
Wir leben in extrem politisierten Zeiten. Die Diskussionen ändern sich schnell und sind oft hitzig. Manchmal werden absichtlich falsche Behauptungen aufgestellt, und es ist nicht immer leicht, Fake News von Fakten zu unterscheiden. In unserer Serie «Was ist eigentlich …?» erklären wir wichtige Begriffe aus der politischen Diskussion und zeigen, welche Interessen und Konflikte dahinterstecken.
Ein Genozid – auch Völkermord genannt – ist die gezielte, systematische Vernichtung einer Gruppe von Menschen, etwa aufgrund von Ethnizität, Religion oder Nationalität. Geprägt wurde der Begriff vom polnischen Juristen Raphael Lemkin, der sich intensiv mit dem Genozid an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich (1915 bis 1916) auseinandersetzte. Unter dem Eindruck des vom deutschen Nationalsozialismus verübten Holocaust wurde der Genozid 1948 völkerrechtlich geächtet: Die damaligen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten einstimmig die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes.
Genozid vor Gericht
Die Strafverfolgung von Völkermord unterliegt dem Weltrechtsprinzip, das heißt: Solche Verbrechen können überall auf der Welt verhandelt werden, unabhängig vom Tatort oder der Nationalität der Täter*innen oder Opfer. Auf internationaler Ebene sind Staaten vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und Einzelpersonen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) anklagbar.
Aktuell viel diskutiert wird der Vorwurf, Israel begehe einen Genozid in Gaza. Südafrika reichte Ende 2023 Klage gegen Israel wegen Verstoßes gegen die Völkermordkonvention ein. Der IGH hat noch kein Urteil gefällt. Aber er hat Israel aufgerufen, Hilfslieferungen nach Gaza freizugeben, um einen Genozid zu verhindern. Der Nachweis eines Genozids ist komplex, insbesondere die Absicht eines Genozids ist schwer nachzuweisen. Außerdem wäre ein Urteil schwer durchzusetzen. Der UN-Sicherheitsrat, der das könnte, ist oft durch das Vetorecht seiner ständigen Mitglieder blockiert. So wird ihm vorgeworfen, trotz anfänglicher Militärpräsenz und Warnzeichen in Ruanda den Genozid gegen die Tutsi nicht verhindert zu haben.
Erinnerung, Anerkennung, Reparationen
«Nie wieder» heißt es oft nach einem Genozid – sofern er anerkannt wird. Für Überlebende und Nachfahr*innen der Opfer ist die Anerkennung der Verbrechen sowie eine Rechenschaftspflicht der Täter entscheidend für den Heilungsprozess. Dafür ist eine gesellschaftliche Erinnerungskultur wichtig. In Ruanda wird beispielsweise jedes Jahr im April an den Genozid gegen die Tutsi erinnert, in Bosnien an die systematische Ermordung der Opfer von Srebrenica.
Doch nicht alle Genozide werden anerkannt – etwa Verbrechen des Kolonialismus und der Sklaverei. In Namibia kämpfen die Ovaherero und Nama bis heute, dass die Massaker der deutschen Kolonialtruppen als erster Genozid des 20. Jahrhunderts anerkannt werden und der Rechtsnachfolger, die Bundesrepublik Deutschland, Reparationen zahlt.
Die Beispiellosigkeit des Holocaust
Die internationale Holocaust- und Genozidforschung verbindet Geschichte, Anthropologie, Psychologie oder Kulturwissenschaften. Besonders in Deutschland wird dabei immer wieder die Frage debattiert, ob der Holocaust überhaupt mit anderen Genoziden vergleichbar ist. Während die einen betonen, dass die industrielle Ermordung der Jüdinnen und Juden historisch einzigartig sei, plädieren andere, dass zwischen Vergleich und Gleichsetzung unterschieden werden müsse. Gerade die Untersuchung von Ähnlichkeiten und Unterschieden könnte helfen, die Besonderheit des Holocaust zu verstehen.