
Der Kampf um die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes gehört zu den Konflikten in Vorderasien, die am dringendsten einer Lösung bedürfen. Die prekäre Lage der kurdischen Autonomie im Irak sowie ihrer De-facto-Selbstverwaltung in Rojava, der ins Stocken geratene Friedensprozess mit der Türkei und die Repression im Iran sind alles Faktoren, welche die strukturelle Unterdrückung und die soziale Ausgrenzung der Kurd*innen in der gesamten Region befördern. Die im letzten Monat verkündete Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) weckte Hoffnungen auf eine friedliche Lösung, angesichts der zentralen Rolle der Partei in der kurdischen Bewegung sorgte diese Entscheidung aber auch für Verunsicherung.
Fayik Yagizay ist der Vertreter der «Partei für Gleichheit und Demokratie des Volkes» (DEM) im Europarat.
Philip Degenhardt ist Bereichsleiter des Zentrums für Internationalen Dialogs der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Um mehr über die aktuelle Entwicklung und die Aussichten auf Freiheit und Selbstbestimmung für die kurdische Bevölkerung zu erfahren, sprach Philip Degenhardt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Fayik Yagizay, dem Vertreter für der DEM-Partei (Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi, dt. etwa: Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker) beim Europarat in Straßburg. Yagizay erläutert den aktuellen Zustand der kurdischen Bewegung, die jüngsten Entwicklungen in Syrien und in der Türkei und plädiert nachdrücklich für internationale Anerkennung und Solidarität mit der kurdischen Sache.
Philip Degenhardt: Setzen wir das Thema doch in einen breiteren Kontext. Wie würdest du die Lage der kurdischen Selbstbestimmungsbewegung in den vier Staaten beschreiben, in denen das kurdische Volk lebt?
Fayik Yagizay: Wir sind in einer entscheidenden Phase. Die kurdische Sache hat zwar politisch und institutionell Fortschritte gemacht, aber diese Errungenschaften sind nicht auf festen Grund gebaut und ständigen Gefahren ausgesetzt. In der kurdischen Region im Irak haben wir zwar eine autonome Verwaltung mit einem funktionierenden Parlament und internationaler Anerkennung, aber längst noch keine echte Gerechtigkeit oder Demokratie. Korruption ist weit verbreitet, die soziale Versorgung ist mangelhaft und der politische Pluralismus begrenzt. Von außen mag es besser aussehen als vorher, die Menschen vor Ort kämpfen aber immer noch mit vielen Schwierigkeiten.
In Sinjar ist die Lage sogar noch schlimmer. Nach der Vertreibung des IS versuchte die jesidische Gemeinschaft, eigene autonome Strukturen aufzubauen. Sie verfügt über eigene Sicherheitskräfte und eine Zivilverwaltung und will weder der Regierung der Region Kurdistan (KRG) noch dem irakischen Zentralstaat unterstehen, die sie beide während der IS-Angriffe im Stich gelassen hatten. Heute befindet sie sich jedoch im Belagerungszustand. Die Ein- und Ausreise wird kontrolliert und die Lieferung humanitärer Hilfsgüter behindert. Die Region ist wirtschaftlich und politisch völlig abgeschnitten. Trotz aller internationaler Verlautbarungen werden von den 5.000 vom IS entführten Frauen nach wie vor mehr als 2.000 vermisst. Es gibt keine Gerechtigkeit, keine Anerkennung, keinen Wiederaufbau.
In Rojava – oder, wie wir jetzt sagen, in der Demokratischen Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) – ist es ganz ähnlich verlaufen. Die kurdisch geführte Verwaltung hat demokratische, integrative Institutionen unter Beteiligung aller ethnischen und religiösen Gruppen aufgebaut, aber das syrische Regime hat sich in der gleichen Zeit nicht wesentlich verändert. Auch nach Kriegsende wird der Staat weiterhin von Personen regiert, die zuvor islamistische Milizen wie Al-Qaida und Al-Nusra anführten. Sie haben die Uniform gewechselt, nicht jedoch die Ideologie.
Wenn die internationalen Akteur*innen wollen, dass die Waffen niedergelegt werden, müssen sie aufhören, politische Akteur*innen als Terrorist*innen zu behandeln.
Die internationale Gemeinschaft scheint bemüht um normale Beziehungen zu Ahmed al-Sharaa. Er wird in diplomatische Foren sowie nach Paris und in andere Hauptstädte eingeladen. Das ist äußerst gefährlich. Ohne Garantien oder Verfassungsreformen kann diese Normalisierung nämlich zu neuen Wellen der Repression führen. Al-Sharaa wird möglicherweise abwarten, bis er wirtschaftlich und diplomatisch gestärkt ist, und dann erneut versuchen, gegen die kurdische Autonomie vorzugehen.
Was müsste in Syrien passieren, um eine erneute Eskalation zu vermeiden?
Wir brauchen eine politische Lösung, keine militärische. Gemeint ist die völkerrechtliche Anerkennung der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien. Und die internationale Anerkennung der kurdischen Verwaltungen – nicht nur symbolisch, sondern gesetzlich und institutionell verankert. Im Moment befindet sich die Region im Belagerungszustand. Die Türkei hat ihre Grenzen geschlossen, die syrische Regierung legt sich politisch nicht fest und der Irak hält seine Restriktionen aufrecht. Unter derartigen Bedingungen ist es praktisch unmöglich, eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen.
Ahmed al-Sharaa sagt, für Wahlen oder eine neue Verfassung brauche es noch fünf Jahre, aber das ist inakzeptabel. Er will einfach fünf Jahre Zeit gewinnen, um seine Macht zu festigen und Syrien nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Das wäre aber eine Katastrophe – nicht nur für die Kurd*innen, sondern auch für religiöse Minderheiten, säkulare Araber*innen sowie fortschrittliche Kräfte in Syrien.
Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, jetzt einen verfassungsgebenden Prozess zu unterstützen. Nicht in fünf Jahren, nicht nach dem Abzug der US-Truppen, nicht nach neuen Vertreibungswellen – jetzt. Wenn die USA und andere Länder ein stabiles Syrien wollen, müssen sie sich für ein dezentralisiertes und inklusives System einsetzen, das die Rechte der Kurd*innen und der Minderheiten garantiert.
Wie würdest du den aktuellen Stand des Friedensprozesses mit der Türkei beschreiben?
Es gibt zurzeit keinen echten Prozess. Nach Öcalans Aufruf hatte die PKK beschlossen, die Waffen niederzulegen, sich selbst aufzulösen und eine demokratische Lösung anzustreben. Das war eine historische Entscheidung, aber die Türkei hat bisher keinen der erforderlichen weiterführenden Schritte unternommen. Öcalan ist weiterhin komplett isoliert. Er hat keinen Kontakt zu Anwält*innen, Journalist*innen, Familienangehörigen oder politischen Ansprechpartner*innen.
Der türkische Staat will Frieden schaffen, ohne einen Dialog zu führen, aber so funktioniert Frieden nicht. Die PKK hat ganz klar gesagt: Wir wollen die Waffen niederlegen, aber wir kapitulieren nicht. Wir wollen politische Teilhabe. Aber wo ist der rechtliche Rahmen dafür? Werden Kämpfer*innen ins Gefängnis kommen? Oder ausgewiesen? Wer bekommt die Waffen? Wo werden sie hingehen?
Frieden bietet die größte Chance auf Einheit. Wenn die Türkei und Syrien sich auf Verhandlungslösungen zubewegen, werden sich die Kurden in allen vier Teilen der Region viel leichter organisieren können.
Die Türkei lehnt jedwede Vermittlung durch Dritte ab. Es gibt keinen Überwachungsmechanismus, keine Amnestie und keinen Fahrplan. Unterdessen sitzen Tausende von Mitgliedern der HDP und der DEM im Gefängnis. Die Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sind immer noch inhaftiert. Zehn der gewählten Bürgermeister*innen wurden abgesetzt und durch Treuhänder*innen ersetzt. Selbst kranke politische Gefangene werden nicht freigelassen.
Das sind keine Nebensächlichkeiten, sondern wesentliche Punkte für die Legitimität. Frieden ist kein Wort, sondern ein Prozess, der Vertrauen, Rechenschaftspflicht und eine entsprechende Infrastruktur braucht. Wir sind dazu bereit, aber der türkische Staat bewegt sich nicht.
Europa begegnet der kurdischen Bewegung seit Langem mit Misstrauen oder gar offener Feindseligkeit und betrachtet die PKK als Terrororganisation. Wie wirkt sich dies auf die Dynamik der Verhandlungen aus?
Die PKK wurde im Jahr 2002 von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft. Zu diesem Zeitpunkt hatte die PKK bereits einen Waffenstillstand erklärt und sich in den Nordirak zurückgezogen. Wir hatten gehofft, dass die türkische Regierung nun in Verhandlungen eintreten würde. Stattdessen nutzte sie die Einstufung als Rechtfertigung dafür, den Dialog abzubrechen und alle kurdischen Forderungen zu kriminalisieren.
Heute lässt dieses Etikett fast keinen Raum für demokratische Politik. Die HDP und die DEM werden beschuldigt, Verbindungen zur PKK zu unterhalten, nur weil wir kurdische Interessen vertreten. Jede Forderung nach Autonomie oder Minderheitenrechten wird mit Terrorismus gleichgesetzt. Wenn die EU und die USA wirklich Frieden wollen, sollten sie diese Einstufung überdenken – nicht als einen Gefallen, sondern im Sinne der Anerkennung der politischen Realität. Die PKK kämpft nicht gegen Zivilist*innen, sondern strebt eine politische Lösung an. Wenn die internationalen Akteur*innen wollen, dass die Waffen niedergelegt werden, müssen sie aufhören, politische Akteur*innen als Terrorist*innen zu behandeln. Dies würde sowohl demokratische Akteur*innen, wie die HDP, als auch die Zivilgesellschaft in der Türkei stärken.
Wie siehst du die derzeitige Eskalation zwischen Israel und dem Iran, und was bedeutet diese für die Kurd*innen?
Wir sind prinzipiell gegen jeden Krieg. Die israelischen Angriffe auf den Iran sind gefährlich. Sie werden das Regime nicht demokratischer machen, sondern es im Gegenteil möglicherweise sogar noch stärken. Wir lehnen das iranische Regime ab. Wir kämpfen gegen dessen Autoritarismus und gegen die Verweigerung von Rechten für Kurd*innen, Araber*innen, Belutsch*innen, Azeri und Frauen. Viele unserer Freund*innen sind aus politischen Gründen hingerichtet worden. Aber mit Bombenangriffen wird man keinen Wandel herbeiführen.
Wir unterstützen die Proteste, die nach der Ermordung von Mahsa Jîna Amini begonnen haben. So wird der Wandel kommen – von unten, durch demokratischen Widerstand. Statt militärisch zu eskalieren, sollten internationale Akteur*innen diese Bewegungen unterstützen.
Ist eine kurdische Einheit angesichts der unterschiedlichen Bündnisse und Machtverhältnisse in den einzelnen Ländern überhaupt möglich?
Sie ist schwer zu erreichen, aber nicht unmöglich. Es hat durchaus positive Entwicklungen gegeben. Mesut Barzani traf sich mit Mazlum Abdi von der Autonomen Verwaltung in Rojava. Die Entscheidung der PKK, die Waffen niederzulegen, wurde von den Akteur*innen im Irak und in Syrien begrüßt. Es hat eine Konferenz gegeben, um eine gemeinsame kurdische Position gegenüber dem syrischen Regime zu erarbeiten.
Dies sind wichtige Schritte, aber natürlich gibt es noch viele Herausforderungen. Die KRG hat enge Beziehungen zur Türkei, einschließlich wirtschaftlicher Abhängigkeiten, während die Patriotische Union Kurdistans (PUK) enge Handelsbeziehungen zum Iran unterhält. Diese regionalen Allianzen erschweren die Einheit, aber das gemeinsame Ziel – Anerkennung und Selbstbestimmung – bleibt.
Solidarität bedeutet, Partei zu ergreifen – nicht Krieg zu führen, sondern für die Würde der Menschen zu kämpfen.
Frieden bietet die größte Chance auf Einheit. Wenn die Türkei und Syrien sich auf Verhandlungslösungen zubewegen, werden sich die Kurden in allen vier Teilen der Region viel leichter organisieren können. Vorrangig muss Rojava jetzt einen Rechtsstatus bekommen, und es muss sichergestellt werden, dass kurdische Stimmen in der Türkei gehört werden, ohne Verfolgung befürchten zu müssen.
Wie können progressive und sozialistische Bewegungen in Europa die kurdische Sache am besten unterstützen?
Regierungen handeln nach Interessen, fortschrittliche Kräfte nach Werten. Deshalb blicken wir auf die Zivilgesellschaft, politische Bewegungen und Organisationen wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ihr seid ja nicht neutral, sondern orientiert euch an den Grundsätzen von Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit.
Wir bitten euch daher um vier Formen der Unterstützung. Erstens: Unterstützt die Friedenskonsolidierung – durch politischen Druck, Projekte und Solidarität. Zweitens: Unterstützt Bildung und Dialog – helft den Menschen in Europa, die kurdische Frage in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen. Drittens: Unterstützt lokale Initiativen – Gemeindeverwaltungen, Genossenschaften, Sozial- und Umweltprojekte. Viertens: Helft dabei, Druck auf eure Regierung auszuüben. Fragt sie, warum sie die Türkei weiterhin mit Waffen beliefert oder Ahmed al-Sharaa ohne Bedingungen legitimiert.
Solidarität bedeutet, Partei zu ergreifen. Nicht Krieg zu führen, sondern für die Würde der Menschen zu kämpfen. Wir brauchen keine Almosen, wir brauchen Bündnisse.
Übersetzt von Margarete Gerber und Sebastian Landsberger für Gegensatz Translation Collective.