
Er war ein Hoffnungsträger und Hoffnungsgeber. Ein Guerillakämpfer, der zum Präsidenten gewählt wurde. Ein Blumenzüchter, den der Economist 2013 zum Mann des Jahres erklärte. Er war bescheiden, uneitel und authentisch, das Gegenteil eines gewöhnlichen Politikers. Er war so vieles, vor allem aber eines: ein Original und für viele unersetzlich. «Politik ist die Kunst, Menschen dabei zu helfen, ihr Leben in Würde zu leben», sagte er.
Stefan Thimmel hat von Mitte der 1990er bis 2011 als freier Journalist, Publizist und entwicklungspolitischer Gutachter in Berlin und Montevideo gearbeitet, viel zu Uruguay publiziert und konnte in dieser Zeit auch José «Pepe» Mujica kennenlernen. Seit 2011 arbeitet er für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Am 13. Mai 2025 starb José «Pepe» Mujica, nur wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag, auf seinem Bauernhof am Stadtrand der uruguayischen Hauptstadt Montevideo. Schon vor über einem Jahr hatte er bekanntgegeben, an Speiseröhrenkrebs erkrankt zu sein, und sich danach weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Anfang dieses Jahres musste er schließlich den Kampf gegen den Krebs, der sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, aufgeben.
In seinem letzten Interview mit der Zeitschrift Búsqueda verabschiedete sich Mujica vom uruguayischen Volk. «Ich möchte mich von meinen Landsleuten verabschieden. Es ist einfach, Respekt vor denen zu haben, die so denken wie man selbst, aber man muss lernen, dass die Grundlage der Demokratie der Respekt vor denen ist, die anders denken. Priorität sind also meine Landsleute, und ich verabschiede mich von ihnen. Ich umarme sie alle.» In Anwesenheit von Lucía Topolansky – seiner langjährigen Kampfgefährtin, Partnerin und Ehefrau, die einst selbst eine Führungspersönlichkeit der Tupamaros und Senatorin für die Frente Amplio gewesen war – äußerte er einen letzten Wunsch: «Ich bitte nur darum, dass man mich in Ruhe lässt. Dass man mich nicht mehr um Interviews oder andere Dinge bittet. Mein Zyklus ist vorbei. Ehrlich gesagt, ich sterbe. Und der Krieger hat das Recht auf seine Ruhe.»
Sozialismus des 21. Jahrhunderts
Mujica stand emblematisch für die Linksregierungen in Lateinamerika und gehörte – ebenso wie der heutige Präsident Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, Evo Morales aus Bolivien, Fernando Lugo aus Paraguay, Néstor Kirchner aus Argentinien und Hugo Chávez aus Venezuela – zu den charismatischen Präsidenten des neuen Jahrhunderts in Südamerika. Diese neue Generation von Politikern stand zu Beginn ihrer Amtszeiten, nach den bitteren Jahrzehnten der Militärdiktaturen, für authentische Volksnähe, demokratische Veränderungen, eine Stärkung der Rolle des Staates und für mehr Rechte für Frauen, Arme, Minderheiten und Indigene. Damit wurden sie die wichtigsten Protagonisten des viel diskutierten «Sozialismus des 21. Jahrhunderts».
Mujicas politische Karriere begann Ende der 1950er Jahre in der uruguayischen Nationalpartei, den «Blancos». Schon bald orientierte er sich jedoch nach links und gründete zusammen mit dem legendären Raúl Sendic 1962 die MLN-Tupamaros (Movimiento de Liberación Nacional – Nationale Befreiungsbewegung). 1964 wurde er nach einem bewaffneten Überfall der Tupamaros erstmals verhaftet. Im Anschluss an seine Entlassung ging er in den Untergrund, wurde lebensgefährlich verletzt und überlebte nur durch ein Wunder. Zweimal brach er aus dem bestgeschützten Gefängnis Montevideos aus.
Nach dem Militärputsch 1973 gehörte er – neben Maurico Rosencof, Eleuterio Fernández Huidobro und Raúl Sendic – zu den neun sogenannten Geiseln des Staates und musste viele Jahre unter unmenschlichen Bedingungen in Einzelhaft verbringen. Mehrere Jahre lang war er faktisch in ein Erdloch eingegraben; «in dieser Zeit habe ich gelernt, dass die Ameisen singen», sagte er später. Er wurde systematisch gefoltert und immer wieder von einem Gefängnis in ein anderes verlegt. Niemand sollte wissen, wo er und seine Mitstreiter festgehalten wurden.
1984 durfte er das Gefängnis verlassen und gründete ein Jahr später, zusammen mit anderen ehemaligen Gefangenen, die MLN neu. Aus den Tupamaros ging später die Linkspartei Movimiento de Participación Popular (MPP) hervor. 1995 zog Pepe Mujica dann für die MPP, die sich dem bereits 1971 gegründeten Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio (Breite Front) angeschlossen hatte, als Abgeordneter ins Parlament ein.
Zur konstituierenden Sitzung des Parlaments fuhr Mujica auf einem klapprigen Motorrad vor. Als er unrasiert und in abgewetzten Jeans am Eingang des Parlaments erschien, verwies ihn der wachhabende Soldat auf den Hintereingang für Angestellte und fragte: «Wollen Sie lange bleiben?» «Wenn Sie mich lassen, fünf Jahre», antwortete der ehemalige Tupamaro. Daraus sind letztlich 25 Jahre geworden: Er war Abgeordneter, Senator, dann Minister und schließlich gar Präsident Uruguays.
Der Präsident
Zum Staatsoberhaupt des 3,4 Millionen Einwohner*innen zählenden Landes wurde er in der Stichwahl am 29. November 2009 mit 53 Prozent der Stimmen gewählt. Als der damals 74-jährige Mujica am 1. März 2010 seine fünfjährige Amtszeit antrat, reduzierte er in einer seiner ersten Amtshandlungen sein Präsidentengehalt um 85 Prozent. Angesichts seiner nicht korrumpierbaren Haltung stellte der britische Guardian die Frage: «Ist Mujica der radikalste Präsident der Welt?» Mit Blick auf seinen bescheidenen Lebensstil auf dem kleinen Bauernhof und seinen legendären himmelblauen Celeste VW-Käfer, Baujahr 1987, kann man diese Frage durchaus bejahen.
Nach der 2004 erfolgten Abwahl der beiden konservativen Traditionsparteien Blancos und Colorados, die seit der Unabhängigkeit im Jahre 1828 fast durchgehend Regierung und Präsident stellten (mit Ausnahme der beiden Militärdiktaturen in den 1930er Jahren und von 1973 bis 1985), haben sich in Uruguay wegweisende Veränderungen vollzogen. Der erste linke Präsident, Tabaré Vázquez, stellte dafür in seiner ersten Regierungszeit von 2005 bis 2010, vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich, die Weichen. Mujica mit seiner Bewegung MPP, die bis heute die stärkste Kraft in der aus rund 40 Parteien und Bündnissen bestehenden Frente Amplio ist, ging noch einen Schritt weiter – er veränderte das politische Koordinatensystem. Denn die Frente Amplio, die Unterstützung vor allem in der breiten Mittelschicht in den Städten erfuhr, wurde durch Mujicas Einsatz, Glaubwürdigkeit und bildhafte Sprache auch für die ärmeren Schichten und die Menschen auf dem Land nahbar und attraktiv.
Aber auch die ökonomischen und politischen Veränderungen während seiner Amtszeit nötigen Respekt ab. Die Programme zur Armutsbekämpfung wirkten, der Anteil der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Uruguayer*innen ging zwischen 2006 und 2013 von 34 auf 11 Prozent zurück. Heute hat Uruguay nach Angaben der CEPAL, der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, die niedrigste Armutsquote in Lateinamerika. Die Einkommen verdoppelten sich während Mujicas Präsidentschaft, der Mindestlohn liegt heute bei knapp 500 Euro, und das Land steht an der Spitze im Ranking der sozialen Inklusion in der Region.
Zu den weiteren Erfolgen Mujicas zählen ein funktionierendes Gesundheits- und Rentensystem, die weitgehende Überwindung des Analphabetismus und der Verbleib der Elektrizitäts- und Wasserversorgung in staatlicher Hand (eine Mehrheit der Uruguayer*innen schmetterte in mehreren Referenden diverse Privatisierungsversuche ab). Im Mai 2014 trat das Ehe-Gleichstellungsgesetz in Kraft, das – im Unterschied zu anderen Ländern, die die «Homo-Ehe» einführten – gleiche Rechte für homo- und heterosexuelle Paare vorsieht, auch mit Blick auf das Adoptionsrecht. 2013 trat das Gesetz zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Kraft. Im selben Jahr wurde in Uruguay, weltweit erstmalig, die Produktion und Vermarktung von Cannabis für den Eigenverbrauch legalisiert – trotz starken Gegenwinds, fast zwei Drittel der Bevölkerung lehnten die Initiative seinerzeit ab. Und weil Mujica mit dem Umbau der Stromversorgung hin zu erneuerbaren Energien begann, werden in Uruguay heute 98 Prozent des Stroms aus Wasserkraft, Windkraft, Biomasse und Solarenergie gewonnen.
«Wir danken dir für alles»
Trotz aller Bewunderung für den stets volksnahen Präsidenten und Senator José Pepe Mujica gab es auch Kritik an seinem Wirken, etwa hinsichtlich des Umweltschutzes. Denn unter seiner Ägide wurden mehrere neue Zellulosefabriken genehmigt und die Anbauflächen der Eukalyptus-Monokulturen für den Export vervielfacht. Auch ein Programm zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus scheiterte.
Besonders kritisch gegenüber Mujicas präsidialer Amtszeit zeigten sich die Menschenrechtsorganisationen. Anhaltende Missstände in den Gefängnissen, sein umstrittenes, weil für viele Opfer der Diktatur zu verständnisvolles Verhältnis zu den Streitkräften und insbesondere sein Festhalten an der «Theorie der zwei Dämonen» – die behauptet, es habe zur Zeit der Militärdiktatur zwei Lager gegeben, die sich in einem innenpolitischen Konflikt gegenübergestanden hätten (womit Guerilleros und Militärdiktatur auf eine Stufe gestellt werden) – trugen zur Entfremdung zwischen Menschenrechtsaktivist*innen und Regierung bei.
Dennoch: Für die allermeisten Uruguayer*innen bedeutet der Tod von «El Pepe» einen schmerzlichen Verlust. Der seit März 2025 amtierende linke Präsident Yamandú Orsi verkündete an seinem Todestag eine dreitägige Staatstrauer und sagte seinem politischen Ziehvater Dank: «Mit tiefer Trauer geben wir den Tod unseres Genossen Pepe Mujica bekannt. Präsident, Aktivist, Politiker und Anführer: Wir werden dich sehr vermissen, lieber alter Mann. Wir danken dir für alles, was du uns gegeben hast, und für deine tiefe Liebe zu deinem Volk.»