Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Shoah und linkes Selbstverständnis Bodemann (Hrsg.): Die erfundene Gemeinschaft; Berlin 2025

Erinnerungspolitik, Staat und (deutsches) Judentum

Information

Diese, vom kürzlich verstorbenen Soziologen Y. Michal Bodemann herausgegebene Publikation widmet sich in kritischer Absicht der Situation der Juden und Jüdinnen in Deutschland. Alle Texte wurden vor dem 7. Oktober 2023 verfasst. Konkreter Anlass dafür war die offizielle Kampagne «1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland», die 2021 stattfand, nicht, wie auf S. 9 des Bandes zu lesen ist, 2018. Bodemann hatte diese im April 2021 in einem pointierten Beitrag (hier online) ausführlich kritisiert.

Die sieben Beiträge des Bandes spannen den Bogen nun weiter und zugleich fundierter auf. Darja Klingenberg weist z.B. in ihrem Beitrag darauf hin, dass die These von der Sesshaftigkeit und der zeitlichen und räumlichen Kontinuität jüdischer Gemeinschaften (wie sie in der Kampagne grundlegend war) deren transnationalen, migrantischen und disaporischen Charakter unsichtbar gemacht habe. Nicht nur der lange Anfangsbeitrag von Bodemann und der von Joseph Cronin (Leiter des Leo Baeck Institutes in London) widmen sich der These, dass das deutsche Judentum durch die Shoah zerstört gewesen sei und die Überlebenden sich in Deutschland nach 1945 in einer sehr speziellen Situation befunden hätten. Der Zentralrat der Juden habe sich aus DPs, bzw. später aus deren Kindern zusammengesetzt und ein hierarchisches Politikmodell praktiziert. Es sei von einem Gabentausch geprägt gewesen (S. 82): Der Zentralrat als Vertretung aller Juden in (West-)Deutschland habe dem postnazistischen Staat Legitimität verliehen und auf eine echte Verfolgung der NS-TäterInnen verzichtet. Im Gegenzug habe er vom Staat Prestige, finanzielle Ressourcen und nicht zuletzt Schutz erhalten. Das Judentum, bzw. das Bild, das von ihm existierte, und das sehr wenig mit dem von vor 1933 zu tun gehabt habe, ja wegen der Shoah haben konnte, sei in die staatliche Erinnerungspolitik unter dem Leitmotto der Versöhnung eingebaut worden.

Durch die Einwanderung aus der Sowjetunion ab 1990/91 hat sich die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinden sehr verändert, bzw. sind heute weniger als die Hälfte der Juden und Jüdinnen überhaupt noch dort Mitglied, spielt säkulares Judentum eine weit größere Rolle als vor 1991. Das Bild der aktuellen wie vielzitierten «Vielfalt jüdischen Lebens» in Deutschland wird in einigen Beiträgen kritisiert. Oft komme es durch diese Vorstellung zu Mechanismen, die aus anderen, etwa antirassistischen Diskursen bekannt seien, etwa Andersmachung (Othering) und auch Aneignung (Cultural Appropriation). Der Beitrag von Sandra Anusiewicz-Baer untersucht dann jüdischen Religionsunterricht. Sie fragt, ob heute nicht eher Jewish Education unterrichtet werden müsste. Der bekannte Historiker Jannis Panagiotidis schreibt zur jüdischen Emigration aus der Sowjetunion und setzt diese spannend und mit viel Gewinn mit verschiedenen Tatsachen in Bezug, etwa der, dass bis in die 1950er Jahre Einwanderung aus Osteuropa in die Bundesrepublik der Normalfall gewesen sei, und nicht die aus dem mediterranen Raum. Panagiotidis untersucht auch die Frage, wie sich diese Einwanderung zum deutschen Philosemitismus verhielt, und wie sie sich in Denkweisen von Antisemitismus und von Rassismus gegen «Weiße», denn als solche wurden Juden und Jüdinnen gelesen, einschrieb.

Kurz zusammengefasst ein kluges und durchweg lesenswertes Buch, das einige neue und streitbare Thesen und perspektiven enthält, und gerade deswegen zum Nachdenken und Diskutieren anregt.


Y. Michal Bodemann (Hrsg.): Die erfundene Gemeinschaft. Erinnerungspolitik, Staat und Judentum; Verbrecher Verlag, Berlin 2025, 192 Seiten, 20 Euro


Transparenzhinweis: Die Erstellung dieses Buches wurde durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit einer kleinen Summe gefördert.