
«Im Jahr 2025 muss die G7 ihre Unterstützung für den Multilateralismus bekräftigen und die auf Regeln basierende internationale Ordnung stärken, die eine echte Zusammenarbeit mit Verbündeten erfordert, während sie gleichzeitig denjenigen entgegentritt, die versuchen, die Menschenrechte zu missbrauchen und die Freiheiten zu beschneiden.» Dies betonte die Civil7 im Vorfeld des G7-Gipfels 2025 in Kananaskis, Kanada. Civil7 ist ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich klar zur regelbasierten internationalen Ordnung bekennen.
Canan Kus hat Ostasienwissenschaften studiert und arbeitet im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beijing. Ihre Themenschwerpunkte sind Internationale Ordnung und Multipolarismus.
Multilateralismus ist ein Lieblingswort in westlichen Gipfelerklärungen. Man kann sich darauf verlassen, es in fast allen Dokumenten der G7, der NATO oder der Europäischen Union zu finden – als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Papiere wie diese, in denen eine alte Ordnung sich selbst zu bestätigen scheint, stehen mittlerweile aber einer Realität gegenüber, die mit diesem Begriff kaum noch etwas anfangen kann. Immer mehr Stimmen aus dem globalen Süden sprechen stattdessen von Multipolarität: einer Ordnung mit mehreren Machtzentren und vielfältigen Entwicklungspfaden, die dem Anspruch gerecht wird, geopolitische Räume dem Westen nicht länger exklusiv zu überlassen. Dabei geht es um mehr als einen sprachlichen Unterschied. Während im globalen Norden auf Integration in bestehende Institutionen gehofft und gesetzt wird, sind andernorts bereits neue Allianzen und neue internationale Formate entstanden. Der Multipolarismus ist ein Phänomen, die keine Opposition sein will, sondern die Pluralität der Welt abbildet und von ihrem Recht Gebrauch macht, eigene Modelle, Interessen und Wege zu verfolgen. Dass der globale Norden unbeirrt am Multilateralismus festhält, während der globale Süden von Multipolarität spricht, offenbart kein semantisches Missverständnis, sondern bildet ein strukturelles Machtverhältnis ab. Institutionen wie die Vereinen Nationen klammern sich an den Begriff, als wäre er ein letzter Anker, um die eigene Stabilität zu bewahren. Multipolarität hingegen bleibt in vielen diplomatischen Foren das, was lieber nicht ausgesprochen wird. Der Begriff passt nicht zu einer Ordnung, die sich weiterhin als universell versteht, obwohl ihre Grundlagen längst ins Rutschen geraten sind.
Globale Neuverhandlungen in einer Welt ohne feste Sitzordnung
In einer Zeit, in der sich die weltpolitischen Verhältnisse mit der Wucht tektonischer Verschiebungen neu ordnen, ist es ein fataler Fehler des Nordens, weiter in Hybris zu verharren und zu glauben, dass alles beim Alten bleibt. Gerade Zusammenschlüsse wie die BRICS, aber auch QUAD, also dem quatrialteralen Sicherheitsdialog einem Zusammenschluss aus USA, Australien, Indien und Japan zeigen, dass wir uns in einem Wandel befinden. Diese neu gebildeten Allianzen sorgen dafür, dass der globale Süden eine eigene Sprecherposition erhält. Immer mehr Länder pochen auf ihre eigene ökonomische und politische Souveränität und verweigern sich der Logik, sich einem Block zu- und unterzuordnen. Stattdessen setzen sie auf eine plurale Ordnung, in der mehrere Entwicklungspfade zeitgleich existieren und genutzt werden können – abhängig von eigenen Interessen, regionalen Abkommen und globalen Allianzen. Im Kontext des Zeitgeschehens gewinnt eine solche Flexibilität zunehmend an Bedeutung: Nicht als Gegenblock zum Westen (dafür ist der Westen nicht mehr wichtig genug), sondern als emanzipatorische Plattform, auf der Länder des globalen Südens selbstbestimmt kooperieren können. Und genau das macht Multipolarität so attraktiv. Multipolarität verschiebt nicht nur ideelle Machtverhältnisse, sondern auch die materiellen Grundlagen geopolitischer Gestaltungsmöglichkeiten. Sie eröffnet wirtschaftliche Handlungsspielräume jenseits des westlich dominierten Akkumulationsregimes und bricht mit der Logik der strukturellen Abhängigkeit, die bis heute die kolonialen Wertschöpfungsketten reproduzieren. Die Attraktivität dieser Bündnisse liegt gerade darin, dass auf Gleichwertigkeit und gemeinsame Weiterentwicklung gesetzt wird. Statt sich einem hegemonialen System zu unterwerfen, entstehen hier neue Werkzeuge wie zum Beispiel Währungssysteme, die eine gerechtere, dezentralere Weltwirtschaft ermöglichen, getragen von Staaten, die sich für eine eigenständige, postkoloniale Zukunft entscheiden.
Multilateralismus – Der Traum von Gleichwertigkeit?
Der Ursprung des Wortes «lateral» aus dem Lateinischen lateralis für «seitlich» beinhaltet – im Unterschied zu «vertikal» oder «linear» – schon im Kern die Annahme, dass Beziehungen im internationalen Raum auf gleicher Höhe stattfinden, also auf einer gewissen Art von Gleichwertigkeit beruhen. Es bezieht sich auf eine Ordnung, in der niemand bestimmt, sondern alle Seiten gleichermaßen den Raum gestalten können. In der westlichen Diplomatie wurde daraus nach 1945 der Begriff Multilateralismus als Antwort auf die Krisen der Zwischenkriegszeit und als Fundament für eine neue regelbasierte Weltordnung. Gemeint war ein internationales Beziehungsgeflecht zwischen Staaten, das auf gegenseitiger Abstimmung, Kooperation und vermeintlicher Gleichheit beruht. Nach 1945 diente der Begriff zunehmend der Legitimation westlicher Dominanz, und multilaterale Beziehung wurden zu einem Maß, an denen die internationale Ordnung gemessen wurde. In Bretton Woods, bei der Gründung der Vereinten Nation und später auch bei der NATO stand der Multilateralismus ein Versprechen: ein System zu sein, dass alle einschließt und in dem mit jedem diskutiert wird, solange sich an «die Regeln» gehalten wird. Dieses System war von Anfang an strukturell asymmetrisch, weil es nicht etabliert wurde, um Gleichheit zu schaffen, sondern um die geopolitische und ökonomische Macht des Westens aufrechtzuerhalten.
Der Globale Norden steht zögernd an der Schwelle zum Multipolarismus. Der Globale Süden hat den Schritt schon längst gemacht.
In den vergangenen Jahrzehnten waren es die USA, die sinnbildlich für die Durchsetzung eines neoliberalen Weltbilds standen: freier Handel, Deregulierung und westliche Dominanz. Mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs und davor auch nur durch den Irakkrieg hat sich der rhetorische Fokus des globalen Nordens verschoben, weg von einem Marktliberalismus hin zu einer vermeintlich wertebasierten Ordnung, in der Demokratie, Freiheit und Menschenrechte ins Feld geführt werden, zumeist aber selektiv, selten selbstkritisch und immer im Rahmen westlicher Interessen gehandelt wird. Dieses Modell erscheint dem globalen Norden alternativlos. Doch in jüngster Zeit zeichnet sich mehr und mehr ab, dass ebendiese Ordnung ins Wanken geraten ist. Mit der sogenannten Zeitenwende meldeten sich neue Stimmen zu Wort, die den Anspruch erheben, die Regeln der internationalen Ordnung mitzugestalten. Die Regeln des Multilateralismus werden im Norden beschlossen, in Brüssel, Washington und Paris. Der Süden muss sich anpassen. Und ist herzlich eingeladen mitzuspielen. In einer solchen Konstellation ist von «lateralis», also dem seitlichen, gleichrangigen Nebeneinander, kaum etwas übrig gebleiben. Was als Multilateralismus verkauft wird, ist weniger Ausdruck von Gleichwertigkeit als vielmehr die Verschleierung bestehender Machtverhältnisse. Das ist schon daran zu erkennen, wie selbstverständlich sich dieses System als überparteilich und universell inszeniert, denn wer es wagt zu widersprechen, sucht nicht den Austausch auf Augenhöhe, sondern stellt gleich die gesamte «regelbasierte internationale Ordnung» in Frage.
Es ist also wenig überraschend, wie hartnäckig der globale Norden an diesem Modell festhält. Nicht nur ideologisch, sondern auch emotional und strukturell. Das Loslassen fällt schwer, weil es bedeuten würde, Kontrolle abzugeben, die normative Bedeutungshoheiten zu verlieren und ganz wahrscheinlich sogar die Frage der Schuld angehen zu müssen. Stattdessen bleibt man lieber in der eigenen Echokammer: Gipfeltreffen, Strategiepapiere, innereuropäische Staatsbesuche. Der Westen spricht mit sich selbst. Was wie Prinzipientreue aussieht, ist eigentlich nur Hybris. Wir sehen einen Akteur, der sich weigert, ein Akteur unter vielen zu sein. Vielleicht spricht daraus auch eine gewisse Form der Angst. Dass Macht nicht nur verschoben, sondern verloren gehen könnte. Dass der globale Süden nicht bloß Partner, sondern Akteur werden könnte, mit eigenen Forderungen, verhandlungsfähig und mit eigener Gestaltungsmacht ausgestattet. In einer solchen Situation ist das Verharren im Multilateralismus nicht nur ein politischer Reflex, sondern auch eine aktive Verweigerung. Der Globale Norden steht zögernd an der Schwelle zum Multipolarismus – der Globale Süden hat den Schritt schon längst gemacht.
Gastgeber ohne Gäste
Europa und nicht zuletzt die USA wollen weiterhin Gastgeber und Wortführer sein. Doch sie schließen sich in ihrem eigenen Haus ein, polieren die Regeln auf Hochglanz und wundern sich, dass derweil draußen neue Vereinbarungen getroffen werden.
Die Wirklichkeit hat sich seit Längerem von der linearen Vorstellung entkoppelt, dass Länder Seite an Seite, also eben lateral, zueinander stehen. Zugleich wäre es zu kurz gegriffen, den Multilateralismus einfach als veraltete Version abzutun und den Multipolarismus als bloßes Update desselben Systems zu verstehen. Nein, der Multipolarismus ist ein Bruch mit der gegenwärtigen Ordnung. Die Welt ist schneller und chaotischer geworden, aber genau darin liegt auch ihre emanzipatorische Kraft. Multipolarität bedeutet nicht, dass alle gleichermaßen stark sind oder friedlich miteinander umgehen. Viel eher bedeutet es, dass neue Zentren entstehen, neue Allianzen ausprobiert und dass internationale Plattformen nicht von westlichen Interessen dominiert werden. Was früher unter multilateralen Vorgaben in eine bestimmte Schublade gesteckt und kleingerechnet wurde, zirkuliert nun freier, aber auch widersprüchlicher. Wir befinden uns in einer harten Aushandlungsphase. Wenn der Multilateralismus ein runder Tisch mit fester Sitzordnung und Tagesordnung ist, dann ist Multipolarität ein lauter und chaotischer Marktplatz, auf dem gesucht, gefeilscht und dargeboten wird. Und dort finden die Verhandlungen eben nicht Seite an Seite statt, sondern kreuz und quer. Und manchmal auch mehrere zur selben Zeit.
Man darf den Multipolarismus nicht als fertiges Modell verstehen, sondern als einen Aushandlungsprozess.
Diese Unübersichtlichkeit ist unbequem, besonders für diejenigen, die bislang daran gewöhnt waren, den Takt vorzugeben. Doch für viele Staaten des globalen Südens birgt diese Unübersichtlichkeit neue Chancen. Sie eröffnet Räume, in denen alternative Vorstellungen von Entwicklung, Sicherheit und Souveränität artikuliert werden können – jenseits eines liberalen Mainstreams. Viele Länder des globalen Südens hören auf, die ihnen zugewiesene Rolle des eingeladenen Gasts zu spielen, und definieren selbst, unter welchen Bedingungen und mit wem sie kooperieren wollen. In diesen neuen Zusammenschlüssen, alternativen Finanzarchitekturen oder sicherheitspolitischen Dialogen artikuliert sich ein wachsender Anspruch auf Selbstbestimmung jenseits der bisherigen Abhängigkeit vom globalen Norden. Emanzipation zeigt sich dabei nicht nur in Symbolen, sondern in Entscheidungen, eigenen Infrastrukturen, alternativen Entwicklungspfaden und einem eigenen Begriff von Souveränität. Diese Entwicklungen sind weder kohärent noch konfliktfrei und gerade deshalb politisch bedeutsam. Denn sie sind plural, fragmentiert und auch streitbar, aber trotzdem wirksam. Multipolarität ist kein fertiges Modell, sondern ein Aushandlungsprozess. Sie ist noch nicht der angestrebte Zustand globaler Gerechtigkeit, denn auch im Multipolarismus gibt es Momente, in denen alte Machtstrukturen reproduziert werden. Zurzeit gerät aber etwas in Bewegung. Es ist eine Zwischenzeit mit Streit um neue Ordnungen. Das erste Mal seit Brettons Woods ist wieder wirklich offen, wer mit wem, mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen die Welt gestalten darf.
Multipolarimus ist als heiße Phase globaler Reorganisation zu verstehen. Unbequem und widersprüchlich, aber voll von emanzipatorischem Potenzial.