
«Liberation Day»
Der 2. April dieses Jahres, der sogenannte Liberation Day, an dem Donald Trump gegen jeden Staat der Welt weitreichende Handelszölle ankündigte, gilt vielen politischen Beobachter*innen als eine historische Zäsur. Jedoch gehen die Meinungen der Expert*innen sehr weit auseinander, was die langfristigen geopolitischen Konsequenzen dieser Zäsur und die mittel- und kurzfristigen strategischen Ziele der handelnden Akteure, vor allem der USA, betrifft. Bedeutet der «Liberation Day» das Ende der transatlantisch geprägten Globalisierung und die Wiederkehr eines nationalistischen Protektionismus oder ein gänzlich neues Globalisierungsmodell in einer zunehmend multipolaren Welt? Gelingt es den USA, ihre globale Dominanz wieder machtvoll durchzusetzen und die Produktionsketten und Finanzströme in ihrem Sinne zu reorganisieren oder beschleunigt ihre aggressive Zollpolitik den sich ohnehin vollziehenden Wandel des globalen Handels und die Entstehung neuer Institutionen für Zahlungsverkehr und Kapitalflüsse?
Jan Turowski ist Leiter des Beijing Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Von 2012 bis 2019 war er Assoziierter Professor für Politische Wissenschaft an der «Southeast University» in Nanjing.
Trumps Zölle sind selbstverständlich auch in China sowohl in den sozialen als auch den offiziellen Medien ein bestimmendes Thema und wie im Rest der Welt findet sich auch hier eine enorme Bandbreite an Analysen, Bewertungen und entsprechenden strategischen Handlungsempfehlungen. Anderseits ist die Debatte in China von mindestens drei spezifischen Diskussionssträngen bestimmt, die sich so sonst wo nicht finden lassen. Auch wenn die am «Liberation Day» verkündeten Einfuhrzölle fast alle Länder der Welt, einschließlich US-Verbündete, betreffen, herrscht hier erstens Einhelligkeit darüber, dass sich der Handelskrieg vor allem gegen China richtet und ein zentraler Bestandteil US-amerikanischer Konfrontationspolitik und des neuen Kalten Krieges ist. Zweitens wird in der chinesischen Debatte viel stärker auf den Handelskrieg und die Sanktionspolitik der USA unter den Vorgängerregierungen Bezug genommen. Und drittens: China sieht sich in diesem Wirtschaftskrieg gut aufgestellt. Man hat aus den Erfahrungen mit der ersten Trump-Regierung oder dem Technologie-Embargo der Biden-Regierung gelernt: Man hat die Handelbeziehungen diversifiziert, in Technologieentwicklung und -forschung investiert und sich vom US-Dollar graduell unabhängig gemacht.
China ist das eigentliche Ziel
Auch wenn China selbst lange davon profitierte, sieht Beijing das gegenwärtige Weltwirtschaftssystem und seine Institutionen heute zunehmend kritisch. Die USA werden seit Jahrzehnten vom Finanzkapital und von der Dynamik fiktiven Kapitals dominiert. Das «exorbitante Privileg» des US-Dollars als Weltreservewährung ermöglichte es den USA, ihre Inflation zu exportieren und jahrzehntelang ein massives Handelsdefizit aufrechtzuerhalten. Dies führte zu einer massiven Deindustrialisierung der USA. Gleichzeitig mussten US-Dollar als Investitionen in US-amerikanische Vermögenswerte und über Staatsschulden (sogenannte treasury bonds) in die Vereinigten Staaten zurückfließen. Diese Entwicklung schuf einen überdimensionierten, volatilen Finanzsektor und verstärkte die Einkommens- und Vermögensungleichheit. In der chinesischen Debatte wird diese weltwirtschaftliche Konstellation schon lange als dysfunktional betrachtet.
Da diese politökonomische Entwicklung nicht endlos fortgesetzt werden kann, ohne dass es früher oder später zu einem Finanzkollaps und einer neuen Weltwirtschaftskrise kommt, fand sich in China sogar ein gewisses Verständnis für Trumps Ansatz, die Parameter der US-Ökonomie zu verändern. Gleichwohl wird Trumps Politik, primär Handelsfragen anzugehen, in der Hoffnung, die Auswirkungen der strukturellen Finanzialisierung und Deindustrialisierung zu überwinden, einhellig als aussichtsloses Unterfangen angesehen. Wie fehlgeleitet diese Politik aus chinesischer Sicht auch gewesen sein mag, für Beijing wandelte sie sich ohnehin innerhalb kürzester Zeit in einen Wirtschaftskrieg.
Nachdem bereits die Ankündigung von Einfuhrzöllen eine ganze Reihe von Problemen mit sich gebracht hatte, vor allem auf dem US-Anleihemarkt und an der Wall Street, verkündete Trump am 9. April, die Zölle für viele Länder für 90 Tage aussetzen zu wollen. Davon ausgenommen war China. Hier erhöhte er stattdessen die Zölle alle paar Tage auf bis zu 245 Prozent. Dies hatte am Ende ohnehin nur noch symbolischen Wert, denn wenn Zölle Wert von 70 oder gar 100 Prozent überschreiten, bricht der Handel schlichtweg ab. Trump versuchte also, China zu bestrafen und im Rahmen des neuen Kalten Krieges als besonders hart und unnachgiebig zu wirken. Es wurde ebenfalls schnell deutlich, dass die Zölle auch als politisches Druckmittel genutzt werden sollten.
Die Trump-Regierung will China ökonomisch isolieren. So versprach sie beispielsweise einigen Staaten in Asien und anderswo, die neuen Zollauflagen zu lockern, wenn diese ihre Wirtschaftsbeziehungen zu China kappen würden, oder drohte ihnen sekundäre Sanktionen an.
Doch zugleich erließ Trump bereits am 11. April, ohne dass dies allzu große mediale Aufmerksamkeit erfuhr, eine Durchführungsverordnung, die Ausnahmen für die wichtigsten Exporte aus China, nämlich Mobiltelefone, Computer, Halbleiter und andere Elektronikgeräte, zuließ. Trotz großspuriger Rhetorik musste er eingestehen, dass die US-Wirtschaft ohne diese wichtigen Elektronikprodukte keine Woche überstehen kann. Mitte Mai gab es daraufhin hochrangige Verhandlungen zwischen Washington und Beijing in Genf, gefolgt von Verhandlungen Mitte Juni in London sowie einem Telefongespräch der Präsidenten zwischen Donald Trump und Xi Jinping. Damit scheinen die grundsätzlichen Spannungen und Widersprüche des Handelskriegs zwar nicht aufgelöst, aber die Eskalationsspirale zumindest vorerst unterbrochen zu sein.
Aus den Erfahrungen gelernt
Etwas fiel internationalen Beobachter*innen sofort auf: Während die Außenkommunikation der chinesischen Regierung traditionell eher reserviert und zurückhaltend ist, trat sie nun im Zusammenhang mit Trumps Zoll- und Wirtschaftskrieg von Anfang an resolut auf und machte klar, dass China nicht bereit sei, sich den US-Forderungen zu beugen. Wenn die USA den Wunsch hätten, über eine Neukalibrierung der wirtschaftlichen und geopolitischen Beziehungen zu verhandeln, dann müsse dies zwischen zwei gleichberechtigten Partnern geschehen, was zuerst einmal die Rücknahme der einseitig verhängten Zölle und Sanktionen erfordere. Wenn die USA dazu nicht bereit seien, mache es für China keinen Sinn, noch mehr Zeit in dieser Beziehung zu verschwenden.
Diese Position, dass den USA nicht zu vertrauen ist, ist Ausdruck der vorherrschenden Grundstimmung in China. Absprachen, Übereinkünfte und sogar Verträge, so der Vorwurf, würden von den USA immer wieder gebrochen.
Sowohl die Erfahrungen mit der ersten Amtszeit von Trump als auch die mit der Biden-Administration haben nicht nur in der politischen Klasse Chinas, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit zu der Überzeugung geführt: Die USA sind kein ehrlicher und zuverlässiger Verhandlungspartner.
Um diese Sichtweise zu verstehen, ist es sinnvoll einen kurzen Blick auf den Wirtschaftskrieg während der ersten Trump-Präsidentschaft zu werfen. Im April 2017 besuchte der chinesische Präsident Xi Jinping Donald Trump in Mar-o-Lago und man vereinbarte eine Art 100-Tage-Programm, bei dem sich China verpflichtete, mehr Waren aus den USA zu erwerben. Dies war ein einseitiges Versprechen Chinas und angesichts der harschen Anti-China-Rhetorik in Trumps Wahlkampf ein Zeichen des guten Willens und der Bereitschaft, die Sorgen und Bedürfnisse der Gegenseite ernst zu nehmen. Im Dezember 2017 trafen sich Xi und Trump in Beijing und unterzeichneten ein «Memorandum of Understanding», in dem China versprach, US-Waren, darunter Soja, Rindfleisch, Flugzeuge etc., im Wert von 250 Milliarden US-Dollar zu kaufen. Im Januar 2018 verhängte Trump zunächst Zölle in Höhe von 30 bis 50 Prozent auf Solarmodule, danach im März 2018 auf Stahl und Aluminium. Am 22. März 2018 unterzeichnete Trump ein Memorandum, in dem er den Handelsbeauftragten der USA anwies, Zölle in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar auf chinesische Waren zu erheben. Im Juli wurde eine Liste chinesischer Produkte im Wert von etwa 200 Milliarden US-Dollar veröffentlicht, die zusätzlich zu den üblichen Einfuhrzöllen mit einem Zoll von 10 Prozent belegt werden sollten. Im August 2018 wurde der Verkauf aller Huawei-Geräte in den USA verboten, im Dezember 2018 wurde die Huawei-Managerin Meng Wenzhou in Kanada auf Betreiben der US-Justizbehörden festgenommen. Trotz dieser Spannungen trafen sich Xi Jinping und Donald Trump am Rande des G20-Gipfels in Buenos Aires und verkündeten eine Art Waffenstillstand. Dann, im Mai 2019, kurz nach diesem Waffenstillstand, kündigte Trump eine weitere Erhöhung der Zölle von 10 auf 25 Prozent für chinesische Waren im Wert von 200 Milliarden US-Dollar an. Im Dezember gaben China und die USA dann bekannt, dass sie Handelsabkommen geschlossen hätten und dass sich China verpflichtet habe, zusätzlich zu den bereits zugesagten Käufen weitere US-amerikanische Waren im Wert von 200 Milliarden US-Dollar zu erwerben. Doch schon im August 2020 drohte Trump, TikTok in den USA zu verbieten, wenn es nicht innerhalb von 90 Tagen von einem US-Unternehmen gekauft werden würde. Im Dezember 2020 wurden dann sowohl das Unternehmen Semiconductor Manufactuting International Corporation (SMIC) als auch Zhong Xing Telecommunication Equipment (ZTE) mit US-Handelsbeschränkungen belegt.
Während der ersten Trump-Präsidentschaft hat China – so zumindest die Sichtweise seiner Regierung – immer nachgegeben, immer mehr Zugeständnisse gemacht, während Trump immer mehr Güter auf die Zollliste gesetzt, immer mehr Zölle eingeführt und bereits bestehende Zölle erhöht hat. In diese Falle wird China – das ist die allgemeine Stimmung im Land – nicht noch einmal tappen.
Auf den Handelskrieg gut vorbereitet
Die Welt ist heute eine andere. China glaubt guten Grund zu haben, sich den USA selbstbewusst entgegenzustellen zu können. Entgegen veralteter Klischees ist Chinas Wirtschaft nicht länger überdurchschnittlich stark von Exporten abhängig. Exporte machen nur noch 19,7 Prozent des chinesischen Bruttoinlandprodukts (BIP) aus, weit entfernt von den 36 Prozent im Jahr 2006. 2,7 Prozent des chinesischen Wirtschaftswachstums generieren sich aus Exporten in die USA. Chinas BIP ist im ersten Quartal dieses Jahres um 5,4 Prozent gewachsen, das heißt, sein BIP wächst schneller als der Anteil des US-Marktes am chinesischen Wachstum.
Heute werden etwa 80 Prozent der Produktion im verarbeitenden Gewerbe in China von der Binnenwirtschaft konsumiert, in einigen Sektoren wie beispielsweise bei Elektrofahrzeugen sind es sogar über 90 Prozent. Die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft spiegelt strategische Prioritäten und Anpassungen im Laufe der Zeit wider, die Stabilität, Innovation und sozialen Aufstieg für Hunderte Millionen Menschen gebracht haben. Der Konsum der privaten Haushalte in China wächst weiterhin stark. Er ist in den letzten 25 Jahren sowohl absolut als auch relativ zum BIP gewachsen. Das Konsumwachstum wird von steigenden Realeinkommen gestützt, die wiederum durch anhaltende öffentliche und private Investitionen in die Kapitalbildung angetrieben werden.
In einer Rede am Rande der Frühjahrstagungen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sprach US-Finanzminister Scott Bessent von der Notwendigkeit, China zu verändern, und von der Verantwortung der USA, dies zu tun. Er berief sich dabei auf das Jahrzehnte geltende «Vorrecht» der USA auf, Entwicklungsländer wie China nach dem eigenen Bild zu «formen und zu gestalten». Während US-amerikanische Politiker*innen also in den 1990er-Jahren steckengeblieben zu sein scheinen und China immer noch als Sweatshop für billige Waren für Walmart-Regale sehen, haben sich die Verhältnisse längst gewandelt. Seit Jahren sind die USA nicht mehr der wichtigste Exportmarkt Chinas, die ASEAN-Staaten haben sie 2016 als wichtigster Handelspartner Chinas abgelöst. Im Unterschied zur von den USA dominierten Weltkarte vor etwa 25 Jahren sind für viele Länder heute die wirtschaftlichen Beziehungen zu China mindestens genauso wichtig oder sogar noch wichtiger als ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.
China schien bei Trumps Wirtschaftskrieg 1.0 noch auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein, doch es hat es sich seitdem auf einen Wirtschaftskrieg 2.0 zielsicher vorbereitet. Chinesische Unternehmen haben nach alternativen Märkten gesucht, haben Produktionslinien verlagert und sogar ihre Geschäftsmodelle geändert, um sich an die neue Welt, an Regionalisierung und Fragmentierung anzupassen.
Vor allem im Technologiebereich konnte China seine Abhängigkeit reduzieren und zum Westen, insbesondere zu den USA, aufschließen. Das gilt für Halbleiter, Drohnen, künstliche Intelligenz, Medizintechnik und grüne Technologie. Und schließlich hat China inzwischen eigene Druckmittel, die es im Wirtschaftskrieg mit den USA präzise einzusetzen weiß. So lieferten die USA im Jahr 2023 Agrarprodukte im Wert von rund 33 Milliarden US-Dollar nach China, hinzu kamen Öl, Gas und Kohle im Wert von etwa 15 Milliarden US-Dollar. Der Verlust des chinesischen Marktes wäre ein schwerer Schlag für die US-amerikanische Landwirte. Ein weiterer Pluspunkt Chinas ist seine Kontrolle über sogenannte kritische Mineralien.
Seltene Erden
Vor allem in Form von Exportbeschränkungen einnimmt, verfügt China nun über «Verhandlungsmasse». Über Chinas Quasi-Monopol bei Seltenen Erden wird schon seit Jahren berichtet und diskutiert, doch erst in diesem Jahr hat China ernst gemacht und «diese Karte gezogen». Die Exportbeschränkungen Seltener Erden scheinen sinnbildlich für den gesamten Wirtschafts- und Handelskrieg zu stehen. Denn seit Jahren warnte China Washington vor den Folgen eines Technologie-Embargos und dem Versuch, China von der globalen Technologieentwicklung abzuschneiden. Mit bemerkenswerter Zurückhaltung gab Beijing hierzu immer wieder Erklärungen ab, sprach hinter den Kulissen Warnungen aus und signalisierte, dass Washingtons Eskalation nicht unbeantwortet bleiben würde. Aber Washington hörte nicht zu. Überheblichkeit und eine rassistische Weltanschauung haben US-Politiker*innen taub für nicht-westliche strategische Überlegungen gemacht. Zurückhaltung wurde mit Schwäche verwechselt.
Jetzt, da die USA mit einem gravierenden Mangel an wichtigen Ressourcen konfrontiert sind, hat sich diese Fehleinschätzung zu einer strategischen Belastung entwickelt. Als die USA in den letzten Jahren die Exportkontrollen, schwarze Listen und Sanktionen verschärft, um China den Zugang zu hochwertigen Halbleitern zu versperren, reagierte China nicht kurzsichtig, sondern systemisch und begann bei den Rohstoffen. Während sich die USA auf den nachgelagerten Bereich konzentrierten, wo Chips geätzt und getestet werden, baute China seine eigenen nachgelagerten Kapazitäten aus und festigte gleichzeitig seine Kontrolle über den vorgelagerten Bereich: die Seltenen Erden, die das gesamte System funktionsfähig machen.
Eine Welt im Umbruch
In China ist man sich klar darüber, dass die Trumpsche Zollpolitik soziale Kosten verursachen und Spannungen und Friktionen erzeugen wird. Doch aus Chinas Sicht befinden wir uns in einer Phase der Weltgeschichte, in der erhebliche Brüche und Umwälzungen der bestehenden Ordnung im Gange sind. Die jüngsten Zollbeschlüsse und die Entscheidung der Trump-Administration, sich aus globalen Institutionen zurückzuziehen, sind nicht die Ursache dafür, sondern beschleunigen nur bestimmte Entwicklungen. Im ersten Halbjahr 2025 fanden drei Gipfeltreffen statt: das China–Afrika-Kooperations-Forum (FORAC), der Südamerika-Karibik-China-Gipfel (CELAC) und der Golfstaaten-ASEAN-China-Gipfel, auf denen eine Vielzahl an Handels- und Investitionsabkommen verabschiedet wurden. Die von der Trump-Regierung verfolgte Strategie, China zu isolieren, hat also nicht funktioniert und die wirtschaftliche Neuorientierung der Weltregionen schreitet trotz und wegen des «Liberation Day» voran.
