Nachricht | Geschichte - Europa Das «Manifest von Ventotene» von 1941

Eine frühe Initiative für ein vom Faschismus befreites, vereinigtes und sozialistisches Europa

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Cover des Manifestes (in einer späteren Ausgabe), CC BY 2.0, European Commission Audiovisual Service

Heutzutage wird das im Jahre 1941 von drei italienischen Antifaschisten auf einer Gefängnisinsel bei Neapel verfasste «Manifest von Ventotene» (Link zum Volltext auf Deutsch) immer wieder in der politischen Öffentlichkeit als einer der ersten Anstöße für den späteren Zusammenschluss Westeuropas unter kapitalistischen Vorzeichen beschworen. Doch diese programmatische Schrift für die «Resistenza» entwarf noch eine deutlich andere Perspektive. Dieses Dokument sollte gerade heute als Ausdruck der gesellschaftlichen Vorstellungen breiter Sektoren des damaligen antifaschistischen Widerstandes angesehen werden.

Wie nötig das ist, zeigen die jüngsten Feierlichkeiten aus Anlass des Kriegsendes im Gefolge der Kapitulation der deutschen Wehrmacht vor den Alliierten in Reims und in Berlin-Karlshorst. Der Blick war dabei fast ausschließlich auf die letzten Kämpfe der verschiedenen Armeen und die Umstände der Unterzeichnungszeremonien zwischen den Vertretern der Alliierten einerseits und der geschlagenen NS-Armee andererseits gerichtet. Die Widerstandsbewegungen verschiedener europäischer Länder saßen nicht mit am Tisch, trotz ihrer vielen Todes- und anderer Opfer und ihres Beitrags zur Niederlage der faschistischen Achse.

Radikale Analyse der Kriegsursachen

1941, zum Zeitpunkt der größten Machtausweitung der Diktaturen Hitlers und Mussolinis, war in diesem Manifest zu deren Sturz durch eine grundlegende sozialistische und europaweite Umwälzung aufgerufen worden. In seiner radikalen Abrechnung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die zum Krieg geführt hatten, war es eindeutig. Zwar sei die Herausbildung der Nationalstaaten historisch ein mächtiges Moment in der Durchsetzung von Demokratie gewesen, auch wenn dies durch den Kapitalismus bestimmt gewesen sei. Doch deren absolute Rivalität untereinander, eine Widerspiegelung des kapitalistischen Konkurrenzprinzips, und die Unterwerfung der Gesellschaft unter zunehmend totalitärer verfasste Staaten hätten zur Krise und nun zu einem Zweiten Weltkrieg geführt. Der deutsche Militarismus habe sich dabei als Vorreiter erwiesen und würde zeigen, was dies im Falle seines Siegs für ganz Europa bedeuten würde. Das könne nur ein Sieg der Alliierten verhindern. Doch würde dieser nur die Herstellung eines Anscheins von Demokratie bedeuten, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse unangetastet blieben.

Für ein geeintes Europa

Dagegen forderten die Verfasser eine Vereinigung ganz Europas und damit die Aufhebung der Konkurrenz untereinander. Und fügten hinzu: «Die Revolution muss, soll sie unseren Bedürfnissen entsprechen, sozialistisch sein, das heisst, sie muss sich einsetzen für die Emanzipation der arbeitenden Klassen und für die Schaffung humanerer Lebensbedingungen.» Das Manifest mündete in eine Reihe konkreter, unmittelbar in Angriff zu nehmender Forderungen. Sie zielten auf weitgehende Einschränkung des kapitalistischen Privateigentums und ganz allgemein auf die Umwälzung der Lebensbedingungen im Alltag wie auch in der Arbeitswelt. Sie enthielten aber auch demokratische Forderungen wie die besonders für Italien wichtige nach der Abschaffung des Konkordats mit dem Vatikan von 1929, das dem Faschismus die mächtige Unterstützung durch die Kirche gebracht hatte. Für die Durchsetzung dieser umfassenden gesellschaftlichen Umgestaltung forderten sie die Schaffung einer revolutionären Partei, die ihre Basis in der Zusammenführung der Arbeiterschaft und der Intellektuellen finden müsse.

Liest man es heute aus dem Wissen um die spätere Entwicklung, kann man leicht die ideologisch-theoretische Mischung erkennen, auf der dieses Manifest basierte. Neben einer klassisch-marxistischen Kapitalismus-Analyse standen radikaldemokratische Einschätzungen, die «das Individuum» immer stärker bürokratischen Herrschaftsformen in totalitärer werden Gesellschaften gegenübergestellt sahen. Das galt nicht nur für die kapitalistischen Länder, sondern ebenso für die Erfahrung mit dem Stalinismus. Allerdings war die Ausrichtung auf die Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus, um damit den Faschismus zu überwinden, eindeutig formuliert. Und vor allem formulierte es ausdrücklich eine gesamteuropäische Perspektive, die oftmals in den verschiedenen nationalen Widerstandsbewegungen fehlte.

Wer waren die drei Verfasser?

Die drei Verfasser standen dabei für unterschiedliche Strömungen und Erfahrungen der italienischen Linken. Hauptautor Altiero Spinelli, Jahrgang 1907, hatte sich 1924 der Kommunistischen Partei aus Protest gegen die faschistische Diktatur angeschlossen. Bereits nach drei Jahren geriet er in Haft, um schließlich 1939 auf die Gefängnisinsel verbannt zu werden. Allerdings hatte er schon 1937 aus Anlass der Moskauer Schauprozesse in Moskau gegen den Stalinismus opponiert und war dafür aus der Partei ausgeschlossen worden.

Einen komplizierteren politischen Weg hatte Ernesto Rossi, Jahrgang 1897, eingeschlagen. Ursprünglich begeisterter Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg, war er sogar an der Gründung der faschistischen Partei 1919 beteiligt gewesen, verließ diese aber bereits nach kurzer Zeit, noch vor Mussolinis «Marsch auf Rom» im Jahre 1922. Er schloss sich der radikaldemokratischen, manchmal auch als liberalsozialistisch bezeichneten Gruppierung «Giustizia e libertà» (Gerechtigkeit und Freiheit) an, in der sich vor allem republikanisch und antifaschistisch gesinnte Intellektuelle sammelten. Als einer ihrer Inlandsführer wurde er 1930 verhaftet und zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.

Der dritte unter den Verfassern, Ernesto Colorni, repräsentierte die Sozialisten. Als ein Kontaktmann der Exil-Parteiführung für das «Inland» war er im Jahre 1938 ins Visier der faschistischen Geheimpolizei geraten, aber auch wegen der Hinwendung Mussolinis zur antisemitischen Gesetzgebung. Denn Colorni stammte aus einer jüdischen Familie. Verheiratet war er übrigens mit Ursula Hirschmann, der Schwester eines Aktivisten der linkssozialdemokratischen Widerstandsgruppe Neu Beginnen. Dieser wurde unter seinem amerikanisierten Namen Albert O. Hirschman später in den USA ein bekannter, oftmals quer zur herrschenden ökonomischen Orthodoxie liegender Ökonom[1].

Das «Manifest» und die Befreiung Europas 1945

Der Text wurde, auf Zigarettenpapier geschrieben, noch 1941 von den Ehefrauen von Rossi und Colorni ans Land geschmuggelt. Einzelne Passagen zirkulierten bald in der klandestinen Resistenza-Presse, ohne bedingt durch die Umstände ein größeres Echo erreichen zu können. Das war erst mit dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 möglich. Deutsche Truppen besetzten den Norden und die Mitte des Landes. In ihrem Schatten erneuerte Mussolini seine Herrschaft. Als Antwort darauf erlebte der Widerstand einen neuen Aufschwung. Ihm schlossen sich die nun Freigelassenen an. Als «Manifest für ein freies und vereintes Europa» konnte es nun endlich ganz legal erscheinen und erreichte ein großes Echo. Allerdings kam tragischer Weise der dritte der Autoren, Colorni, in dieser letzten Kriegsphase, bei den Kämpfen um die Befreiung Roms im Mai 1944, um.

Mit der Verschränkung von grundlegenden demokratischen Forderungen mit einer sozialistischen Ausrichtung als Abrechnung mit den kapitalistischen Eliten als Träger von Faschismus und Nazismus traf das Manifest das gesellschaftliche Bewusstsein im Augenblick des Sturzes der Diktaturen. Selbst eine CDU schrieb noch in ihr erstes («Ahlener») Programm von Anfang 1947 vom Kapitalismus, der der Lage nicht mehr gerecht sei und durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung ersetzt werden müsse. Diese Worte sollte zwar danach nicht mehr der weitere Leitfaden der CDU sein, zeigten aber doch an, wie sehr die Katastrophe des Kriegs ein Bewusstsein über dessen Ursachen geschaffen hatte.

Tatsächlich prägten sozialistische Vorstellungen die verschiedensten Widerstandsbewegungen bei der Befreiung Europas. Dies drückte sich auch darin aus, dass in vielen Ländern neben den alliierten Truppen eben auch deren bewaffneten Einheiten gekämpft hatten. Anstelle der zusammengebrochenen Staatsapparate wie der faschistischen Besatzungsmächte übernahmen diese in Form von Befreiungs- oder antifaschistischen Komitees zumindest für kurze Zeit die Macht da, wo es möglich war. Doch dieser «Moment der Befreiung», wie dies der in Paris lehrende deutsche Historiker Gerd-Rainer Horn jüngst in einer umfassenden, leider noch nicht ins Deutsche übertragenen Publikation herausgearbeitet hat, war nur vorübergehend.[2] Und auch Stefan Heyms Buch über eine solche Entwicklung während jener Monate bei Kriegsende in einem vorübergehend unbesetzten kleinen Ort Sachsens, in Schwarzenberg im Erzgebirge, gibt eine in diesem Fall literarische Ahnung davon. Spätestens im Sommer 1945 endete dieser Prozess. Dies geschah nicht zuletzt, weil sich die Alliierten auf einen Kompromiss in den Beschlüssen der Konferenzen von Jalta und Potsdam geeinigt hatten, die bei allen Maßnahmen zur Entnazifizierung das gesamtgesellschaftliche Gleichgewicht international nicht in Frage stellen sollten. Dabei gilt, wie man inzwischen weiß, dass schon insgeheim erste Schritte für den zukünftigen Kalten Krieg in die Wege geleitet worden waren.[3]

Auch dem «Manifest von Ventotene» ging es nicht viel besser. Schon die ersten Veröffentlichungen waren schnell davon gekennzeichnet, seine antikapitalistische Dimension herunterzuspielen und es ganz auf die Schaffung eines europäischen Föderalstaates zu zentrieren. Die Frage nach dessen gesellschaftlicher Verfasstheit trat dabei zunehmend in den Hintergrund. Spinelli und Rossi waren nun an der Bildung der «Aktionspartei» (Partito d'azione) beteiligt. Diese Partei zwischen radikalem Republikanismus und Sozialdemokratie, die wesentlich aus Giustizia e libertà hervorgegangen war, bestand aber nur wenige Jahre und wirkte hauptsächlich durch ihre verschiedenen prominenten antifaschistischen Aktivisten und Intellektuellen. Bald schlossen sich ihre Mitglieder den Sozialisten an oder beteiligten sich an der Republikanischen oder später auch an der Neugründung der Radikalen Partei.

Von den beiden überlebenden Verfassern des Manifests trat Rossi in der italienischen Republik vor allem als prominenter Journalist in Erscheinung. Spinelli dagegen betätigte sich bald in den entstehenden europäischen Institutionen. So war er schließlich von 1970 bis 1976 Europakommissar und dann von 1979 bis 1989 Mitglied des direkt gewählten europäischen Parlaments. Er hatte dafür als Unabhängiger auf der Liste der Kommunistischen Partei Italiens kandidiert.

Das «Manifest» heute: Denunziation oder Worthülse?

Angesichts dieser Entwicklung nimmt es nicht wunder, dass das «Manifest von Ventotene» heute weitgehend zu einer Art bloßem Schlagwort geworden ist, das ohne Rücksicht auf dessen Inhalt zur Beschwörung einer gesamteuropäischen Politik verwendet wird. Denn wie sollte es sonst zu erklären sein, dass die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen es vor dem Europäischen Parlament im April 2020 bei Beginn der Corona-Epidemie mit zur Begründung ihrer Maßnahmen anführte?

Diesen Widerspruch zwischen den aus der Resistenza geborenen antifaschistischen und antikapitalistischen Zielsetzungen des Manifests und seiner Beschwörung bei gleichzeitiger Weglassung dieser Absichten hat jüngst auch Italiens Ministerpräsidentin Meloni erkannt. Sie, die ganz auf die Durchdringung Europas mit ihren postfaschistischen und rechtspopulistischen Vorstellungen gegen alles «Linke» setzt, hielt Ende März der ja durchaus allen radikalen sozialistischen Umsturzplänen abholden Opposition im italienischen Parlament einige der antikapitalistischen Passagen des Manifests vor. Ein solches Europa wolle sie nicht. Sie löste damit allerdings auch einen kleinen Sturm aus. Plötzlich sprach man in Italien überall vom Manifest von Ventotene, das immer wieder beschworen wurde, das sich aber kaum jemand wirklich angeschaut hatte. Die linksliberale Tageszeitung La Repubblica druckte es sogar als Beilage nach. Doch letztlich blieb es nur bei einem Sturm im Wasserglas. Er diente für Meloni offensichtlich dazu, vom bevorstehenden Jahrestag der Befreiung Italiens (am 25. April) abzulenken, die Opposition als gefährlich radikal und in Vorstellungen aus vergangenen Zeiten verharrend zu attackieren und die ansonsten traditionellen Gedenkfeierlichkeiten in den Hintergrund zu schieben, wobei ihr auch noch der kurz darauf erfolgte Tod des Papstes dabei half. Das «Manifest von Ventotene» bleibt somit eine unabgegoltene Erinnerung an den Geist der antifaschistischen Widerstandsbewegungen und deren fast umgehend erfolgten Verdrängung. Vielleicht wirkt es aber heute noch vor allem als Ausgangspunkt für den Widerstand gegen die ständigen Bemühungen, die Verfassung und die Politik der EU in neoliberaler Weise zu verschlechtern[4].


[1] Zu Hirschman wird in Band 5 der Reihe «Juden und Jüdinnen in der Linken» ein Porträt erscheinen.

[2] Vgl. Gerd-Rainer Horn, The Moment of Liberation in Western Europe: Power Struggles and Rebellions, 1943-1948, Oxford 2020. Siehe dazu auch seinen Beitrag «Ein historischer Moment der Befreiung. Antifaschismus im Niemandsland des befreiten Westeuropas» in Bernd Hüttner/Christoph Jünke (Hrsg.), Von den Chancen der Befreiung. Der 8. Mai 1945 und seine Folgen, 2020.

[3] Stalin hatte zugesehen, wie der Warschauer Aufstand von August / September 1944 von den Nazis niedergeschlagen wurden. Und Churchill hatte, wie erst seit wenigen Jahren bekannt, im Frühjahr 1945 insgeheim durch den britischen Generalstab Pläne schmieden lassen, die Truppen der Westalliierten gegen die Rote Armee weiter in Richtung Polen, aber mit Hilfe der dann wiederbewaffneten deutschen Kriegsgefangenen, marschieren zu lassen. «Operation Unthinkable» war das bezeichnende Codewort dafür. Das Vorhaben scheiterte allerdings. Nicht zuletzt wurde es von der britischen Militärführung vollkommen abgelehnt.

[4] Zu einem allerdings schon etwas älteren Diskussionsbeitrag dazu vgl. Judith Dellheim / Gabi Zimmer, Keine Feier am 25. März. Nach 60 Jahren EU sind ihre Geschichte und das Manifest von Ventotene neu zu diskutieren, RLS STANDPUNKTE, Nr. 3/2017.