Nachricht | Hellbeck: Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion; Frankfurt/M. 2025

Wider den jüdischen Bolschewismus?

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Ein glänzendes, aber doch verstörendes Buch legt der in New Jersey an der Rutgers University lehrende deutsche Osteuropahistoriker Jochen Hellbeck vor. Er hat sich in der jüngeren Vergangenheit mit Arbeiten zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs, vor allem der Schlacht um Stalingrad[1] hervorgetan. Seine Untersuchungen sind deshalb bemerkenswert, weil sie umfänglich Interviews und autobiografische Zeugnisse sowjetischer Soldaten als Quellen einer Kriegsgeschichtsschreibung nutzen, die den nicht nur in (West- und nun Gesamt-)Deutschland meist ausgeblendeten Krieg im Osten, gegen die Sowjetunion ins Blickfeld rücken. «Dieses Buch will der herrschenden Amnesie und der vorsätzlichen Verdrängung entgegenwirken und der UdSSR den ihr gebührenden Platz in der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs und des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zurückgeben. Die Sowjetunion fungierte nicht nur als Versuchslabor für die deutsche Politik des Massenmords, sie war auch die entscheidende Staatsmacht, die das Dritte Reich besiegte.» (24)

Und in der Tat, für die heutige vermeintlich weltoffene Generation ist es schwer, sich mit jenem Vernichtungskrieg auseinanderzusetzen. Die Kriegsgeneration mit ihrem Schweigen und Verdrängen, auch Schönfärberei, wirkt kaum noch als Informationsquelle. Der Kalte Krieg hat nach 1945 nahtlos die Auseinandersetzung mit den deutschen Kriegstaten und Verbrechen verdrängt. Oder, wie der Autor es ungewollt zynisch anmerkt: «Die Sowjetunion zwang Deutschland zwar zur militärischen Kapitulation, doch auf dem ideologischen Schlachtfeld blieben die Deutschen Sieger. Ihre Parole 'Europa gegen den Bolschewismus' überlebte den Untergang des NS-Staates und sorgte dafür, dass das ganze Ausmaß der deutschen Verbrechen im Osten für viele Jahre unbeachtet blieb.» (22) Das Wiederaufbrechen des Konflikts des «freiheitlichen Westens» mit dem «autokratischen Russland» und erst recht der Krieg um die Ukraine hat Einsichten in der kurzen Phase nach 1989/91 schnell im Dunkel der Konfrontation verschwinden lassen, ebenso seriöse Untersuchungen sowohl aus der DDR wie der späten BRD, dort etwa im Kontext der Wehrmachtsausstellung.

In zehn Kapiteln wird ein umfassendes und schonungsloses Bild der Voraussetzungen des Krieges gegen die Sowjetunion und seiner mörderischen Dimension als Krieg gegen den sozialistischen Staat entwickelt: Als eine zwanghafte Ausrottungspolitik gegen Kommunisten und potentielle Systemträger, nicht zuletzt auch gegen jüdische Sowjetbürger. «Bis zum Kriegsende starben durch Erschießen, Aushungern und infolge von Kampfhandlungen mindestens 8 Millionen sowjetische Zivilisten, darunter 2,6 Millionen sowjetische Juden. Insgesamt verloren aufgrund der Invasion und der Besetzung durch die Achsenmächte zwischen 26 und 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben, davon 15 Millionen Zivilisten. Für die deutschen Eroberer war diese kolossale Zahl von Toten nur der Anfang. Die Pläne für die Nachkriegskolonisierung des Ostens sahen den Hungertod von 'zig Millionen' von Menschen vor, insbesondere der sowjetischen Stadtbevölkerung, von der man annahm, dass sie am meisten vom Bolschewismus infiziert war.» (16)

Der Verfasser kann eine gerade Linie von der im Gefolge der russischen Revolutionen, ihrer deutschen wie europäischen Nachwehen und der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Beginn einer «Front gegen den Bolschewismus» über den sich verschärfenden Zug zu Gewalt und Ausrottungspolitik in diesem Krieg, den Versklavungsbemühungen bis hin zum komplizierten Prozess der Befreiung 1944/45 und schließlich und makaber bis zur «gelöschten Erinnerung» im Schlusskapitel ziehen.

Die Fakten überwältigen ebenso wie Zeitzeugenberichte. Sie ordnen das gezielte und planmäßige Töten der SS-Einsatzkommandos, die mörderische Umsetzung des Kommissarbefehls durch die Wehrmacht, Misshandlungen und Verhungernlassen der Kriegsgefangenen und die geplante - zunächst in Leningrad verwirklichte Ausrottung - zumindest der sowjetischen Stadtbevölkerung als potentiellen Trägern der Sowjetmacht ein.

Diese Fülle von Fakten, das schonungslose Beschreiben des Grauens eines Vernichtungskrieges verlieren allerdings an Schärfe oder richtiger an Stoßkraft, wenn der Autor immer wieder versucht, einen untrennbaren Zusammenhang von Antibolschewismus und massenmörderischem Antisemitismus herzustellen, ohne deren Wechselwirkung und die Dominanz des Antikommunismus ausreichend zu würdigen. Schon eingangs schreibt er von «zwei großen Obsessionen», die «das Denken und Handeln Adolf Hitlers» bestimmten: Der Bolschewismus und das Judentum. «In seinen Augen stellte der Bolschewismus nichts anderes als den heimtückischen Versuch der Juden dar, mit Hilfe der von ihnen geschaffenen marxistischen Ideologie und des von ihnen gelenkten Kremls Deutschland und ganz Europa zu erobern.» (13) Genau hier gerät seine Analyse ins Mystifizierende. Geht es denn um Wahnvorstellungen eines Hitlers und seiner Kumpanen? Vollkommen berechtigt sieht Hellbeck die aktive Rolle von Juden im Entstehen einer mehr oder auch weniger radikalen linken, prosozialistischen Bewegung. Ein Linksschwenk einer ethnischen und religiös definierten, oft genug fremddefinierten Gruppe, die begriff, dass der harte Weg ihrer Emanzipation, wie er mit der Französischen Revolution, auch den Stein-Hardenbergschen Reformen begann, nicht die erhoffte Gleichberechtigung gebracht hatte. Für viele dieser Juden, egal, ob weltlich, assimiliert oder mittlerweile in einer eigenen nationalistischen, d.h, zionistischen Weise engagiert, war klar, dass nur ein Zerbrechen der noch feudalen, vor allem aber kapitalistischen Strukturen die Chance bot, ihre Emanzipation einzubinden in die Emanzipation der unterdrückten proletarischen Massen.

Im Kern entlastet die Zuordnung dieses antibolschewistisch=antijüdischen Ansatzes die «normale» kapitalistische Gesellschaft, betont die tiefe Verwurzelung von antisemitischen Erzählungen, Vorurteilen und hebt den Kern des Antibolschewismus dieser Gesellschaft und vor allem ihrer Eliten davon ab. Denn bolschewistisches Denken – und seit 1917 vor allem Handeln – bedrohten die Grundfesten der kapitalistischen Ordnung: Die Verfügung über Kapital und Staatsmacht. Darum war den deutschen Eliten schon im vorrevolutionären Kaiserreich im Kampf gegen die Sozialdemokratie und erst recht nach 1917 im Kampf gegen Sowjetrussland und ihre internationalistische kommunistische Vorhut eines zentral: Radikale Linke waren eine tödliche Bedrohung der Macht und des kapitalistischen Eigentums. Sie sind rücksichtlos, auch mit Mord und Bürgerkrieg selbst im «zivilisierten» Deutschland der Weimarer Republik zu bekämpfen. Dass das antisemitische «Argument» diesen Kampf auch ideologisch verfeinern konnte, umso besser. Alte Vorurteile und knallharte Interessen des Kapitals werden so wundersam von ihrer materiellen, machtpolitischen Grundlage abgetrennt. Genau diesen Schwenk vollzieht Hellbeck in seiner Analyse mit. Die Auseinandersetzung mit antibolschewistischen und Weltherrschafts-Ansprüchen der deutschen Eliten, des deutschen Großkapitalis gerät in den Hintergrund.

Gleichzeitig verkürzt diese Analyse auch den Blick auf den militanten und mörderischen Antikommunismus besonders des 20. Jahrhundert. Obwohl nationalistische wie rassistische Argumente immer zur Rechtfertigung herhalten mussten: Wenn dem Kapital keine andere Lösung einfiel, dann waren Bürgerkrieg, justiziabler wie extralegaler Mord und Massenmord stets das probate Mittel. In Korea, Vietnam, Indonesien, Chile gegen Kommunisten und vermeintliche Kommunisten, in Algerien, Südafrika, Kenia und immer wieder im Nahen Osten gegen «Terroristen», die Unabhängigkeit, Menschenrechte, Freiheit einforderten und denen bürgerliche Demokratien mit ihren Sicherheitskräften den Garaus machten und machen.

Diese Einschränkung zu Hellbeck muss gemacht werden, zumal dieser Akzent Interviews und Rezensionen durchzieht und vom Kernproblem ablenkt, dem der Autor sich wahrlich bewusst ist: «Wenn sie in Häuser eindrangen, lautete die erste Frage der Soldaten an die verängstigten Bewohner: 'Jude? Kommunist?' Wer in eine oder beide Kategorien zu passen schien, wurde abgeführt und hingerichtet. Die deutschen Soldaten im Osten rechtfertigten ihr Vorgehen damit, dass es ihre Aufgabe sei, die kommunistische Ordnung der Sowjetunion zu beseitigen.» (14) Konsequenterweise richtete sich ihr Vernichtungskrieg auch (und man mag ohne Übertreibung sagen: vor allem) gegen die nicht-jüdischen Sowjetbürger. Die «Ironie» dieser Vernichtungspolitik gegen Kommunisten, Juden, Sowjetfunktionäre und einfache Sowjetbürger benennt er auch – und sie zeigt die Fragwürdigkeit damaliger wie heutiger Lesarten stalinistischer Repression: «Viele Menschen in den besetzten Gebieten entwickelten zum ersten Mal eine sowjetische Identität, und das Bewusstsein für den gemeinsamen Kampf wuchs.» (19) Der wachsende Erfolg der Roten Armee und einer meist kommunistisch geführten Partisanenbewegung in der Ukraine, in Belorussland oder im Baltikum untermauerte diese neue Identität, die nur danach fragte, wie dem mordenden Faschismus das Haupt abgeschlagen werden konnte.

Hellbeck arbeitet unzweideutig das Hauptproblem der Auseinandersetzung des Westens mit der Sowjetunion, auch mit den jüdischen wie nicht-jüdischen Opfern des Faschismus, heraus: Den «eigenen Antikommunismus» (83), der das sowjetische Regime eher als Täter, denn als Opfer betrachtet. Insofern ist eine Episode bemerkenswert, die angesichts des pauschal unterstellten Antisemitismus der stalinistischen Sowjetunion überraschen mag. Der Prozess in Nürnberg 1945/46 war von den sowjetischen Vertretern auch als Anklage gegen den Judenmord forciert worden, die bei den westlichen Klägern nur eine nachgeordnete Rolle spielte. Die sowjetische Seite erschütterte den Gerichtssaal mit einem Film über diesen Mord. Aber nur zwei Wochen später sorgte Churchills Fulton-Rede dafür, dass im nun vorangetriebenen Kalten Krieg sowjetische Opfer nicht mehr erwähnenswert waren, egal, welchen ethnischen oder religiösen Hintergrund sie hatten. Und der Autor betont, dass sich diese Position des Kalten Kriegs in den aktuellen Kontroversen um den Ukrainekrieg wiederholt und vertieft. Er fragt, was es «für eine Geschichte (ist), wenn sie die entscheidende Rolle der Sowjetunion zum Sieg über den Nationalsozialismus auslöscht?» Seine Antwort ist eindeutig: «Wenn Europa sich weiterhin universellen Werten verpflichtet sieht, muss es in seinem historischen Gedächtnis Raum geben für die unvorstellbar vielen sowjetischen Opfer des Krieges und ebenso für den sowjetischen Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus.» (517)

Jochen Hellbeck: Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision. [Übersetzung Karin Hielscher] S. Fischer Verlag. Frankfurt/M. 2025, [engl. World Enemy No. 1: Nazi Germany, Soviet Russia, and the Fate of the Jews], 688 S. Hardcover, 36 Euro

 

Erstpublikation in Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung 142 (2025), S. 206-210.
 


[1] Siehe Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. Frankfurt/M. 2012.

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