkehren sollten. Jemand hätte den General aufklären müssen: Vor 1947 lebten Muslim*innen fast zwölf Jahrhunderte lang mit Hindus und später auch mit Sikhs zusammen. In der von Modi wie von islamistischen Fundamentalist*innen gehassten Mogulzeit gab es gemischte Armeen mit muslimischen und hinduistischen Offizieren, die ein von Muslimen gegründetes Reich verteidigten.
Der Islam breitete sich so schnell aus, dass viele vorislamische Rituale aus Westafrika, Europa, Indien, China und Südostasien in die neue Religion integriert wurden. Die heute in Pakistan gelehrte wahhabitische Version der Geschichte ist engstirnig und falsch. Im vorkolonialen und selbst im kolonialen Indien wurden bestimmte Heilige von Hindus wie von Muslim*innen verehrt. Dieser neue Versuch einer einfältigen Geschichtsschreibung schadet den Pakistani, im Inland wie im Ausland, und ist mitverantwortlich für das Unvermögen vieler junger Muslim*innen, Islamfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen.
Munir bezeichnete Kaschmir als «unsere Halsschlagader. Wir werden Kaschmir nicht vergessen. Wir werden unsere kaschmirischen Brüder in ihrem historischen Kampf nicht im Stich lassen.» In Wirklichkeit steht jedoch der Großteil Kaschmirs seit August 1947 unter indischer Kontrolle. Der von Pakistan verwaltete Teil der Region passt nicht zur anatomischen Metapher. Treffender wäre vielleicht ein überflüssiger Zipfel in General Yahyas Leber.
Sein drittes, hochemotionales Argument bezog sich auf die Unverletzlichkeit der Zwei-Nationen-Theorie, die als ideologische Grundlage Pakistans gilt. Doch diese Theorie wurde 1970 von der pakistanischen Armee verletzt, als diese sich weigerte, das Wahlergebnis anzuerkennen, mit dem die Bengalen Ostpakistans eine Mehrheit errungen hatten. Diese Weigerung von General Yahya führte zu Massakern an bengalischen Muslim*innen durch ihre «Brüder» aus Westpakistan, einem Bürgerkrieg sowie einer Intervention Indiens. Das bedeutete auch das Ende der Zwei-Nationen-Theorie. Anders als Munir seinem Publikum weismachen wollte, hat das Militär Pakistan nicht gerettet, sondern an den Rand des politischen und wirtschaftlichen Ruins geführt. Man hätte der versammelten Diaspora eine Liste der Armeechefs, die als Milliardäre in Rente gingen, zur Verfügung stellen sollen.
Prekäre Lage in Belutschistan
Angenommen, der Argumentation halber, der Anschlag in Pahalgam sei tatsächlich eine pakistanische Operation gewesen. Warum ausgerechnet jetzt? Pakistanische Offizielle werfen Indien vor, die nationalistische Guerillaorganisation Belutschistan-Befreiungsarmee (Balochistan Liberation Army, BLA) zu unterstützen, die eine Abspaltung des Südwestens vom pakistanischen Staatsverband anstrebt. Der bislang kühnste Angriff der BLA fand am 13. März dieses Jahres statt, als sie im Bolan-Pass einen Zug entgleisen ließ und Passagiere als Geiseln nahm. Die BLA greift regelmäßig Militärposten und Bahnhöfe an. Dieser Überfall war offensichtlich gut vorbereitet. Pakistan ist überzeugt – und viele Beobachter*innen teilen diese Einschätzung –, dass Indien die BLA mit Waffen beliefert und finanziert. Gerüchte über chinesische Marineaktivitäten im Hafen von Gwadar nähren zusätzlich den Verdacht, dass die USA ebenfalls hinter der BLA stehen könnten. Dutzende chinesischer Arbeiter*innen wurden von belutschischen Nationalist*innen getötet.
Das Gesamtbild ist komplex, und Pakistan trägt zweifellos erhebliche Mitverantwortung an diesem explosiven Gemisch. Wie die kurdischen Nationalist*innen haben auch die Belutsch*innen erkannt, dass es in der heutigen geopolitischen Realität keine echte Unabhängigkeit mehr gibt; in Syrien und im Irak haben sich kurdische Gruppen mit Israel und den USA verbündet. Die BLA steht nun vor einer ähnlichen strategischen Entscheidung. Es ist schwer vorstellbar, dass ihr einziges Ziel darin besteht, China aus Gwadar zu vertreiben. Der alte, progressive Antikolonialismus ist tot. Den Belutsch*innen bleibt nur die Wahl zwischen Pakistan oder Indien, samt ihrer jeweiligen Verbündeten. Wie bei den Kurd*innen profitieren meist nur die eingesetzten Anführer*innen, während die Bevölkerung weiter leidet. Auch in Belutschistan werden letztlich multinationale Konzerne die Ressourcen plündern. Man nehme nur das Beispiel Irak.
Für die meisten Kaschmiri wäre die beste Lösung ein vereinigter, autonomer Staat mit Sicherheitsgarantien durch Pakistan und Indien sowie die Wiedereinsetzung der Artikel 370 und 35A in die indische Verfassung.
War Pahalgam ein Vergeltungsschlag für den Angriff in Bolan, der einen Monat zuvor stattfand? Möglich. Wird ein Krieg irgendetwas lösen, selbst wenn Indien nur ein weiteres kleines Stück von Kaschmir annektiert? Wohl kaum. Hinter den Kulissen hat Indien Pakistan ein Angebot gemacht: «Wir können den Status quo akzeptieren und die Kontrolllinie zu einer festen Grenze erklären. Danach folgen ein Friedensvertrag, freier Handel, die Aufhebung der Einschränkungen für das pakistanische Cricket, visafreies Reisen.» Die pakistanische Armee soll interessiert gewesen sein, wenn auch gespalten. Schlussendlich setzte sich jedoch die Fraktion «Kaschmir ist unsere Halsschlagader» durch.
Die beste Lösung
Für die meisten Kaschmiri wäre die beste Lösung ein vereinigter, autonomer Staat mit Sicherheitsgarantien durch Pakistan und Indien sowie die Wiedereinsetzung der Artikel 370 und 35A in die indische Verfassung. Zu schön, um wahr zu sein? Vielleicht. Doch die Alternativen scheinen unerreichbar oder schlimmer.
Während der letzten Proteste gegen Modis autoritäre Herrschaft – wie nach dem Sturz von Zias Militärdiktatur im Jahr 1988 – fanden auf beiden Seiten der Grenze Studierende und andere zusammen: Hindus, Muslim*innen, Christ*innen und Sikhs. Gemeinsam rezitierten sie ein Gedicht von Faiz Ahmad Faiz, der von Modis Gefolgschaft als «antihinduistisch» verurteilt wurde:
Wir werden sehen
Ganz sicher werden wir sehen
Den Tag, der uns verheißen ist
Eingeschrieben in die Schöpfung selbst
Wir werden Zeugen sein
Wie der mächtige Berg der Unterdrückung und Grausamkeit
Verweht wird wie ein Stück Watte
Wie unter unseren Füßen, den Füßen der Gedemütigten
Die Erde erbebt, sich aufbäumt, erzittert
Wie über den Köpfen der Herrschenden
Blitz und Donner aufheulen und krachen
Und nur der Name Gottes bleibt
Der überall ist und verborgen
Spektakel und Zuschauer zugleich
Wie der Ruf laut wird: «Ich bin die Wahrheit»
Und das heißt: ich, und das heißt: du
Und Gottes Volk wird herrschen endlich
Und das heißt: ich, und das heißt: du
Wir werden diesen Tag sehen
Ganz sicher werden wir ihn sehen
Es handelt sich um die deutsche Erstveröffentlichung des Textes «On the Brink?», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung von Claire Schmartz für Gegensatz Translation Collective.