
Peter Lintl forscht zu Nordafrika und Mittlerer Osten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Mit ihm sprach Katja Hermann, Referentin für Westasien der Rosa-Luxemburg-Stiftung über das Vorgehen Israels in Syrien, gemeinsame Minderheiten und das künftige Verhältnis der beiden Staaten.
Katja Hermann: Israel hat seit dem Zusammenbruch des Assad-Regimes im Dezember letzten Jahres zahlreiche Angriffe auf Syrien geflogen und einige Dörfer militärisch besetzt. Wie begründet Israel sein Vorgehen?
Peter Lintl: Es gibt im Wesentlichen zwei Begründungen: Zum einen betont die israelische Regierung immer wieder, dass sie an die eigenen Sicherheitsinteressen denken müsse. Das betraf anfangs insbesondere die Zerstörung des weitgehenden Waffenarsenals der syrischen Armee. Immer wieder schlägt Israel aber auch heute zu, wenn es seine Sicherheitsinteressen bedroht sieht, und nimmt dabei auch Kollateralschäden in Kauf. Die Begründung lautet, dass man zwar vernimmt, dass der syrische Interimspräsident, Ahmed al-Scharaa, trotz seines islamistischen Hintergrunds moderate Töne anschlägt; gleichwohl sei aber unklar, wie wenig glaubwürdig das sei.
Der andere, vielleicht für viele überraschende Grund ist, dass sich Israel für die drusische Gemeinschaft einsetzt und betont, sie vor Verfolgung zu beschützen. Dazu sind aber zwei Kontextfaktoren entscheidend: Einerseits ist das harte und auch expansive militärische Vorgehen Israels in Syrien sicherlich noch von der massiven Unsicherheit des israelischen Militärs und des gesamten Landes nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 geprägt. Das entschuldigt zwar keine Völkerrechtsverstöße, ist aber Teil der Erklärung.
Der andere Faktor ist im machtpolitischen Vakuum in Syrien zu finden, nachdem sich Russland und die USA weitgehend zurückgezogen haben und insbesondere die USA keinen Einfluss auf Israel ausüben. Zudem signalisieren die Aussagen des US-Präsidenten Donald Trump, dass völkerrechtliche Prinzipien kaum mehr eine Rolle spielen. Das wird in Israel durchaus rezipiert. Der bekannteste Journalist des rechten Lagers in Israel, Amit Segal, erklärte im Wall Street Journal, dass Trump das Wilsonsche Primat des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Unverletzlichkeit der Grenzen zu Gunsten einer neuen Sicherheitspolitik gegenüber Terroristen aufgegeben habe.
Im ohnehin sehr fragilen Syrien gefährden die israelischen Angriffe die Stabilität des Landes. Was sind Israels Interessen in Syrien?
Die israelische Regierung, aber auch unterschiedliche Analyst*innen haben Zweifel, ob Syrien überhaupt stabil sein wird. Daher wird argumentiert, dass man sich auf alle Fälle vorbereiten müsse und es für Israel am sichersten sei, wenn man das südliche Syrien, das an Israel grenzt, kontrolliere.
Das muss man auch im Kontext einer neu entstehenden und noch nicht ganz klaren Leitstrategie des israelischen Militärs sehen. Die rund 15 Jahre lang geltende «Strategie der Nadelstiche» (genannt die «Kampagne zwischen den Kriegen») sollte Israels Gegner permanent schwächen, sodass diese nicht in die Lage kämen, Israel anzugreifen. Dieser Ansatz gilt seit dem 7. Oktober 2023 als gescheitert. Was wir derzeit sehen, sind keine Nadelstiche mehr, sondern es handelt sich um ein massives militärisches Vorgehen, bei dem auch Pufferzonen eine größere Rolle zu spielen scheinen.
Dabei gibt es natürlich auch in Israel zahlreiche Stimmen, die darauf hinweisen, dass dies genau den gegenteiligen Effekt hat und zu Destabilisierung, einer militärischen Überdehnung und einer Perpetuierung der Bedrohungslage in Syrien führen könne. Gleichzeitig würde zu wenig ausgelotet, inwiefern man mit al-Scharaa auch kooperieren könne – das heißt, welche Rolle auch die Diplomatie spielen könnte. Diese Kritik verhallt allerdings bis dato weitestgehend, auch wenn die Nachrichtenagentur Reuters jetzt berichtet hat, dass die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) versuchen, zwischen Israel und Syrien zu vermitteln.
Israel erklärt sein Vorgehen in Syrien – wie Sie erwähnt haben – mit seiner Skepsis gegenüber der syrischen Übergangsregierung, aber auch mit dem Schutz von Minderheiten. Letzteres klingt erstmal überraschend. Wie schätzen Sie diese Begründung ein?
In der Drusen-Frage kann man wohl eine Mischung aus ernst gemeinter Unterstützung und strategischen Interessen sehen. Es gab ja tatsächlich Angriffe auf die drusische Minderheit in Syrien und zumindest Teile der drusischen Führung in Israel haben darum gebeten, die Gemeinschaft zu schützen. Zudem hat Israel den Drus*innen in Syrien auch Hilfslieferungen zugesagt und sogar Arbeitsgenehmigungen in Israel in Aussicht gestellt.
Gleichzeitig liegt es natürlich auch in Israels Interesse – nicht wenige würden sogar sagen, das stehe im Vordergrund –, eine demilitarisierte Zone südlich von Damaskus zu schaffen. Dafür eignet sich das Argument, die Drus*innen zu beschützen, sehr gut. Es gibt aber auch Kritik drusischer Stimmen in Syrien. Die Verbindung mit Israel kann eine langfristige Marginalisierung der Drus*innen in Syrien zur Folge haben und sie weiter in Gefahr bringen.
In Israel leben circa 150.000 Drus*innen. Drusische Männer sind zum Wehrdienst in der israelischen Armee verpflichtet, im Unterschied zu den christlichen und muslimischen Palästinensern; viele von ihnen dienen zudem als Soldaten. Woher kommt dieses besondere Verhältnis zwischen dem israelischen Staat und der drusischen Bevölkerung?
Drus*innen definieren sich vor allem über ihre ethnoreligiöse Identität und nicht über eine nationale, wie etwa christliche oder muslimische Palästinenser*innen. Sie sind auf verschiedene Staaten der Region verteilt, insbesondere Libanon, Syrien und Israel. Historisch gesehen, kam der Bruch mit der palästinensisch-muslimischen Gemeinschaft (und dann die Annäherung an Israel) nach deren Forderung im Jahr 1945, das größte Heiligtum der Drus*innen – Nabi Schuʿaib, das in der Nähe des See Genezareth liegt, unter muslimische Aufsicht zu stellen. Nach der Staatsgründung war es eine Entscheidung der drusischen Führung, Loyalität gegenüber dem Staat Israel zu zeigen. Es gibt in Teilen der Gemeinschaft sogar eine Art drusischen Zionismus, der sich besonders im Militärdienst ausdrückt und daher in Israel manchmal als «Bund des Blutes» bezeichnet wird. Allerdings ist das Verhältnis zwischen Israel und der drusischen Minderheit seit der Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes im Jahr 2018 getrübt – diverse drusische Stimmen kritisierten, dass dieses die nichtjüdischen Israelis, inklusive der Drus*innen, zu Bürger*innen zweiter Klasse machen würde.
Es ist öfters zu hören, dass die drusischen Einheiten an vorderster Front gegen die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten eingesetzt werden. Wie schätzen Sie die Rolle der Drusen in der israelischen Armee ein?
Es gab lange Zeit eine drusisch dominierte Einheit, die aber im Jahr 2015 geschlossen wurde. Dass die Drusen vor allem an vorderster Front eingesetzt werden, stimmt so nicht ganz. Unterdessen verteilen sich die Drusen auf alle Teile der Armee, laut israelischem Militär befinden sich 39 Prozent von ihnen in Kampfeinheiten. Für Drusen, deren Lebensstandard, Bildung und Einkommen weiterhin unter dem israelischen Durchschnitt liegt, bietet das Militär Aufstiegsmöglichkeiten und durchaus auch Karrieren im Militär. So ist der Druse Ghassan Alian seit 2021 im Rang eines Generalmajors der Kopf von Coordinator of Government Activities in the Territories (COGAT) und damit für die besetzten Gebiete sowie für die Organisation der Versorgung Gazas – bzw. deren Verhinderung, muss man ja sagen – verantwortlich.
Die besondere Beziehung der Drus*innen zum israelischen Staat sieht man auch, wenn man durch die drusischen Dörfer und Städte in Israel fährt. Sie sind im Vergleich zu den meisten anderen arabischen Ortschaften wohlhabender und verfügen über eine gute Infrastruktur. Inwieweit kommt hier eine gesteuerte Fragmentierung der arabischen Bevölkerung des Landes im Sinne eines «Teile und Herrsche» zum Tragen, wie manche Analyst*innen meinen?
Ich weiß nicht, ob ich dies als Strategie des «Teile und Herrsche» bezeichnen würde, obwohl die drusischen Ortschaften infrastrukturell etwas bessergestellt sind als viele Ortschaften palästinensischer Israelis. Dennoch kritisieren die Druse*innen israelische Regierungen dafür, dass ihre Ortschaften planerisch vernachlässigt würden und es eklatanten Wohnungsmangel gebe. Im März 2025 hat die israelische Regierung einen Fünf-Jahres-Plan mit einem Volumen in Höhe von rund einer Milliarde Euro vorgestellt, um dieses Problem zu beheben. Ob dieser Plan umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.
Die drusischen Bevölkerungen in Syrien und Israel sind seit dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 getrennt. Während des Assad-Regimes waren Besuche nicht möglich. Wie haben sich die Beziehungen zwischen den Drus*innen in Israel und in Syrien in dieser Zeit gestaltet, und wie verändern diese sich jetzt angesichts der neuen Situation?
Ja, im Sechstagekrieg wurden ganze Familien auseinandergerissen, insbesondere auf den Golanhöhen. Besucht man die Drus*innen dort, erzählen sie Geschichten, wie sie mit dem Fernglas auf die andere Seite guckten und versuchten, Nachrichten zu senden. Rund 15.000 Drus*innen auf den seit 1967 israelisch besetzten und seit 1981 annektierten Golanhöhen haben übrigens die israelische Staatsbürgerschaft nicht angenommen. Kontakte bestanden trotzdem, und es gab auch einige Fälle, bei denen vor allem syrische Drusinnen israelische Drusen geheiratet haben und nach Israel gezogen sind, auch wenn das rechtlich nicht immer ganz einfach war.
Mit dem Fall des Assad-Regimes hat sich die Lage in der Tat geändert. Im März 2025 war es drusischen Religionsführern zum ersten Mal seit 1967 möglich, das Heiligtum Nabi Schuʿaib in Israel zu besuchen. Das ist eine bedeutende Veränderung. Wie sich die Situation weiter entwickeln wird, dürfte stark abhängen von politischen und militärischen Verläufen und generell von der Frage, was für ein politisches System sich in Syrien etablieren kann. Im Moment wirkt alles sehr volatil.
Israel führt seit mehr als anderthalb Jahren Krieg in Gaza. An der Nordgrenze zu Libanon gab es lange militärische Auseinandersetzungen, derzeit hält eine fragile Waffenruhe. Hinzu kommen die Konflikte mit Iran und immer wieder mit den Houthi-Rebellen im Jemen – und jetzt noch Syrien. Wie kann ein Ende dieser Eskalationsspirale aussehen?
Das ist schwer zu sagen. Sicherlich würde ein Ende des Krieges in Gaza auf die Region beruhigend ausstrahlen, aber davon sind wir derzeit noch weit entfernt. Im Gegenteil, Israel hat einen Plan vorgelegt, der die vollständige Besetzung des Gazastreifens anvisiert. Außerdem dürfte 2025 auch ein entscheidendes Jahr in Bezug auf Irans Atomprogramm werden: Sehen wir diesbezüglich eine diplomatische Regelung oder einen Militärschlag? Positiv bleibt, dass es an allen Fronten, auch zwischen Syrien und Israel, derzeit auch Verhandlungen gibt, selbst wenn sie im Geheimen stattfinden. Ob diese erfolgreich sein werden, auch vor dem Hintergrund, dass es nicht ganz klar ist, welche strategischen Visionen die israelische Regierung verfolgt und inwiefern innenpolitische Motive eine Rolle spielen, bleibt offen.
Sind die Menschen in Israel angesichts der vielen Eskalationen nicht kriegsmüde?
Es kommt drauf an, mit wem man spricht, aber viele Menschen sind in der Tat kriegsmüde. Eine Mehrheit würde gerne den Krieg im Rahmen eines Geiselaustauschs beenden. Hinzu kommt die massive Belastung der Reservist*innen, die seit Oktober 2023 mitunter 200 bis 300 Tage eingezogen waren, sowie von deren Familien. Insbesondere bei denjenigen, die nicht die Regierung Netanyahu unterstützen, spürt man aber auch eine Erschöpfung und mitunter Resignation, wie ich sie so jedenfalls noch nicht erlebt habe: Einerseits hervorgerufen durch die Schrecken des Terrorangriffs und der Geiseln, die sich immer noch in Gaza befinden. Andererseits aber auch durch die scheinbar planlose Perpetuierung des Krieges durch die Regierung und deren immer weiter fortgesetzten Abbau von Rechtsstaatlichkeit in Israel, kombiniert mit der Tatsache, dass die massiven Proteste diese Regierung bislang überhaupt nicht zu tangieren scheinen.