Nachricht | Cäsar: Ungesehen. Weibliche Migration in die Bundesrepublik 1960 bis 1990; Göttingen 2024

Am Beispiel von Wolfsburg

Information

Autorin

Rebecca Gotthilf,

Taisa Cäsar setzt in ihrem Werk einen deutlichen Kontrapunkt zu den vorherrschenden, weitgehend männlich geprägten Erzählungen der deutschen Einwanderungsgeschichte. Ihre Intention ist es, die oft unsichtbaren und unterschiedlichen Geschichten von Migrantinnen sichtbar zu machen und das vorherrschende historische Narrativ über Arbeitsmigration und Migrationsprozesse zu korrigieren. Die aus einer Masterarbeit entstandene Publikation orientiert sich dabei an der Oral History Methode und nimmt die Perspektive der Migrant Agency als Ausgangspunkt.

Die Autorin beleuchtet die Migrationserfahrungen der Frauen, indem sie einerseits auf individuelle Schicksale eingeht, andererseits die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen, die das Leben und die Möglichkeiten dieser Frauen prägten, erzählt, wobei sie ihre Handlungsfähigkeit als zentralen Ausgangspunkt nimmt. Sie zeigt damit, dass Migrantinnen nicht nur Opfer ihrer Umstände sind, sondern Akteurinnen, die Entscheidungsfreiräume suchen, erkämpfen und nutzen.

Erweitert durch das Capabilities-Aspiration Framework legt sie versiert und sensibel den Blick auf weibliche Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1960 und 1990, und zeigt am Beispiel der Stadt Wolfsburg sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf.

Cäsar gliedert ihre Studie dazu in drei zentrale Abschnitte: Migration, Integration und Emanzipation, und geht der Reise der Frauen nach, deren Erfahrungen im geteilten Nachkriegsdeutschland sie untersucht. Darin hinterfragt sie die gängigen Konzepte von Integration und Gastarbeit kritisch und legt die Prozesshaftigkeit und Kontinuität von Migrationserfahrungen dar. Sie zeigt verschiedene Lebensläufe auf und kontrastiert die Eigenständigkeit im Migrationsprozess der Frauen. Die nicht nur durch ihre geschlechtliche Situierung, sondern auch durch ihre verschiedenen Herkunftsländer, Migrationsbedingungen sowie -motive dargelegten Erfahrungen, brechen die nach wie vor männlich geprägten Perspektiven auf Migration auf und bieten ein vertieftes Verständnis der deutschen Einwanderungsgeschichte. Die gewählte Methode der Oral History ist dabei nicht nur ein wissenschaftliches Werkzeug, sondern auch ein Akt der politischen Intervention, die traditionelle Wissensvermittlungen und -akquirierung erweitert: Sie lässt den Frauen die Möglichkeit des eigenen Fokussetzens im Erzählen und verleiht ihnen damit in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen eine Stimme, die ihre Lebenswege und Herausforderungen als Wissensquelle anerkennt.

Wert legt Cäsar dabei auf die eigenen Wahrnehmungen, Emotionen und Schwerpunktsetzungen der Frauen und spricht ihnen durch diesen Ansatz eine zentrale Rolle zu, wodurch unterschiedliche Erfahrungen klarer konturiert und die individuellen Bewertungsmuster der Migrations- und Integrationserfahrungen ableitbar werden. Auf diese Weise gelingt es Cäsar, die Verschiedenheit der Migrationsbewegungen der Migrantinnen zu betonen, ohne in Opfergeschichten zu verfallen.

Die Methode birgt jedoch auch Herausforderungen, die Cäsar bewusst anspricht, deren Vorteile für sie aber überwiegen. Insbesondere der Fokus auf die Wahrnehmung und Schwerpunktsetzung der Frauen erscheint dabei entscheidend, wird aber im weiteren Verlauf etwas unscharf. Denn Cäsar nutzt Transkripte von Interviews, in denen emotionsbasierte nonverbale Kommunikation in der Ausformulierung fehlt, was die Auswertung hinsichtlich der Bedeutungen von Aussagen der Frauen beeinflusst. Die Autorin ist sich dessen bewusst und setzt verschiedene Parameter ein, um die Bedeutung und Bewertungen der Erfahrungen der Frauen dennoch adäquat herauszuarbeiten, was jedoch bis zum Schluss eine Unsicherheit birgt.

Inhaltlich beleuchtet Cäsar Migrationsbewegungen von Frauen aus Griechenland, Nordmazedonien (ehemals Teil Jugoslawiens), Spanien, Sizilien, Bolivien, Argentinien und Polen und zeigt neben den diversen Herkunftsländern die zeitlichen wie rechtlichen Unterschiede und Motive auf. Sie unterteilt diese in drei verschiedene Gruppen: die oziell angeworbenen Arbeitsmigrantinnen, Frauen, die mit oder durch ihre Ehemänner oder Familien nach Deutschland kamen, und diejenigen, die aus verschiedenen Gründen allein nach Deutschland migrierten. Diese Dierenzierung zeigt eindrucksvoll die Vielfalt und Komplexität der Migrationserfahrungen, die nicht auf eine einheitliche Erzählung der bloßen Arbeitsmigration reduziert werden können. Neben wirtschaftlichen Gründen waren auch Familienzusammenführungen, Liebe, politischer Kontext und Aktivismus im Her- oder Ankunftsland sowie zu Teilen auch bloße Abenteuerlust relevant.

Die Ressourcen und Umgangsformen der Migrantinnen waren dabei ebenso breit gefächert wie individuell: sie hatten eigene Netzwerke in oder nach Deutschland, es gab verschiedene Sprachkenntnisse oder Kompetenzen und Fähigkeiten aus vorangegangenen Migrationserfahrungen. Ihre unterschiedlichen Expertisen, verschiedene Bildungsgrade und Arbeitserfahrungen prägten die Lebenswege der Frauen. Was die meisten gemeinsam hatten, waren das junge Alter und eine indirekte oder direkte Verbindung zu Deutschland, die die Reise und Ankunft prägten.

Cäsar macht deutlich, dass einige Frauen ihre Migration in die Bundesrepublik als eigenständige Entscheidung hervorheben, während andere diese eher nicht als eigenständig bewerteten. Dabei wird eindrucksvoll geschildert, welche geschlechtsspezifschen Bedingungen für die Migrantinnen galten und worin Hürden sowohl vor der Migration als auch bei der Ankunft lagen. Cäsar macht dadurch insbesondere patriarchale und sexistische Strukturen sichtbar, die sich auf das Leben der Migrantinnen im Migrationsprozess sowie in Deutschland auswirkten, und zeigt ihre Wege des Widerstands und Umgangs danit auf.

Ihr Kerninteresse, das vorherrschende historische Narrativ über die Arbeitsmigration zu korrigieren und aufzuzeigen, dass es mehr Migrationsgründe als bloße ökonomische gab und Arbeitsmigration kein rein männliches Phänomen war, sondern ganz im Gegenteil die Eigenständigkeit der Frauen im Migrationsprozess hervorzuheben, ist ihr als Gegenstand der Arbeit gut gelungen.

Durch diese Fokusverschiebung gelingt es der Autorin, hegemoniale Narrative über (Arbeits-)Migration in die BRD aufzubrechen und durch die Art der Arbeit sowohl einen wissenschaftlichen als auch politischen Beitrag zur Aufarbeitung der Migrationsgeschichten in Deutschland zu leisten. «Ungesehen» ist für die deutsche Einwanderungsgeschichte und den Blick auf weibliche Migration ein wesentliches Werk. Ihre Arbeit fordert dazu auf, die deutsche Einwanderungsgeschichte neu zu denken und die Rolle von Frauen darin zu würdigen. Damit bereichert Cäsars Werk nicht nur die Migrationsforschung, sondern erweitert auch wichtige Perspektiven auf die gesellschaftliche Aufarbeitung und zeigt die geschlechtliche Dimension der Einwanderungsgesellschaft und ihrer notwendigen Anerkennung, die auch für heutige Debatten um Flucht und Migration relevant erscheinen. Sie eröffnet damit Anknüpfungspunkte für die seit Jahren geleistete

Arbeit von Selbstorganisationen und Kollektiven wie international Women* Space oder Women in Exile, Frauenverbänden und migrantischen Frauenkollektiven oder Organisationen wie DaMigra, die durch Podcasts, Publikationen und Veranstaltungen von und für Frauen auf ihre Wege und Geschichten aufmerksam machen. Mit ihrer Publikation bietet Cäsar ein weiteres Puzzleteil im Aufdecken von Kontinuitäten der weiblichen Migration in Deutschland im deutschen Diskurs.

Thaisa Cäsar: Ungesehen. Weibliche Migration in die Bundesrepublik 1960 bis 1990 (Reihe Stadt – Zeit – Geschichte, Bd. 9), Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 168 Seiten, 19 Euro