Kommentar | Rosalux International - Krieg / Frieden - Israel - Krieg in Israel/Palästina Israels «Drecksarbeit» und die deutsche Staatsräson

Hanno Hauenstein über Merz, Gaza und den ausbleibenden Paradigmenwechsel in der Israelpolitik

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Tausende hungernder Palästinenser*innen in Gaza strömen zum Hilfszentrum, das von der von den USA und Israel geführten Gaza Humanitarian Relief Foundation an der Küstenstraße im Gebiet Sudaniya eingerichtet wurde, um Lebensmittelpakete zu erhalten.
Berlin sendet ein klares Signal an die Welt: Systematische Gewalt von historischem Ausmaß kann komplett folgenlos bleiben, solange nur die Bündnisse stimmen. Gaza, 17. Juni 2025: Tausende Palästinenser*innen strömen zum Hilfszentrum, das von der von den USA und Israel geführten Gaza Humanitarian Relief Foundation an der Küstenstraße im Gebiet Sudaniya eingerichtet wurde, um Lebensmittelpakete zu erhalten., Foto: IMAGO / ABACAPRESS

Friedrich Merz bezeichnete Israels jüngsten Krieg gegen Iran als einen Dienst an der westlichen Welt. Während Israel in Gaza einen Völkermord begeht, hält Deutschland trotz zaghafter Kritik an seiner Unterstützung fest – und riskiert damit die Nachkriegsordnung.

Am 14. Oktober 2024 verbrannte der 20-jährige Palästinenser Shaaban al-Dalou in einem Krankenbett in Gaza infolge eines israelischen Angriffs auf das Al-Aqsa Krankenhaus in Deir al-Balah. Der Vorfall erfuhr aufgrund einer Videodokumentation international große Aufmerksamkeit. Vier Tage zuvor hatte die damalige Außenministerin Annalena Baerbock im Bundestag eine Rede zum Jahrestag des 7. Oktober gehalten, in der sie sagte: «Selbstverteidigung bedeutet natürlich, dass man Terroristen nicht nur angreift, sondern zerstört». Und: «Wenn Hamas-Terroristen sich hinter Menschen, hinter Schulen verschanzen, dann kommen wir in ganz schwierige Bereiche (…) dann können auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren – weil Terroristen diese missbrauchen. Dazu steht Deutschland, das bedeutet für uns Sicherheit Israels».

Hanno Hauenstein studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Tel Aviv und Berlin. Als freier Journalist schreibt er u. a. für den Guardian, The Intercept, Zeit Online, Haaretz oder die taz.

Beim jüngsten Besuch des israelischen Außenministers Gideon Saar in Berlin Anfang Juni 2025 bekräftigte der transatlantisch profilierte neue CDU-Außenminister Johann Wadephul die deutsche Unterstützung für Israel nochmal in aller Deutlichkeit. Israel habe, so Wadephul, «selbstverständlich das Recht, sich gegen die Hamas und andere Feinde zu verteidigen». Daraus folge auch, dass Deutschland Israel auch weiterhin mit Waffenlieferungen unterstützen werde – das habe «nie in Zweifel» gestanden.

Zugleich sprach sich Wadephul gegen die Anerkennung eines palästinensischen Staates aus. Das sende «das falsche Zeichen». Auch das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel – über dessen Prüfung und mögliche Aussetzung im Vorfeld des EU-Gipfels in Brüssel zuletzt abgestimmt worden war – solle unangetastet bleiben. Wer in den letzten Wochen gehofft hatte, Wadephuls vorsichtige Kritik am israelischen Vorgehen sei Ausdruck eines Umdenkens, wurde enttäuscht. Seine Aussagen mit Sa’ar revidierten sprichwörtlich alles, was er zuvor angedeutet hatte.

Widersprüchliche Aussagen, unveränderte Haltung

Dabei schien der deutsche Konsens gegenüber Israel in den Wochen zuvor tatsächlich zu bröckeln. So sagte Wadephul etwa im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, es sei fraglich, ob das israelische Vorgehen in Gaza noch «mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen ist». Er kündigte zudem an, Waffenexporte an Israel unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen. Und Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte bei der Re:publica Ende Mai, die strategischen Ziele der israelischen Kriegsführung seien für ihn nun nicht mehr klar erkennbar.

Beide Aussagen stehen im Widerspruch zu anderen Äußerungen beider Politiker. So zeigte Wadephul noch während seiner Israel-Reise Anfang Mai Verständnis für die Blockade von Hilfsgütern – ein Kriegsverbrechen Israels. Zur Begründung verwies er auf die Behauptung, dass die Hamas diese Güter missbrauche – ein Narrativ, das von Israel verbreitet wird, bislang jedoch keiner ernsthaften Überprüfung standgehalten hat. 

Auch Merz tat sich unlängst durch völkerrechtlich bedenkliche Äußerungen hervor. Im Interview mit dem ZDF bezeichnete er den illegalen israelischen Angriff auf Iran als «Drecksarbeit», die Israel «für uns alle» übernehme. Merz äußerte «größten Respekt» gegenüber dem «Mut« der israelischen Armee und Staatsführung. Dass den israelischen Luftangriffen auf den Iran bereits Hunderte Zivilist*innen zum Opfer fielen und bei iranischen Gegenschlägen Dutzende Israelis getötet wurden, erwähnte Merz nicht.

Deutschland in der Sackgasse

Die Haltung der deutschen Regierung gegenüber Israel lässt sich vielleicht am besten als eine Art neuer Pragmatismus fassen: Sie hält völliges Schweigen und Kritiklosigkeit zu Israels Vorgehen in Gaza nicht mehr durch, weil es sich international nicht mehr vermitteln lässt – weigert sich aber zugleich, aus der sehr spät geäußerten Kritik konkrete Konsequenzen abzuleiten. Deutschland hat sich somit in eine Sackgasse manövriert. Der vielleicht deutlichste Ausdruck dessen ist die Klage Nicaraguas vor dem IGH. Deutschland wird dort der Beihilfe zum Völkermord in Gaza beschuldigt – und mit guten Gründen.

Dennoch bleibt die Frage, was den rhetorischen Sinneswandel erklärt? Eine naheliegende Deutung liegt in der zunehmenden Isolation Israels. Vertreter*innen der UN, zig Menschenrechtsorganisationen und mittlerweile auch konservative Medienstimmen wie der britische Moderator Piers Morgan, der Israel lange verteidigt hat, benennen zunehmend deutlicher, dass Israels Vorgehen in Gaza alle Anzeichen für Völkermord erfüllt.

Wer Menschenrechte nur da verteidigt, wo es nicht die eigenen Verbündeten trifft, untergräbt die regelbasierte Ordnung.

Vor diesem Hintergrund ist Deutschlands Glaubwürdigkeit längst beschädigt. Wer Menschenrechte nur dort verteidigt, wo es nicht die eigenen Verbündeten trifft, untergräbt die «regelbasierte Ordnung». Für autoritäre Regime von Ankara über Moskau bis Washington sendet Berlin seit anderthalb Jahren ein glasklares Signal: Systematische Gewalt von historischem Ausmaß kann komplett folgenlos bleiben, solange die Bündnisse stimmen.

Im Kontrast hierzu haben im letzten Jahr mehrere EU-Mitgliedsstaaten – darunter Spanien, Irland und Norwegen – Palästina als Staat anerkannt. Ein symbolischer Schritt, der Israels Expansionskurs direkt widerspricht. Merz scheint bemüht zu sein, diesen wachsenden diplomatischen Druck auf Israel zumindest rhetorisch aufzufangen und somit auch der eigenen Isolation Deutschlands entgegenzuwirken.

Staatsräson steht nicht über Völkerrecht

Über die deutsche Staatsräson ist in den letzten Jahren viel gesagt worden. Von ihren Ursprüngen in den 1950er Jahren – als Reintegrationsprojekt der jungen Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft – bis hin zu ihren vielleicht groteskesten Auswüchsen in den letzten anderthalb Jahren: der Definanzierung der Zivilgesellschaft in Israel und Palästina; der indirekten Stärkung rechtsextremer Kräfte wie der AfD; und – nicht zuletzt – der aktiven Beihilfe zu Völkermord. 

Die deutsche Staatsräson hat sich von moralischen oder erinnerungspolitischen Maßstäben weitestgehend entkoppelt. Sie dient heute nicht mehr der kritischen Vergegenwärtigung historischer Verantwortung – im Gegenteil: sie unterläuft sie.

Seit Angela Merkel 2008 in der Knesset erklärte, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson, wurde dieser Satz zunehmend zum außenpolitischen Dogma. Er prägte die deutsche Nahostpolitik sowie Teile der politischen Linken, deren bedingungslose Solidarität mit Israel bis heute nachwirkt – meist unabhängig von konkretem Regierungshandeln, geschweige denn Fakten. Merz ging in seiner Regierungserklärung am 24. Juni noch einen Schritt weiter als Merkel – und erklärte: «Unsere Staatsräson ist die Verteidigung des Staates Israel in seiner Existenz.»

Was aber bedeutet Staatsräson, wenn Israel ein von ihm besetztes Gebiet systematisch zerstört, Zehntausende Zivilist*innen tötet, über Monate Hilfslieferungen blockiert und Palästinenser*innen an Hilfsgüter-Verteilungsstellen gezielt erschießt? Was bedeutet sie, wenn führende Vertreter der israelischen Politik, des Militärs und der Medien offen zum Völkermord aufrufen? Wie hält es die Bundesregierung mit ihren völkerrechtlichen Verbindlichkeiten?

Die vergangenen zwei Jahre lassen einen schmerzhaft einfachen Schluss zu: Die deutsche Staatsräson hat sich von moralischen oder erinnerungspolitischen Maßstäben weitestgehend entkoppelt. Sie dient heute nicht mehr der kritischen Vergegenwärtigung historischer Verantwortung – im Gegenteil: sie unterläuft sie.

Europa muss handeln

In der Praxis bleibt Deutschlands Linie klar: Die Bundesregierung unterstützt Israels Militäreinsatz weiter mit Waffenlieferungen und diplomatischer Rückendeckung. Beim Treffen der EU-Außenminister Ende Mai sprach sich eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten dafür aus, das Assoziierungsabkommen mit Israel wegen Gaza zu prüfen und gegebenenfalls auszusetzen.

Tatsächlich könnte eine solche Aussetzung für Israel deutliche wirtschaftliche Konsequenzen haben. Es ist eines der stärksten politischen Instrumente, mit denen die EU auf Netanyahus Kurs reagieren könnte – sei es in Gaza oder im Westjordanland, wo Zwangsvertreibungen und Siedlungsneubauten in letzten Monaten so extrem zugenommen haben wie seit Jahrzehnten nicht. 

Allein die Debatte über eine mögliche Überprüfung des Abkommens sorgte in Israel für breite Aufmerksamkeit. 17 von 27 EU-Mitgliedstaaten – darunter Frankreich und Schweden – stimmten für eine Prüfung. Deutschland gehörte zu den wenigen Staaten, die explizit dagegen votierten. Dabei wäre Überprüfung lediglich ein erster Schritt – ein Signal, dass Aushungerung und staatlicher Massenmord nicht ohne Antwort bleiben.

Dass ausgerechnet Deutschland diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur nicht verhindert, sondern sie durch Waffenlieferungen, diplomatischen Rückhalt und Veto-Politik aktiv mit absichert, ist ein politisches und moralisches Versagen von historischem Ausmaß.

Einen anderen Weg wählte Großbritannien. Die britische Regierung belegte Ende Mai die zwei prominentesten Vertreter im Rechtsaußenflügel der Netanyahu-Regierung – Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich – mit Sanktionen. In der Begründung hieß es, beide hätten «wiederholt zur Gewalt gegen palästinensische Communities aufgerufen». Ein grober Euphemismus: Denn beide Minister haben wiederholt offen – direkt oder indirekt – zu Vertreibung beziehungsweise Vernichtung von Palästinenser*innen aufgerufen. 

Die Sanktionen ziehen Einreiseverbote und das Einfrieren möglicher Vermögenswerte in Großbritannien nach sich. Sie sind Teil einer Initiative, zu der auch Australien, Kanada, Norwegen und Neuseeland gehören. In Deutschland hingegen wird über derartige Schritte weder politisch noch medial ernsthaft debattiert.

Erzählungen halten dem Abgrund in Gaza nicht stand

Dass vereinzelte CDU-Politiker zeitweise auf Distanz zum israelischen Vorgehen gehen, deutet vor diesem Hintergrund weniger auf einen außenpolitischen Kurswechsel, als vielmehr auf eine verschobene Diskurslage. Die bisherigen Narrative halten dem Abgrund in Gaza nicht mehr stand. Das hat auch mit den Bildern zu tun: ausgemergelte Kleinkinder; hungernde Menschen, die an den GHF-Hilfsausgabestellen vom israelischen Militär erschossen werden; Rettungskräfte, die tot aus improvisierten Massengräbern geborgen werden.

Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Vorgehen Israels ablehnt. Diese Haltung hat sich trotz einer Berichterstattung verfestigt, wobei zahlreiche deutsche Medienhäuser die Realität in Gaza verharmlost oder aktiv relativiert haben. Doch Fakten lassen sich auf Dauer nicht verdrängen. Laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza hat die israelische Armee seit dem 7. Oktober circa 56.000 Palästinenser*innen getötet – darunter knapp 16.000 Kinder, über 8.000 Frauen und fast 4.000 ältere Menschen. Mehr als 116.000 weitere Menschen wurden verletzt, viele von ihnen lebensverändernd oder mit Amputationen.

Unabhängige Schätzungen legen nahe, dass das tatsächliche Ausmaß der Gewalt weit über den offiziellen Zahlen liegt. Die Forschungsgruppe Costs of War Project geht etwa davon aus, dass die Zahlen viel höher liegen – zahlreiche Fachleute teilen diese Einschätzung. In einem offenen Brief an US-Präsident Joe Biden bezifferte eine Gruppe amerikanischer Ärzte die Zahl der direkt Getöteten auf rund 118.000. Das war im Oktober 2024.

Dass sich die exakte Zahl so schwer ermitteln lässt ist, liegt mitunter auch daran, dass Abertausende Menschen unter Trümmern begraben liegen. In Gaza haben sich mittlerweile schätzungsweise 50 Millionen Tonnen Schutt angesammelt. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass der Wiederaufbau Gazas knapp zwei Jahrzehnte andauern wird. All das ist minutiös dokumentiert, durch palästinensische Journalist*innen, unabhängige Beobachter*innen, medizinisches Personal – teils sogar durch israelische Soldaten.

Erosion einer wertebasierten Weltordnung

Dass ausgerechnet Deutschland – ein Land, das sich gern auf die Prinzipien der Nachkriegsordnung beruft – diese Verbrechen nicht nur nicht verhindert, sondern sie durch Waffenlieferungen, diplomatischen Rückhalt und Veto-Politik aktiv mit absichert, ist ein politisches und moralisches Versagen von historischem Ausmaß. Es steht symptomatisch für eine Erosion jener universellen Normen und Prinzipien, auf denen die internationale Ordnung nach 1945 gegründet wurde. Diese Ordnung war bereits vor Gaza brüchig. Nach Gaza wirkt sie geradezu irreparabel.

Wer den Anspruch ernst nimmt, aus der deutschen Geschichte Verantwortung abzuleiten, kann die systematische Vertreibung und Tötung Hunderttausender Menschen in Gaza, die Annexion des Westjordanlands oder auch den Tod Hunderter Zivilist*innen in Teheran nicht einfach als bloße Notwendigkeit abtun. Angesichts der aktuellen Entwicklungen wäre es absurd, von einem Paradigmenwechsel in der deutschen Israelpolitik zu sprechen. Es wäre hingegen alles andere als absurd, einen solchen Wandel längst einzufordern.