
Die JDA-Definition unterscheidet klar zwischen «per se» antisemitischer und «nicht per se» antisemitischer Israelkritik – im Gegensatz zur IHRA-Definition. Warum diese Differenz für die Debatte über Antisemitismus entscheidend und gleichzeitig nicht so unüberbrückbar ist, wie es oft scheint.
Bei ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende hat Die Linke beschlossen, die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (Jerusalem Declaration on Antisemitism, JDA) zu übernehmen. Wer die teils maßlose Kritik an diesem Beschluss verfolgt, muss den Eindruck gewinnen, dass dabei wesentliche Aspekte dieser Definition weder beachtet noch verstanden werden.
Tobias Rosefeldt ist Professor für Klassische Deutsche Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der kantischen und nachkantischen Philosophie sowie in der gegenwärtigen Sprachphilosophie und Metaphysik. Bluesky: @rosefeldt.bsky.social
Die Kritik geht von einem zentralen Unterschied zwischen der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» der International Holocaust Remembrance Alliance (kurz IHRA-Definition) und der JDA-Definition aus: Die IHRA-Definition fasse Antisemitismus weiter und erleichtere es dadurch, Verhaltensweisen als antisemitisch auszuweisen. Doch diese Einschätzung ignoriert den entscheidenden begriffliche Gewinn, mit dem die JDA die Antisemitismusdebatte bereichert hat, nämlich die Unterscheidung zwischen «per se» antisemitischen und «nicht per se» antisemitischen Vorkommnissen und Verhaltensweisen. Dass die JDA in ihrer Beispielliste bestimmte israelkritische Verhaltensweisen als «nicht per se antisemitisch» aufführt, wird vereinfachend so verstanden, dass diese Verhaltensweisen laut JDA grundsätzlich nicht antisemitisch seien. Das sind aber zwei ganz verschiedene Behauptungen. Etwas muss nicht per se antisemitisch sein, um trotzdem antisemitisch sein zu können.
Die Unterscheidung zwischen «per se» und «nicht per se» kann man sich leicht anhand von anderen Beispielen verdeutlichen. Wer «Ausländer raus» grölt oder Menschen nicht-deutscher Herkunft rassistisch beleidigt, tut etwas, das per se ausländerfeindlich ist. Aber wenn man eine ausgeschriebene Stelle oder annoncierte Wohnung einer deutschen statt einer nicht-deutschen Bewerberin gibt, ist das nicht per se ausländerfeindlich. Das ist es nur dann, wenn man die Person benachteiligt, weil sie Ausländerin ist. Das heißt: Um zu beurteilen, ob eine nicht per se ausländerfeindliche Verhaltensweise dennoch ausländerfeindlich ist, muss man weitere Umstände beachten, zum Beispiel die Gründe und Überzeugungen der Handelnden. Bei Verhaltensweisen, die per se ausländerfeindlich sind, kann man sich diese Berücksichtigung der genaueren Umstände sparen. Ein weiteres Beispiel: Eine Beleidigung gegenüber einer Außenministerin ist nicht per se sexistisch. Trotzdem kann diese Verhaltensweise sexistisch sein, zum Beispiel dann, wenn man das unter Verwendung sexistischer Stereotypen tut oder eben weil die Person eine Frau ist. Die Unterscheidung zwischen «per se» und «nicht per se» mag nicht immer messerscharf zu ziehen sein. Aber sie ist zweifellos sinnvoll und wichtig.
Antisemitismus in der Israelkritik laut JDA
Die JDA unterscheidet nun innerhalb der israelkritischen Verhaltensweisen zwischen solchen, die «als solche», d.h. per se, antisemitisch sind und solchen, die «nicht per se» antisemitisch sind. Sie führt für beides paradigmatische Fälle an: Klassische antisemitische Stereotype auf den Staat Israel anzuwenden gilt der JDA als Beispiel für eine per se antisemitische Verhaltensweise. Boykottaufrufe gegen Israel werden dagegen als nicht per se antisemitisch klassifiziert. Wie eben gesehen schließt das nicht aus, dass ein Boykottaufruf gegen Israel antisemitisch sein kann. Es bedeutet nur, dass er das nicht einfach schon dadurch ist, dass er ein Boykottaufruf gegen Israel ist. Als antisemitisch könnte er z.B. dann gelten, wenn er aus judenfeindlichen Motiven geschieht oder sich gegen Juden im Allgemeinen richtet, unabhängig von ihrem Verhältnis zum Staat Israel.
Um zu klären, ob ein Boykottaufruf gegen Israel antisemitisch ist, muss man also genauer hinsehen. Laut JDA muss man insbesondere klären, ob der vorliegende Fall unter die JDA-Kerndefinition von Antisemitismus fällt, also ein Fall von «Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)» ist. Die konkrete Bewertung im Einzelfall kann einem die Definition nicht abnehmen. Genauso wenig wie einem eine Definition von Ausländerfeindlichkeit oder Sexismus abnehmen kann, zu prüfen, ob die Ablehnung einer nicht-deutschen Bewerberin ausländerfeindlich war oder ob eine Beleidigung einer Politikerin sexistisch ist.
Ein weiteres Beispiel: Laut JDA ist es nicht per se antisemitisch, das Handeln Israels nach strengeren Standards zu bewerten als das anderer Staaten. Trotzdem können solche Doppelstandards Ausdruck einer antisemitischen Einstellung sein. Sie sind es nur nicht per se, müssen es also nicht sein. Doppelstandards können ihren Grund zum Beispiel auch darin haben, dass man selbst oder die eigene Familie stärker vom Handeln Israels betroffen ist als vom Handeln des anderen Staats. Das schließt weder aus, dass solche Doppelstandards trotzdem kritisierbar sind, noch dass sie in anderen Fällen einer antisemitischen Haltung geschuldet sein können. Es bedeutet nur, dass man in diesem Fall bei der Beurteilung des Antisemitismusvorwurfs genauer hinsehen muss als bei Verhaltensweises, die bereits per se antisemitisch sind.
Politische Motive in der Debatte um IHRA und JDA
Man wirft politischen Akteur*innen, die die JDA ablehnen, manchmal vor, dass sie an einem solchen genaueren Hinsehen gar nicht interessiert sind. Sie würden die IHRA-Definition deswegen bevorzugen, weil diese es ihnen erlaubt, bestimmte Formen israelkritischen Verhaltens als antisemitisch zu verurteilen, ohne weitere Umstände zu einzubeziehen. Unabhängig davon, ob dieser Vorwurf zutrifft, wäre ein solches Vorgehen durch den Wortlaut der IHRA-Definition nicht gedeckt. Erstaunlicherweise ist die IHRA-Definition in diesem Punkt nämlich keineswegs strikter, sondern sogar laxer als die JDA-Definition.
Die IHRA-Definition verzichtet auf die Unterscheidung zwischen antisemitisch und per se antisemitisch und stellt stattdessen allen Beispielen auf ihrer Liste antisemitischer Verhaltensweisen die folgende Charakterisierung voran:
«Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:»
Aus dieser Passage ergibt sich ein zweifacher Vorbehalt: Erstens, die danach folgenden Beispiele sind nicht unbedingt Fälle von Antisemitismus, sondern können es nur sein. Zweitens, bei der Beurteilung, ob sie es sind, ist immer der Gesamtkontext zu berücksichtigen. Das heißt: Nach der IHRA-Definition ist keines der dort genannten Beispiele per se antisemitisch! Man könnte den Beispielen auch voranstellen: Diese Beispiele sind nicht per se antisemitisch, aber können es sein – je nachdem, wie der Gesamtkontext aussieht.
Wenn kurz danach also «die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird» als «Beispiel von Antisemitismus» genannt wird, bedeutet das: Solche Doppelstandards gelten – genau wie in der JDA-Definition – nicht automatisch als antisemitisch, sondern nur in einem bestimmten Kontext.
Bei anderen Beispielen ist die IHRA sogar weniger streng als die JDA. So steht der Vorwurf «gegenüber Jüdinnen und Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer», in der IHRA-Definition ebenfalls unter Vorbehalt – er kann, muss aber nicht antisemitisch sein. Nach der JDA-Definition dagegen zählt dieser Vorwurf zu den Fällen, die bereits per se antisemitisch sind.
JDA und IHRA betonen unterschiedliche Aspekte
Warum wird die Unterscheidung zwischen «antisemitisch» und «per se antisemitisch» in der öffentlichen Debatte weitgehend ignoriert? Das mag zum Teil mit den politischen Interessen der an dieser Debatte Beteiligten zusammenhängen. Es liegt aber vermutlich auch an gewissen sprachpragmatischen Aspekten von Äußerungen, ob bestimmte Dinge per se diese oder jene Eigenschaften haben.
An nicht per se antisemitischen Verhaltensweisen kann man zwei verschiedene Aspekte betonen wollen: Zum einen, dass sie nicht notwendigerweise antisemitisch sein müssen – darauf verweist die JDA-Definition; zum anderen, dass sie dennoch antisemitisch sein können – das stellt die IHRA-Definition in den Mittelpunkt.
Beide können mit ihren Aussagen Recht haben. Und sie können sogar beide darin Recht haben, jeweils eher das eine als das andere zu betonen. In der Situation, in der die IHRA-Definition geschrieben wurde, kann es wichtig gewesen sein zu betonen, dass bestimmte Verhaltensweisen Fälle von Antisemitismus sein können, weil das oft ignoriert wurde. In der Situation, in der die JDA geschrieben wurde, kann es wichtig gewesen sein zu betonen, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht antisemitisch sein müssen, weil der Antisemitismusvorwurf inzwischen oft vorschnell gegen israelkritisches Verhalten erhoben wurde.
Auch diesen sprachpragmatischen Aspekt kann man sich anhand von ähnlich gelagerten Fällen verdeutlichen: In einer bestimmten gesellschaftlichen Situation kann es geboten sein, darauf hinzuweisen, dass es ausländer- oder frauenfeindlich sein kann, eine nicht-deutsche Bewerberin für eine Stelle abzulehnen. Aber es kann in anderen Umständen genauso wichtig sein, darauf hinzuweisen, dass ein solches Verhalten nicht per se ausländer- oder frauenfeindlich ist.
Vermutlich resultiert der Streit, ob die Antisemitismusdefinitionen von IHRA oder JDA angemessener sind, auch aus unterschiedlichen Auffassungen dazu, welcher Hinweis in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Situation wichtiger ist: Der Hinweis, dass bestimmte Verhaltensweisen antisemitisch sein können, oder der, dass sie es nicht sein müssen. Darüber kann man natürlich streiten. Aber es wäre in der öffentlichen Debatte über Antisemitismus viel gewonnen, wenn man sich immer wieder vor Augen führte, dass die beiden Definitionen jeweils viel offener für die jeweils nicht in ihnen betonten Aspekte sind als angenommen. Besonders die zum Teil maßlose Kritik an der JDA lebt davon, das zu ignorieren.