
Es vergeht kein Tag ohne neue verstörende Nachrichten zum Krieg in Gaza. Auch wenn – nach mehr als anderthalb Jahren Krieg, einem in weiten Teilen zerstörten Gazastreifen und Zehntausenden Toten und Verletzten – die Frage nach einer roten Linie ohnehin wie blanker Hohn erscheint, scheint diese für die israelische Regierung und ihre deutschen Unterstützer*innen immer noch nicht erreicht zu sein. Die Politik zieht nach wie vor keine Konsequenzen, auch nicht in Deutschland.
Katja Hermann ist Referentin für Westasien bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die jüngsten Ankündigungen der israelischen Regierung, die Kriegshandlungen in Gaza auszuweiten und eine dauerhafte Militärpräsenz vor Ort aufzubauen, bedeuten eine weitere massive Eskalation. Damit trifft die israelische Regierung erneut eine Richtungsentscheidung, die gegen internationales Recht, humanitäres Völkerrecht und international verbriefte Menschenrechtsstandards verstößt. Mit der geplanten erneuten Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung in den Süden des Küstenstreifens wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine ethnische Säuberung vorbereitet.
Trumps Vertreibungsplan
Es ist davon auszugehen, dass diese Pläne mit Washington abgestimmt sind. Denn sie passen gut zu Trumps Fantasie, aus Gaza eine «Riviera des Nahen Ostens» zu machen – nach der Abschiebung der Bevölkerung in die Nachbarländer Ägypten und Jordanien. Wie ernst es Israel und den USA mit diesem Vertreibungsszenario ist, zeigt sich darin, dass der international zunächst auf breite Ablehnung gestoßene Trump-Plan keineswegs vom Tisch ist; vielmehr scheint der US-amerikanische Präsident an ihm festzuhalten, wie jüngste Verlautbarungen bestätigen.
Der starke Druck der USA auf Jordanien und Ägypten, Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen aufzunehmen, belegt die reale Gefahr dieses Szenarios. Ägypten und Jordanien haben bislang eine umfängliche Aufnahme von Palästinenser*innen strikt abgelehnt. Zum einen würden sie sich damit an der Vertreibung beteiligen, was, nicht nur in der arabischen Welt, einem Tabubruch gleichkäme. Zum anderen hat vor allem Jordanien, wo bereits jetzt die Mehrzahl der Bevölkerung palästinensische Wurzeln hat, kein Interesse daran, das ohnehin fragile demographische Gleichgewicht im Land weiter zu strapazieren. Eine Aufnahme von Palästinenser*innen würde zudem in beiden Ländern unkalkulierbare innenpolitische Spannungen auslösen und den Druck auf die Regierungen massiv erhöhen. Gleichzeitig sind sowohl Ägypten als auch Jordanien, die beide vor Jahrzehnten Friedensverträge mit Israel unterzeichnet haben, wichtige Verbündete der USA und der westlichen Staatengemeinschaft. Sie erhalten insbesondere von den USA, aber auch von anderen westlichen Ländern einschließlich der Bundesrepublik, in großem Umfang Wirtschafts-, Militär- und Entwicklungshilfe. Ob und wie lange sich Jordanien und Ägypten die Ablehnung gegenüber den USA leisten können, ist offen.
Was jetzt im Gazastreifen passiert, hat eine ganz andere Dimension und macht eine politische Lösung auf lange Sicht unmöglich.
Die ständigen Vertreibungen der Menschen, die seit Beginn des Krieges innerhalb des Gazastreifens stattfinden, und die jetzigen Vertreibungsszenarien sind erbarmungslos – auch deshalb, weil die Geschichte der Palästinenser*innen eine Geschichte von Vertreibung und Zerstörung ist, die sich tief ins kollektiven Gedächtnis der Menschen eingegraben hat. UN-Resolutionen zum Trotz gibt es bis heute keine Kompensation für Verluste, die sie seit 1948 erlitten haben, geschweige denn die Möglichkeit einer Rückkehr an jene Orte, aus denen sie in den darauffolgenden Kriegen vertrieben wurden oder flüchten mussten. Die Verständigung auf eine Zwei-Staaten-Lösung, der die palästinensische Führung in den 1990er Jahren zustimmte und bei der die Palästinenser*innen auf einen großen Teil des von ihnen beanspruchten Landes verzichten würden, gilt in der palästinensischen Erzählung als ein historischer Kompromiss, der eingegangen wurde, um eine pragmatische Lösung für den jahrzehntelangen Territorialkonflikt zwischen Israel und den Palästinenser*innen zu finden. Auch wenn die Formel «zwei Staaten für zwei Völker» bislang nicht umgesetzt wurde, so gilt sie doch in der internationalen Staatengemeinschaft, und auch für Deutschland, als Orientierungsrahmen für eine künftige Verhandlungslösung.
Was jetzt im Gazastreifen passiert, hat eine ganz andere Dimension und macht eine politische Lösung auf lange Sicht unmöglich. Was ursprünglich mit dem Recht auf Selbstverteidigung, der Notwendigkeit der Beseitigung der Hamas und der Rettung der israelischen Geiseln gerechtfertigt worden war, hat zu einer weitgehenden Zerstörung des Gazastreifens geführt. Angesichts der systematischen Kriegführung Israels gegen die Bevölkerung prüft der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) derzeit den Vorwurf des Völkermords.
Es gibt kein Entrinnen
Man muss in diesem Kontext daran erinnern, dass die Bevölkerung Gazas von Anfang an keine Chance hatte, dem Krieg zu entkommen. Aufgrund der strengen Abriegelung des Gebietes konnten die Menschen nicht einmal flüchten (abgesehen von den ersten Wochen, als manche noch nach Ägypten fliehen konnten). Sie haben keinerlei Möglichkeiten, sich vor den Angriffen Israels zu schützen, da es in Gaza keine Bunker oder Schutzräume für die normale Bevölkerung gibt. Auch ein Aufbegehren gegen die Hamas und ihre Verbündeten vor Ort ist kaum möglich, da Proteste brutal unterdrückt werden. Umso bemerkenswerter ist es, dass es in den letzten Wochen in Gaza dennoch wiederholt zu offenen Protesten gegen die Hamas gekommen ist. Die undifferenzierte Gleichsetzung der Bevölkerung des Gazastreifens mit der Hamas in Politik und Medien hat zu einer Entmenschlichung geführt, auf deren Basis das Vorgehen Israels in Gaza – gerade in Deutschland – als weitgehend tolerierbar dargestellt oder gar totgeschwiegen wird.
Die bewusst herbeigeführte Hungersnot ist Bestandteil der systematischen Kriegführung gegen die unter Besatzung und Abriegelung lebende Bevölkerung.
Anfang des Jahres hat die israelische Regierung dem UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) untersagt, aus Israel heraus im Gazastreifen zu arbeiten. Damit fiel die wichtigste humanitäre Organisation zur Unterstützung der notleidenden Bevölkerung faktisch aus. Israel missachtet mit diesem Schritt eine UN-mandatierte Einrichtung, die seit Jahrzehnten die Versorgung der Palästinenser*innen gewährleistet hat. Anfang März wurden dann die ohnehin für humanitäre Hilfe nur unregelmäßig geöffneten Grenzen zu Gaza vollständig geschlossen und die Versorgung des Küstenstreifens mit Nahrungsmitteln und anderen Hilfslieferungen eingestellt. Die damit ausgelöste Hungersnot wurde bewusst herbeigeführt, sie ist Bestandteil der systematischen Kriegführung gegen die unter Besatzung und Abriegelung lebende Bevölkerung. Auch hier ignoriert Israel die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht, die das Recht auf Nahrung und Ernährungssicherheit für jeden Menschen festschreiben und auch in Kriegszeiten gelten.
Die Bundesregierung muss handeln
Betrachtet man die desolate Situation in Gaza, ist das laute Schweigen der deutschen Politik erschreckend. Zwar hat die Bundesrepublik seit Beginn des Gaza-Krieges rund 300 Millionen Euro für humanitäre Hilfe für Palästina bereitgestellt. Mit einem Großteil dieser Mittel wird medizinische und Nahrungsmittelhilfe finanziert.
Politische Konsequenzen hat die Bundesregierung indes nicht gezogen. Explizite Kritik am Vorgehen Israels in Gaza ist rar; Deutschland liefert stattdessen weiter Waffen und Kriegsgerät und versichert Israel regelmäßig seiner uneingeschränkten Loyalität. Auch auf Einladungen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wird nicht verzichtet, obwohl gegen ihn ein Haftbefehl des IStGH wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. So hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, der am 7. Mai zum Bundeskanzler gewählt wurde, Netanjahu noch am Abend der Bundestagswahl zum Deutschlandbesuch eingeladen. Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plant für Mitte Mai eine Israelreise, um gemeinsam mit Staatspräsident Jitzchak Herzog und Ministerpräsident Netanjahu 60 Jahre deutsch-israelische Beziehungen zu feiern. Damit stellt Deutschland die Doktrin der «Staatsräson» über internationale Gesetze und Gerichtsbarkeit und macht sich der Komplizenschaft schuldig.
Die internationale Staatengemeinschaft hat mit Blick auf Gaza versagt. Sie schafft es nicht, den genozidalen Krieg zu stoppen, die Hungerskatastrophe zu verhindern und einer möglichen Vertreibung entgegenzutreten. Dabei impliziert das humanitäre Völkerrecht eine Drittstaatenverpflichtung, nach der Staaten aktiv werden müssen, um derartige Katastrophen zu vermeiden.
Deutschland stellt die Doktrin der ‹Staatsräson› über internationale Gesetze und Gerichtsbarkeit und macht sich der Komplizenschaft schuldig.
Deutschland ist zwar seit vielen Jahren ein relevanter Akteur in Palästina, wenn es um finanzielle und entwicklungspolitische Unterstützung geht. Angesichts der menschgemachten Tragödie im Gazastreifen reicht dieses Engagement jedoch nicht länger aus. Die rote Linie ist längst überschritten. Die Bundesrepublik muss sich endlich von ihrer Nibelungentreue verabschieden und ihre Möglichkeiten nutzen, die von Ministern der Netanjahu-Regierung offen angekündigte ethnische Säuberung des Gazastreifens zu verhindern.