
Wir leben in einer kapitalistischen Weltwirtschaft, in der die Produktion überwiegend vom Kapital kontrolliert wird, das heißt, von großen Finanzunternehmen, Großkonzernen und dem einen Prozent, das den Großteil der investierbaren Vermögenswerte besitzt. Für das Kapital besteht der Zweck der Produktion ausdrücklich nicht darin, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen oder sozialen Fortschritt zu ermöglichen. Sein Hauptzweck ist die Maximierung und Anhäufung von Profit. Das ist das übergeordnete Ziel.
Um einen Prozess der fortwährenden Akkumulation aufrechtzuerhalten, muss das Kapital eine ständig steigende Menge an Inputs zum niedrigstmöglichen Preis beschaffen, das heißt günstige Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen. Das Problem für das Kapital besteht jedoch darin, dass die Beschaffung dieser Inputs früher oder später zu gravierenden Widersprüchen führt. Während des Aufstiegs des Kapitalismus im Westen wurde immer deutlicher, dass die verschärfte Ausbeutung der heimischen Arbeiter*innenklasse revolutionäre Umtriebe hervorbringen konnte. Zugleich wurden durch die exzessive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes nach und nach die ökologischen Grundlagen der Produktion selbst zerstört. Das Kapital benötigte daher eine Art «Außenbereich» – einen Bereich außerhalb der eigenen Grenzen, in der es Arbeitskräfte und Natur ungestraft ausbeuten und soziale und ökologische Kosten externalisieren konnte.
Jason Hickel ist Professor am Institut für Umweltwissenschaften und -technologie der Autonomen Universität Barcelona und Autor mehrerer Bücher, darunter «The Divide: A Brief Guide to Global Inequality and its Solutions» (Die Kluft: Ein kurzer Leitfaden zu globaler Ungleichheit und ihren Lösungen) und «Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind».
Mit anderen Worten: Der Kapitalismus benötigt eine imperiale Ordnung, um die Akkumulation zu stabilisieren. Der Imperialismus ist somit ein strukturell notwendiges Merkmal des Kapitalismus. Auch rund 60 Jahre nach dem formellen Ende des Kolonialismus ist unser Weltgefüge weiterhin von einem grundlegenden Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd sowie der wirtschaftlichen Dominanz des Nordens über den Süden geprägt. Die Transformation dieser Ordnung stellt die zentrale politische Herausforderung unserer Zeit dar.
Koloniale und neokoloniale Herrschaft
Die globale Ungleichheit war während der Kolonialzeit besonders offensichtlich. Die Industrialisierung des Westens beruhte in hohem Maße auf der massiven Aneignung von Ressourcen aus den Kolonien sowie auf der Ausbeutung von Sklav*innen und Zwangsarbeiter*innen. Um dies zu erreichen, zerstörten die Kolonialmächte systematisch die lokale Industrie und richteten die Produktion im Globalen Süden neu aus. Statt der Deckung lokaler Bedürfnisse und der Förderung lokaler Entwicklung diente sie nun der Konsumsteigerung und Kapitalakkumulation im Globalen Norden. Dies war in der Tat das zentrale Ziel des Kolonialprojekts. Für diesen Prozess gibt es unzählige Beispiele. Im südlichen Afrika etwa wurden Subsistenzwirtschaften zerstört, sodass die Bevölkerung gezwungen war, ihren Lebensunterhalt in kolonialen Minen und Plantagen zu verdienen. In Indien zerstörte die britische Kolonialmacht die Textilindustrie des Landes, um es von britischen Importgütern abhängig zu machen.
Im 20. Jahrhundert regte sich starker Widerstand gegen die koloniale Herrschaft. Radikale antikoloniale Bewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika stürzten ihre jeweiligen Kolonialmächte und begannen umgehend damit, Strategien zur Erlangung wirtschaftlicher Souveränität zu verfolgen. Die meisten dieser Bewegungen folgten auf die eine oder andere Weise sozialistischen und kommunistischen Idealen. Diese lieferten einen Entwurf zur Rückgewinnung der Kontrolle über die Produktion im eigenen Land und zur Ausrichtung derselben an den Bedürfnissen der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Entwicklung. Die Bewegungen nutzten Landreformen, um Gebiete von ausländischen Unternehmen zurückzugewinnen, verstaatlichten wichtige Ressourcen wie Öl und Mineralien, setzten Subventionen und Schutzzölle ein, um ihre nationalen Industrien zu stärken, und betrieben planwirtschaftliche Politik, um öffentliche Dienstleistungen aufzubauen und industrielle Kapazitäten zu entwickeln.
Für jede Einheit Arbeit, die in den vom Süden aus dem Norden importierten Handelsgütern enthalten ist, müssen die Länder des Südens mindestens das Zehnfache exportieren, um die Kosten zu decken.
All dies war eine erhebliche Bedrohung für die Staaten des kapitalistischen Nordens, da es den Zugang zu billigen Arbeitskräften und Ressourcen gefährdete. Der Ausbau der wirtschaftlichen Souveränität im Süden führte dazu, dass die Länder zunehmend für den Eigenbedarf produzierten. Infolgedessen standen diese Ressourcen dem Norden nicht mehr zu niedrigen Preisen zur Verfügung. In der Folge stiegen die Preise für Rohstoffe, was das imperiale System destabilisierte und die Kapitalakkumulation im Norden zunehmend erschwerte.
Die Regierungen der Industrieländer standen am Scheideweg: Entweder sie akzeptierten die wirtschaftliche Souveränität des Südens, gaben die Kapitalakkumulation auf und stellten auf eine postkapitalistische Wirtschaft um – oder sie versuchten, die Kapitalakkumulation aufrechtzuerhalten, indem sie die imperiale Ordnung irgendwie wiederherstellten. Sie entschieden sich klar für Letzteres und griffen militärisch ein, um radikale Regierungen im Süden zu zerstören. Daneben setzten sie auf Organisationen wie IWF und Weltbank, um die Regierungen mittels Strukturanpassungsprogrammen zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen sowie zum Abbau von öffentlichen Leistungen, Zöllen, Subventionen und Arbeits- sowie Umweltschutzmaßnahmen zu zwingen. Auf diese Weise torpedierten sie die Politik der antikolonialen Ära.
Durch diese Strukturanpassungen wurde die imperiale Ordnung wiederhergestellt und der Globale Süden erneut als Lieferant billiger Rohstoffe und nun zudem als Produzent von Leichtindustriegütern in untergeordneten Positionen innerhalb der von Unternehmen aus dem Globalen Norden dominierten globalen Lieferketten etabliert. Strukturanpassungen waren es auch, die zu einem Rückgang der Löhne und Preise im Globalen Süden führten, unter anderem durch Währungsabwertungen. Unterdessen monopolisierte der Norden Technologie und Investitionsgüter und legte hohe Preise für diese fest.
Zu- und Abflüsse
Die Ergebnisse dieser Strukturanpassungen hatten schwerwiegende Auswirkungen auf den internationalen Handel, da Importe durch Exporte ausgeglichen werden müssen. Aufgrund systematischer Preisungleichheiten muss für jede Einheit an Arbeit und Ressourcen, die der Süden aus dem Norden importiert, ein Vielfaches mehr exportiert werden, um diese bezahlen zu können. Dies führt zu dem, was der ägyptische Ökonom Samir Amin als «versteckten Werttransfer» vom Süden in den Norden bezeichnet. Amin zufolge ist dieser Transfer «versteckt», da zwar eine ausgeglichene Handelsbilanz besteht, der Süden in Wirklichkeit jedoch einen Nettotransfer von realem Wert in den Norden leistet. Dies bereichert den Globalen Norden, entzieht der Peripherie jedoch die für ihre Entwicklung notwendigen Ressourcen. Ökonom*innen des Globalen Südens wie Amin bezeichnen dies als «ungleichen Tausch» und argumentieren, dass damit die imperialistische Ausbeutung der Peripherie auch ohne formale Kolonialherrschaft fortgesetzt wird.
Heute können wir diesen ungleichen Tausch anhand empirischer Daten unter Verwendung multiregionaler Input-Output-Modelle beobachten. Für jede Einheit Arbeit, die in den vom Süden aus dem Norden importierten Handelsgütern enthalten ist, müssen die Länder des Südens mindestens das Zehnfache exportieren, um die Kosten zu decken. Dies liegt jedoch nicht in erster Linie daran, dass die Arbeitskraft im Süden weniger produktiv ist. Im Gegenteil, die Arbeitskraft in den Exportindustrien des Südens ist in der Regel hochproduktiv. Vielmehr ist es darauf zurückzuführen, dass die Löhne im Süden im Vergleich zu denen im Norden niedrig sind. Arbeiter*innen im Süden verdienen für Arbeit derselben Qualifikationsstufe in derselben Branche etwa 90 Prozent weniger als ihre Kolleg*innen im Norden. Tatsächlich sind die Ungleichheiten so extrem, dass hochqualifizierte Arbeitskräfte im Globalen Süden, wie Ingenieur*innen und Wissenschaftler*innen, 68 Prozent weniger verdienen als geringqualifizierte Arbeitskräfte im Globalen Norden. Ähnliche systematische Handelsungleichgewichte sehen wir auch in Bezug auf Materialien, Land und Energie, die für die Produktion von Handelsgütern eingesetzt werden.
Der ungleiche Tausch führt zu massiven Netto-Transfers vom Süden in den Norden. Im letzten Jahr, für das Daten vorliegen, lässt sich feststellen:
- Ein Nettoabfluss von 12 Milliarden Tonnen enthaltener Materialien und 21 Exajoule aufgewendeter Energie von Süden nach Norden. Jüngsten Untersuchungen zufolge würde diese Menge an Materialien und Energie ausreichen, um die gesamte Bevölkerung des Globalen Südens mit Infrastruktur und Gütern für einen angemessenen Lebensstandard zu versorgen – universelle Gesundheitsversorgung, Bildung, moderner Wohnraum, sanitäre Einrichtungen, Strom, Heizung und Kühlung, Induktionsherde, Kühlschränke, Gefrierschränke, Waschmaschinen, öffentliche Verkehrsmittel, Computer und Mobiltelefone. Stattdessen wird sie jedoch für die Akkumulation und den Konsum im Globalen Norden abgeschöpft.
- Ein Nettoabfluss von 820 Millionen Hektar Land – doppelt so groß wie Indien. Dieses Land könnte genutzt werden, um bis zu 6 Milliarden Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Stattdessen wird es für die Produktion von Gütern genutzt, die im Norden konsumiert werden, wie Zucker für Coca-Cola und Rindfleisch für McDonald's.
- Ein Nettoabfluss von 826 Milliarden Stunden geleisteter Arbeit – mehr als die gesamte jährliche Arbeitsleistung aller Arbeitskräfte in den USA und der EU zusammen. Diese Arbeit könnte genutzt werden, um Krankenhäuser und Schulen im Globalen Süden zu betreiben oder Lebensmittel und Güter für den lokalen Bedarf zu produzieren. Stattdessen wird sie jedoch für die Massenproduktion von technischen Gadgets und Fast Fashion für Unternehmen im Norden verwendet.
Eine aufholende Entwicklung kann nicht innerhalb eines Systems stattfinden, das auf imperialistischer Aneignung und Nettoströmen vom Süden in den Norden basiert.
Diese Zahlen deuten darauf hin, dass der hohe Konsum und das starke Wachstum in den Industrieländern heute ebenso wie während der Kolonialzeit in hohem Maße auf Aneignungen aus dem Süden beruhen. Bei Rohstoffen und Arbeitskräften entfällt etwa die Hälfte des gesamten Verbrauchs in den Industrieländern auf Netto-Aneignung aus dem Globalen Süden. Der Norden profitiert darüber hinaus vom zusätzlichen Konsum, während die sozialen und ökologischen Kosten effektiv auf den Globalen Süden ausgelagert werden. Der Schaden entsteht nicht in England oder Finnland, sondern im Kongo, in Indonesien oder Brasilien.
Die Daten zum ungleichen Tausch helfen uns darüber hinaus, die anhaltende Ungleichheit zwischen Globalem Norden und Süden in der Weltwirtschaft zu verstehen. Die gängige Entwicklungserzählung besagt, dass der Globale Süden mit genügend Zeit den Globalen Norden allmählich «einholen» wird. Doch ein solcher Aufholprozess findet nicht statt. Tatsächlich wird die Einkommenskluft von Jahr zu Jahr größer. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Eine Aufholentwicklung kann nicht innerhalb eines Systems stattfinden, das auf imperialistischer Aneignung und Nettoströmen vom Süden in den Norden basiert.
Schließlich helfen uns diese Daten, die anhaltende Massenarmut und Unterentwicklung im Globalen Süden zu verstehen. Der Süden ist nicht deshalb verarmt, weil er «von Natur aus arm» ist, sondern weil seine Einkommen gedrückt und seine Produktionskapazitäten zur Unterstützung der Entwicklung im Norden ausgeschöpft werden.
Das chinesische Modell
Der ungleiche Tausch betrifft auch China, das die dynamischste und am schnellsten wachsende Volkswirtschaft im Globalen Süden, wenn nicht sogar weltweit, ist. Obwohl China seit kurzem Nettoimporteur von Land ist, hat es in der Vergangenheit einen erheblichen Nettoabfluss von Rohstoffen, Energie und Arbeitskraft in die Länder des Nordens verzeichnet. Noch heute macht der Abfluss aus China etwa 20 Prozent der gesamten Aneignung des Nordens aus dem Globalen Süden aus.
Allerdings hat sich das Tauschverhältnis des Landes mit dem Globalen Norden im Laufe der Zeit verbessert. In den 1990er Jahren lag es im Durchschnitt bei 34:1. Mit anderen Worten: Für jede Einheit an Arbeit, Materialien, Land oder Energie, die China aus dem Globalen Norden importierte, musste es 34 Einheiten exportieren, um diese zu bezahlen. Im Jahr 2015 war dieses Verhältnis auf 4:1 gesunken.
Diese Entwicklung ist vor allem auf Lohn- und Preissteigerungen im Land zurückzuführen. Für China – und insbesondere für die chinesischen Arbeitskräfte – sind dies positive Veränderungen. Für das westliche Kapital stellen sie jedoch ein sehr ernstes Problem dar, da höhere Preise in China die Fähigkeit des Globalen Nordens zur Wertaneignung bremsen und damit die Gewinne des Nordens verringern. Das ist einer der Gründe, warum die Länder des Globalen Nordens nun mit aller Kraft versuchen, die Löhne in China zu drücken und sich den Zugang zu billigen Arbeitskräften nicht nehmen zu lassen. Das ist auch das Ziel von Trumps Zöllen: Er will die Länder zu Zugeständnissen zwingen, indem er die Exportpreise senkt.
Die zweite Stufe der Dekolonisierung
Welche Maßnahmen sind demnach zu ergreifen? Die Regierungen im Süden müssen Wege finden, um ihre Länder aus den imperialen Fesseln zu befreien und die zweite Stufe der Entkolonialisierung zu vollziehen. Dazu gehört, die Kontrolle über die nationalen Produktionskapazitäten zurückzugewinnen und diese neu zu organisieren, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken und die nationale Entwicklung voranzutreiben.
Man darf nicht vergessen, dass der Süden nicht arm, sondern ganz im Gegenteil, reich ist. Er verfügt über riesige Flächen fruchtbaren Landes, reichlich Arbeitskräfte, außergewöhnliche Ressourcen und große Produktionskapazitäten. Das Problem ist jedoch, dass die Länder des Globalen Südens keine souveräne Kontrolle über ihre Kapazitäten haben. Wie kann eine solche Kontrolle hergestellt werden? Sie müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Abhängigkeit von Importen aus den Ländern des Globalen Nordens zu verringern und somit die Belastung durch ungleichen Tausch zu reduzieren. Zudem muss eine Industriepolitik die Entwicklung souveräner industrieller Kapazitäten vorantreiben und eine öffentliche Finanz- und Kreditpolitik das Ziel verfolgen, Arbeitskräfte und Produktion für die nationale Entwicklung, statt für ausländisches Kapital zu einzusetzen.
Der Befreiungskampf des Südens ist heute die entscheidende Triebkraft für eine weltgeschichtliche Transformation.
China zeigt, wie es gehen kann, auch wenn noch Verbesserungspotenzial besteht. Derzeit verzeichnet das Land einen Nettoabfluss von 100 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr. Dieser lässt sich beheben, indem unnötige Importe aus den Industrieländern reduziert werden, beispielsweise Luxusgüter und Waren, die durch heimische Produktion ersetzt werden können. Dadurch würde der Exportdruck sinken und die zur Verfügung stehenden Arbeitsstunden könnten für soziale Reproduktion, ökologische Regeneration und menschliche Entwicklung genutzt werden. Zudem kann China eine wichtige Rolle dabei spielen, den übrigen Globalen Süden zu unterstützen. Indem es eine alternative Quelle für Finanzmittel, Technologien und Investitionsgüter bereitstellt, könnte es den Ländern des Südens dabei helfen, ihre Importabhängigkeit vom Norden zu verringern und eine eigene industrielle Basis aufzubauen.
Wir befinden uns an einem Wendepunkt der Geschichte. Die bestehenden Verhältnisse funktionieren für die große Mehrheit der Weltbevölkerung nicht. Die kapitalistische Weltwirtschaft ist nicht in der Lage, eine sinnvolle Entwicklung in den Ländern der Peripherie zu gewährleisten. Dieses System muss überwunden werden, und der Befreiungskampf des Südens ist heute die entscheidende Triebkraft für eine weltgeschichtliche Transformation.
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, der auf dem Symposium «Socialist Perspectives on Global Governance in a Multipolar World», veranstaltet von der Fudan University School of Marxism und dem Pekinger Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung im April 2025, gehalten wurde.
Übersetzung von Camilla Elle und Conny Gritzner für Gegensatz Translation Collective.