Kommentar | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Sozialökologischer Umbau - Klimagerechtigkeit Großkonflikte vorprogrammiert

Der Expertenrat für Klimafragen hat die Klimapläne der Bundesregierung geprüft

Information

Autor

Uwe Witt,

Braunkohlekraftwerk Neurath, das größte Kraftwerk in Deutschland steht bei Grevenbroich, Nordrhein-Westfalen
Braunkohlekraftwerk Neurath, das größte Kraftwerk in Deutschland in Grevenbroich, Nordrhein-Westfalen, 2021, Foto: picture alliance / Zoonar | Stefan Ziese

Scheinbar im Plan, tatsächlich enorme Risiken und absehbare Lücken zur Zielerfüllung. Das ist das Fazit eines Gremiums von Wissenschaftler:innen, welches jährlich den Stand und die Projektion der Treibhausgasemissionen der Bundesregierung begutachtet. Der Expertenrat für Klimafragen hat gestern dieses Kontroll-Gutachten vorgelegt, ein fast 300 Seiten starker Prüfbericht zu jenem Dokument des Umweltbundesamtes (UBA) von Ende April. Letzteres schätzte zuvor regierungsamtlich ab, wie wirksam die gesetzlichen Regelungen und eingeleiteten Maßnahmen der Bundesrepublik sind, um die im deutschen Klimaschutzgesetz (KSG) und auf EU-Ebene festgesetzten Klimaziele zu erfüllen.

Uwe Witt hat Volkswirtschaft studiert und arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referent für Klimaschutz und Strukturwandel.

Ein anderes Expertengremium der Bundesregierung - der Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) – kam schon im letzten Jahr zum Ergebnis, dass die Menge an Treibhausgasen (THG) praktisch aufgebraucht sei, die mit einem deutschen Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad vereinbar wäre. Je nach Rechnung könnten die Ziele des deutschen Klimaschutzgesetzes – würden sie erreicht – zumindest knapp die 2-Grad-Marke unterstützen und damit gerade noch das Paris-Abkommen einhalten. Aber werden sie erreicht? Und sollen sie so erreicht werden, dass sich die Anstrengungen dafür hierzulande gerecht aufteilen?

2030-Ziel wird wohl erreicht auch dank Corona und Krise

Zunächst hat die Bundesrepublik Ende 2024 rechnerisch weniger Klimagase emittiert, als nach KSG zulässig. 48 Prozent weniger THG gegenüber 1990 sind als Jahresemissionen zu bilanzieren, was vor allem an deutlich weniger Kohleverstromung, aber auch am Konjunktureinbruch in der Industrie der letzten beiden Jahre lag. Strukturell ist der Trend zu weniger Emissionen eindeutig, was auch an einem Ökostromanteil von mittlerweile knapp 60 Prozent liegt. 

Grafik zeigt Emmissionswerte von CO2 in Deutschland
Quelle: Umweltbundesamt 2025

Was die summierten Gesamtemissionen im Zeitraum 2021 bis 2030 angeht (die für die Klimawirkung maßgebliche Größe) könne Deutschland voraussichtlich das vom KSG vorgegebene Emissionsbudget einhalten, so der Expertenrat, obgleich der Prüfbericht des UBA die Emissionsmengen bis 2030 tendenziell unterschätzt habe. Der Rat sieht zudem Unsicherheiten bei der Zielerfüllung. «Aber ohne den Puffer, der sich in den Jahren 2021 bis 2024 unter anderem durch Corona und die schwache Wirtschaft aufgebaut hat, wäre bis Ende 2030 mit hoher Wahrscheinlichkeit eine deutliche Budgetüberschreitung zu erwarten gewesen», ordnete der Ratsvorsitzende Hans-Martin Henning ein. Im Jahr 2030 selbst werde das Ziel von 65 Prozent weniger Treibhausgase gegenüber 1990 mit nur 63 Prozent knapp nicht erreicht.

2040-Ziel und Klimaneutralität momentan in weiter Ferne

Das öffentlich weniger bekannte KSG-Ziel für das Jahr 2040 von minus 88 Prozent Minderung wird Deutschland mit den gegenwärtigen Politiken und Instrumenten jedoch deutlich verfehlen. Gleiches gilt für den summierten Gesamtausstoß an Klimagasen bis dahin. In der Folge sieht der Rat auch die Klimaneutralität bis 2045 in Gefahr. Nach der stellvertretenden Ratsvorsitzenden Brigitte Knopf gehe vom Koalitionsvertrag «kein nennenswerter positiver Impuls aus», um das zu ändern. Sie wendete sich mit Blick auf die Pläne von Schwarz-Rot gegen die geplante Erhöhung der Pendlerpauschale, die dem Klimaschutz entgegenlaufe, und forderte die Beibehaltung der Heizungsförderung und des Deutschlandtickets.

Der Idee im Koalitionsvertrag, nationale Klimaziele anteilig über eine Anrechnung von Emissionsreduktionen im Ausland, also mit internationalen CO2-Zertifikaten zu erfüllen, erteilt der Expertenrat übrigens eine Absage. Kritisch sei hier vor allem die oftmals fehlende Qualität (stehen dahinter reale Emissionseinsparungen?) und die mangelnde Verfügbarkeit. 

Die Hausaufgaben sind also hierzulande zu machen. Doch bereits seit Jahren ist klar, dass die Sektoren Verkehr und Gebäude ihre Einsparziele nach KSG permanent verfehlen und Klimaschutz in der Industrie ebenfalls zu langsam vorangeht. Zwar sind die verbindlichen Sektorziele des Klimaschutzgesetzes auf Betreiben der FDP unter der Ampel abgeschafft worden, die Gesamtemissionen sind nun der Maßstab. Die unbequemen Sektorziele finden sich aber als Orientierung weiter im Gesetz. Im Gebäudesektor fehlen danach bis 2030 insgesamt 110 Millionen Tonnen THG-Einsparung, der Verkehr wird sein Budget sogar um 176 Millionen Tonnen überziehen. Der vergleichsweise erfolgreiche Stromsektor konnte beides bislang kompensieren, die Ablösung fossiler Erzeugung durch Ökostrom lieferte zuverlässig Emissionsreduktionen. Damit ist es nun vorbei, da die Fehlmengen aus dem Verkehrs- und Gebäudesektor aufgrund des Politikversagens immer weiter anwachsen. 

Teure Ausgleichszahlungen fällig für verfehlte Ziele

Beide Sektoren fallen im Übrigen gleichzeitig unter die verbindlichen Ziele der EU-Klimaschutzverordnung (ESR). Sie legt für jeden Mitgliedstaat Emissionsobergrenzen für jene Wirtschaftsbereiche fest, die nicht unter den EU-Emissionshandel für Industrie und Energie fallen. Diese wird Deutschland klar verfehlen, was teuer wird. Denn für die überschüssigen Emissionen muss die Bundesrepublik Emissionsrechte von Staaten kaufen, die übererfüllt haben. Laut Agora Energiewende könnte das Deutschland bis 2030 bis zu 34 Milliarden Euro kosten.

Grafik zeigt die Entwicklung der Treibhausgasemmissionen nach der EU-Klimaschutzverordnung
Quelle: Umweltbundesamt 2025

Land und Wälder verwandeln sich von Emissionssenken zu Emissionsquellen

Im Bericht weist der Expertenrat aber auch auf einen weiteren kritischen Bereich hin, der bislang kaum im Fokus stand: die Kima-Wirkungen des so genannte LULUCF-Sektors (Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft).  Er werde «bis zum Jahr 2045 durchgängig eine THG-Quelle anstatt, wie vorgesehen, eine Senke», fasst der Expertenrat zusammen. Schon seit 2014 habe sich das bei Ackerland, Grünland, Feuchtgebieten umgekehrt, ab 2018 auch beim Wald. Schuld daran sind nicht nur zu starke oder falsche Nutzungen. Auch die Erderwärmung selbst verändert die Kohlenstoffdynamik. Unter anderem sei «wegen Dürreereignissen und Kalamitäten» ein geringerer Wald-Zuwachs zu verzeichnen. Der Rat weist auf frühere UBA-Arbeiten hin, die von künftig ambitionierten Maßnahmen in den Bereichen Moorbodenschutz, Waldklimaschutz und Agroforst ausgehen, und die die LULUCF-Ziele erfüllbar machen könnten. Ob dies realistisch ist, mag der Rat aber nicht abschätzen. Jedenfalls dürfte die vom Thünen-Institut geforderte «drastische Einschränkung der Holznutzung», auf die der Expertenrat hinweist, auf den massiven Widerstand von Waldbesitzern und Holzlobby stoßen. Auch in der Landwirtschaft dürften Wutbauern gegen wirksame Reformen ankämpfen, weshalb sie unter CSU-Bundeslandwirtschaftsminister Alois Rainer ausfallen werden.

Multi-Blockaden und rechte Hetze statt gerechtem Umbau

Ähnlich bei der Mobilität und im Gebäudebereich. Welches Hetzpotential schon allein der Heizungstausch bietet, hat die verlogene rechte Kampagne gegen «Habecks Heizhammer» (BILD) im letzten Jahr gezeigt. In der Folge brach der Wärmepumpenmarkt ein. Selbst die schleppende energetische Gebäudesanierung gilt als Brandbeschleuniger für Verdrängung - jedenfalls unter den bisherigen Rahmenbedingungen. Die blockierte Verkehrswende und das Missmanagement der Autokonzerne verhindert nicht nur Klimaschutz im Verkehrssektor, sie wird auch zehntausende gutbezahlte Arbeitsplätze kosten. Demgegenüber sind die gesellschaftlichen Konflikte um die Energiewende im Strombereich überschaubar, beziehungsweise auf wenige Landkreise in den Kohleregionen regional begrenzt.

Damit es in Mobilität und im Gebäudebereich endlich vorangeht, werden die erforderlichen Strukturbrüche nun viel rigoroser und teurer ausfallen müssen, als wenn vorangegangene Bundesregierungen, fossilistische Konzerne oder die Immobilienlobby die letzten Jahrzehnte nicht blockiert hätten. Aber auch ohne diese Zusatzlast hätte die zweite Hälfte der Emissionseinsparungen bis zur angestrebten Klimaneutralität 2045 deutlich stärker in das alltägliche Leben der Menschen eingegriffen als die erste. Verteilungs- und Akzeptanzprobleme inklusive, weshalb der Expertenrat laut Klimaschutzgesetz auch die soziale Frage der Dekarbonisierung durchleuchten soll. 

Sozialer Ausgleich muss ins neue Klimaschutzprogramm

Für dieses Gutachten hat er das aber nur am Rande gemacht (dafür ausführlich im Februar), aktuell mit Blick auf den künftigen (und umstrittenen) EU-Emissionshandel für Gebäude und Mobilität, der 2027 mit wohl empfindlich hohen CO2-Preisen startet. Der Rat kritisiert, dass im Koalitionsvertrag außer einem Hinweis auf die Nutzung des Europäischen Klimasozialfonds «keine weiteren konkreten klimaschutzpolitischen Maßnahmen zur sozialen Flankierung eines hohen CO2-Preises» genannt werden. Die Umsetzung des Klimasozialfonds sei zwar ein wichtiger Schritt zur sozialen Flankierung der CO2- Bepreisung, «sie wird aber aller Voraussicht nach nicht ausreichen». Kaufanreize für Elektromobilität führten nach den Erfahrungen mit dem Umweltbonus eher zu einer Ungleichverteilung zugunsten von Haushalten mit hohen Einkommen, wenn nicht aktiv gegengesteuert werde. Ein Klimaschutzprogramm müsse deshalb Antworten darauf liefern, wie die Teilhabe aller an der Transformation ermöglicht werden kann, so der Expertenrat.

Dazu hat die Bundesregierung bald Gelegenheit, denn innerhalb von zwölf Monaten nach Amtsantritt ist sie laut KSG verpflichtet, ein neues Klimaschutzprogramm vorzulegen. Dieses soll vor allem darstellen, wie die Klimaziele bis 2030 sicher erreicht werden können. Es soll auch erstmals den Klimapfad ab 2031 bis 2040 beschreiben.

Klar ist schon jetzt, dass die Versäumnisse im Klimaschutz in den nächsten 20 Jahren voll durchbrechen. Es würde immensen politischen Weichenstellungen und Umverteilungsvolumina bedürfen, sollen die Klimaziele dennoch sozialverträglich erreicht werden. Beides ist möglich. Mehr als fraglich bleibt jedoch, ob es diese Regierung will und kann. In jedem Fall sind Großkonflikte vorprogrammiert.