Hintergrund | Krieg / Frieden - Militarisierung Haltet die Drückeberger!

Eine kritische Betrachtung der Wehrpflicht-Diskussion von Ole Nymoen

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Ole Nymoen,

Neue Rekrut*innen beim Fahneneid, öffentliche Gelöbnis vor dem Abgeordnetenhaus von Berlin, 23.5.2025
Ob die jungen Leute dem Land dienen wollen oder nicht, ist dem Staat gleichgültig. Mit der «zunächst freiwilligen» Wehrpflicht soll nur bestmöglich das Zwangsverhältnis kaschiert werden, um die ideologische Vorarbeit für die Kriegstüchtigkeit zu leisten. Neue Rekrut*innen beim Fahneneid, öffentliche Gelöbnis vor dem Abgeordnetenhaus von Berlin, 23.5.2025, Foto: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

«Also, passen Sie mal auf, ich werd‘ jetzt Ihr Gewissen prüfen. Nehmen wir mal an, Sie geh’n spazieren mit Ihrer Freundin nachts im Park. Plötzlich, kommt ne Horde Russen, sagen wir: ein Trupp Amerikaner, schwer betrunken und bewaffnet nachts im Park, machen sich an Ihre Freundin ran. Sie haben ne MP dabei. Naa, was machen Sie?»

So sang der Liedermacher Franz Josef Degenhardt im Jahr 1972 in seiner satirischen «Befragung eines Kriegsdienstverweigerers». Damit reagierte er auf eine staatliche Praxis: Wer als junger Mann den Dienst bei der Bundeswehr verweigern wollte, der musste gute Gründe haben. Genauer gesagt: Gewissensgründe, die ihm den Dienst an der Waffe verboten. Politische Argumente wurden nicht akzeptiert, nur ein genereller Gewaltverzicht (etwa aus religiösen Gründen) wurde anerkannt.

Im obigen Beispiel bedeutete das: Ein Befragter musste behaupten, aufgrund seines Gewissens lieber seine Freundin von feindlichen Soldaten vergewaltigen zu lassen, als eigene Gewalt anzuwenden. Wer das in einem Kreuzverhör beim örtlichen Kreiswehrersatzamt nicht glaubhaft machen konnte, der musste gegen seinen Willen zur Armee gehen.[1]

Ole Nymoen (27) studierte Soziologie und Wirtschaftswissenschaften in Jena und arbeitet als freier Journalist. Im März 2025 erschien sein Buch «Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde» bei rowohlt.

Ganz ähnlich ergeht es heute jenen, die sich gegen die Kriegstüchtigkeit aussprechen. Wer nicht bereit ist, in den Krieg zu ziehen, und sich dazu auch noch öffentlich bekennt, der wird immer wieder Gewissensprüfungen unterzogen. So auch ich: «An welcher Stelle ringst du denn?», das fragte mich vor einigen Monaten eine Late-Night -Moderatorin, als ich in ihrer Sendung erklärte, wieso ich nicht für Deutschland kämpfen möchte. 

Eine knappe Dreiviertelstunde lang wurde ich von ihr und einer Co-Diskutantin gegrillt und mit verschiedensten brutalen Szenarien konfrontiert: Was, wenn ein Feind meine Kinder mit einer Waffe bedroht? Was, wenn er auf fremde Kinder zielt? Alle möglichen Gräueltaten wurden aufgerufen in der Hoffnung, mir doch noch ein Bekenntnis zum deutschen Staat und seiner Gewalt zu entlocken.

Mein eigentlicher Punkt wurde dabei – wie in jeder anderen Diskussion – stillschweigend übergangen: Dass es auf meine persönliche Grenze nämlich gar nicht ankommt. An welchem Punkt ein individueller Bürger «mit sich ringt»; wann es ihm trotz aller Friedfertigkeit geboten erscheint, für «sein» Land zu einer Waffe zu greifen – all das spielt im echten Leben nicht die geringste Rolle. Denn kein Staat dieser Welt fragt seine Bürger, unter welchen Bedingungen sie für ihn kämpfen würden, und zieht sie erst (und nur) dann zum Dienst an der Waffe heran.

Dennoch werden alle Diskussionen rund um die Themen Wehrpflicht und Kriegstüchtigkeit auf diese Art und Weise geführt: Etwas, das in Wahrheit gar keine Gewissensfrage ist, wird zu einer (v)erklärt. Und wer sich dem Kriegsgetrommel kategorisch verweigert, der wird sogleich mit den größten Gräueltaten konfrontiert, so als wäre er dafür verantwortlich.

Aber warum eigentlich? Wieso werden die Kriegsgegner immer so sachfremd angegangen? Um das zu verstehen, müssen wir erst einmal untersuchen, wie die Fürsprecher von Kriegstüchtigkeit und Wehrpflicht argumentieren.

Die Rechtfertigung der Wehrpflicht

Jeder Staat auf dieser Welt verspricht seinen Bürgern Sicherheit. Fragt sich bloß, was damit gemeint ist. Versteht man darunter, dass möglichst wenige Menschen ihr Leben verlieren sollen, und unterstellt man der staatlichen Kriegstüchtigkeit diesen Zweck, dann kommt es schnell zu einem heiklen Widerspruch: Denn ebenjener Staat, der sich als bloße Schutzmacht seiner Bürger ausgibt, muss Hunderttausende von ihnen zwingen, sich im Militär ausbilden zu lassen und im Ernstfall zu kämpfen und zu sterben. Auch für die Zivilisten ist es nicht ausgemacht, dass die nationale Verteidigung im Kriegsfall dazu angetan ist, ihr Leben zu schützen: Gut möglich, dass ein jahrelanges Leben in einem Kriegsgebiet mehr Gefahr für Leib und Leben darstellt, als eine schnelle Kapitulation es täte.

Aus diesem Widerspruch – zwischen der Souveränität des Staates einer- und dem Lebenswillen der einzelnen Bürger andererseits – macht in der bürgerlichen Öffentlichkeit kaum jemand einen Hehl. Dass der Staat seine Kriegstüchtigkeit nicht (nur) herstellt, um möglichst viele Leben zu retten, wird oftmals sogar eingeräumt.[2] Sicherheit wird daher meist anders definiert: Der Staat rüstet nicht auf, weil er möglichst viele Leben retten will, sondern weil er angeblich der einzige Garant ist, damit seine Bürger überhaupt ein menschenwürdiges Leben fristen können.

Ganz in diesem Sinne erklärte der Bundeskanzler Friedrich Merz im vergangenen Jahr, dass Frieden für ihn weniger wichtig sei als Freiheit: «Frieden gibt es auf jedem Friedhof. […] Erst wenn Freiheit besteht, erst dann kann es Frieden geben.» Unverblümter kann man kaum ausdrücken, dass es bei der staatlichen Verteidigung ganz sicher nicht um Menschenleben geht, sondern um den Erhalt der bestehenden Ordnung, die einem Friedrich Merz so wünschenswert erscheint: Ohne Freiheit ist alles nichts, Frieden gibt’s auch auf dem Friedhof! Ein brillanter Grund, um Hunderttausende junge Männer und Zivilisten gegen ihren Willen dieser ewigen Friedhofsruhe zuzuführen.

Ganz ähnlich argumentiert die Rechtswissenschaftlerin Katrin Groh, die an der Universität der Bundeswehr lehrt: «Der Staat schützt die Freiheit und die Würde seiner Bürger*innen. Wird er von außen angegriffen, kann er als Schutzmacht nur überleben, wenn seine Bürger*innen mit Waffengewalt für seinen Bestand kämpfen. Und deshalb darf er seine männlichen Bürger zum Wehrdienst verpflichten.»

Heißt: Solange der bis dato herrschende Staat fortbesteht, gelten Freiheit und Würde, sobald ein anderer Souverän die Macht ergriffe, wäre es um diese hohen Werte schlecht bestellt. Diese Argumentation hört man immer wieder, und sie ist für den Staat sehr praktisch: Denn sie lässt sich schlicht weder überprüfen noch widerlegen. Dass es ohne den jetzigen Staat für seine Bürger weder «Freiheit» noch «Würde» gibt, ist nämlich eine bloße Behauptung. Ob die Bürger ebenjenen Staat als Garanten ihrer «Würde» betrachten, der sie im Alter Pfandflaschen sammeln oder an der Tafel betteln lässt, wird ganz sicher von niemandem abgefragt.

Wir fassen zusammen: Der Staat stellt seine Kriegstüchtigkeit nicht her, um möglichst viele Leben zu schützen, sondern um seine Souveränität über Land und Leute zu bewahren – alles unter der Prämisse, bloß eine Schutzmacht des gelingenden Lebens der Bürger zu sein. 

Ein Zwang, der keiner sein soll

Diese Argumentation lässt sich leicht ad absurdum führen: Erstens mit dem Verweis darauf, dass der Staat ganz ohne Angriffe von außen das Leben der Bürger immer weiter verschlechtert. Dass in Zukunft weitere Einschnitte bei Bürgergeld und Rente fällig werden, dass Feiertage gestrichen gehören und mehr Arbeitsstunden hermüssen – all das ist ohne «böse Russen» der Common Sense der Politik.

Zweitens ist ein Großteil der Bevölkerung dagegen, selbst für Deutschland zu kämpfen – und erkennt dementsprechend, dass sein Interesse und das des Staates auseinanderfallen. Der gemeine Bürger ist zwar abstrakt für die Kriegstüchtigkeit, soweit sie ihn nicht direkt betrifft – solange es nur um Sondervermögen oder Rüstungsproduktion geht, haben die wenigsten Deutschen etwas gegen die «Zeitenwende». Letztlich sieht aber kaum jemand ein, wieso er selbst den Kopf hinhalten sollte. Der erzwungene Tod im Schützengraben erscheint nur den wenigsten als Wahrung der eigenen Sicherheit.

Die staatliche Souveränität lässt sich nicht anders als durch Zwang und Gewalt herstellen, weshalb der alte und neue Verteidigungsminister Boris Pistorius kürzlich im Bundestag erklärte: «Wir haben uns verabredet, einen Wehrdienst zu schaffen, der zunächst auf Freiwilligkeit beruht und junge dazu Menschen animieren soll, Dienst für ihr Land zu leisten. Und ich sage ganz bewusst und ehrlich: Die Betonung liegt auch auf ‹zunächst›, falls wir nicht hinreichend Freiwillige gewinnen können.»

Hier wird ganz offen kundgetan: Ob die jungen Leute dem Land dienen wollen oder nicht, ist dem Staat gleichgültig. Genau dieses Zwangsverhältnis soll aber bestmöglich kaschiert werden, um die ideologische Vorarbeit für die Kriegstüchtigkeit zu leisten. In der Bevölkerung soll das falsche Bewusstsein erzeugt werden, dass die Bürger im Krieg ihr eigenes Interesse verfechten würden. Einerseits soll das den heranwachsenden Rekruten eingeimpft werden. Andererseits soll die breite Masse der Bevölkerung dieses Denken praktizieren, um im Ernstfall die verteidigungsunwilligen jungen Männer unter moralischen Druck zu setzen.

Haltet die Drückeberger!

Dies ist letztlich der Grund, warum staatstragende Journalistinnen und Show-Moderatoren mit den eingangs erwähnten moralischen Frontalangriffen auf ihre Gäste losgehen. Ganz im Sinne der alten Kriegsdienstverweigerungsgespräche soll gezeigt werden: Wer gegen den Krieg ist, der nimmt vergewaltigte Frauen, massakrierte Kinder sowie ähnliche Gräueltaten in Kauf.

Hier kann man tatsächlich einmal von einer Täter-Opfer-Umkehr sprechen: Denn es sind keineswegs Kriegsdienstverweigerer, die für die Schrecken des Krieges verantwortlich sind, sondern ebenjene Staaten, die sich bloß als Schutzmächte ihrer Bürger ausgeben und bei ihrer «Verteidigung» komischerweise immer wieder Hunderttausende Tote produzieren. Hierbei nehmen sich demokratische und diktatorische, westliche und östliche Staaten überhaupt nichts – auch wenn man in den Abendnachrichten immer wieder zu hören bekommt, dass die eigenen und befreundeten Armeen ihre Kriege auf höchst moralische Weise führen würden.

All das geht niemals ohne Zwang, mag im zivilen Leben auch noch so viel Freiheitlichkeit herrschen. Oder in den Worten Franz Josef Degenhardts: «Hier darf jeder machen, was er will! Im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich.» 

Und so sieht es dann auch in der Praxis aus: Dann prügelt der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat seine jungen Männer (ob mit oder ohne Zustimmung) an die Front, damit weiterhin dieselbe Staatsmacht regiert und das würdevolle Flaschensammeln im Alter «beschützt».
 


[1] So beschreibt es auch die aufrüstungsaffine Journalistin Miriam Hollstein, deren Vater einst Kriegsdienstverweigerer beriet: «Wer sagte, dass er natürlich seine Freundin, aber eben nicht sein Land mit der Waffe verteidigen würde, hatte sofort verloren.» (Miriam Hollstein: «Bitte kein Eiertanz – wir brauchen wieder eine echte Wehrpflicht!», online verfügbar unter www.stern.de.)

[2] Zumindest in Kreisen, die um intellektuelle Redlichkeit bemüht sind, ist das der Fall. Die Praxis von Talkshowmoderatorinnen und Zeitungsredakteuren ist eine andere, wie ich selbst oft genug feststellen musste. 

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