Nachricht | Geschichte - Rosa Luxemburg Rosa Luxemburg: Theorie, Kontext, Aktualität.

Bericht über die Internationale Konferenz zum 140. Geburtstag von Rosa Luxemburg in Moskau von Eckhard Müller.

Dank der Initiative und der Bemühungen des Moskauer Büros der RLS bot am 5. und 6. Oktober 2011 das Russische Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte in Moskau (ehemals Zentrales Parteiarchiv der KPdSU), wo der Nachlass von Rosa Luxemburg verwahrt wird, erstmals die Heimstatt für die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz. Neben dem Russischen Staatsarchiv fungierten als Veranstalter die Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft e.V., die Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung und die russische Stiftung „Alternativy“. Als Manuskriptdruck lagen Abstracts nahezu von allen Vorträgen vor. Thematische Schwerpunkte der Konferenz waren die ökonomischen Schriften Rosa Luxemburgs, ihr Verhältnis zu Russland und ihre Denkanstöße zur Lösung der Gegenwartsprobleme.

Eine Ausstellung des Archivs zur Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung empfing die über 90 Teilnehmer. Auf einer Tafel wurden Dokumente aus der Feder Rosa Luxemburgs präsentiert, darunter eine Seite aus ihrem handschriftlichen russischen Manuskript „Credo“ zur komplizierten Lage in der russischen Sozialdemokratie 1911 und das Deckblatt zum Aktenbestand „Oberreichsanwalt“ zum Prozess gegen Rosa Luxemburg um die Herausgabe und das Verbot der Zeitschrift „Die Internationale“ 1915. Derart eingestimmt entfaltete sich nach den Vorträgen von Referenten aus Argentinien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Russland und den USA im Plenum und in Arbeitskreisen eine rege Diskussion von Historikern, Ökonomen, Philosophen und Literaturwissenschaftlern.

Als erstes wurde die Themen: Rosa Luxemburg und „Weltpolitik“. Weltwirtschaft und Imperialismus, Theorie des Imperialismus und der moderne Kapitalismus behandelt. Deutlich zeigte sich dabei, dass das Interesse an Rosa Luxemburg und ihren ökonomischen Schriften „Einführung in die Nationalökonomie“, „Die Akkumulation des Kapitals“ und „ Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Anti-Kritik“ und ihren Auffassungen zum untrennbaren Zusammenhang von Sozialismus und Demokratie globalen Charakter hat.

Die Vorträge und Diskussionen waren eng verknüpft mit Russlands Entwicklungsproblemen eines wilden und ungezügelten Kapitalismus, der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise und dem Schweigen und Nichtwiderstands der Arbeiterklasse durch ihre Fragmentierung nicht nur in Russland. Widerspruch fand die Einschätzung, dass in China entsprechend seiner Traditionen und Bedingungen das Demokratiekonzept von Rosa Luxemburg schon in weitem Maße verwirklicht sei. Als ein wichtiges Verdienst von Rosa Luxemburg wurde hervorgehoben, dass sie als Erste nach Marx die Rolle der Peripherien erörtert habe. Der historische Streit und die Auseinandersetzung um Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie und Lenins Theorie vom Imperialismus beruhten auf unterschiedlichen Erfahrungswelten und Situationen in Ost und West. Beide ergänzten sich, seien ebenbürtig und keine Feinde. Andererseits wurde charakterisiert, dass der Graben zwischen Lenin und Rosa Luxemburg  zwischen Bürokratismus und Demokratismus verläuft. Es wurde darauf verwiesen, dass Lenins Auszüge, Notizen und Bemerkungen zu Rosa Luxemburgs Akkumulationsschema nicht vollständig publiziert worden sind, aber im Leninbestand des Russischen Staatsarchivs vorhanden sind und ediert werden sollten. Die Debatten zwischen Vertretern der KPD und KPR(B) über diese Akkumulationsschemata in der Programmdiskussion in der Komintern von 1926 bis 1930 harren ebenfalls darauf, publiziert zu werden.

Das interne Entwicklungspotenzials des Kapitalismus habe Rosa Luxemburg unterschätzt. Eine Kontroverse gab es darüber, ob die Entwicklung der UdSSR  eine Art abhängiger oder unabhängiger Entwicklung vom Kapitalismus war. Am Beispiel Lateinamerikas wurde die Zerstörung und Verschwendung von Ressourcen durch die Kapitalisierung nichtkapitalistischer Gebiete belegt und alternativ ein sozialökologischer Umbau der Gesellschaft, manifestiert in den Ideen vom guten Leben und dem Aufbau einer neuen Zivilisation, gefordert. Die Frage nach der Inbesitznahme des sowjetischen Staatseigentums ab 1990 durch Komsomolfunktionäre als „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“, wurde als Überleitung des gesellschaftlichen Eigentums in Privateigentum gesehen und sei eine neue Erscheinung in der Geschichte. Der Neoliberalismus kann die Gründe für die Krisen nicht erklären. Allgemeiner Konsens war, dass sich die Aktualität der politischen Ökonomie, die Rosa Luxemburg wie Marx Weltwirtschaftsökonomie nannte, erhöht und der heutige Kapitalismus durch Schuldenwirtschaft gekennzeichnet ist.

Große Aufmerksamkeit fanden die Thesen zur Selbstorganisation der Lohnabhängigen von unten, um die Autonomie und den Widerstand der lebendigen Arbeit zu organisieren, die kollektiv und kooperativ zum Zerbrechen der kapitalistischen Verwertungsmaschine führen könne. Solche gemeinschaftlichen Institutionen wären heute die organisatorische Kraft der kollektiven Aneignung und gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.   

Am zweiten Konferenztag wurden  die Themen: Rosa Luxemburg und die Revolution von 1917 und Rosa Luxemburgs Kunst- und Kulturverständnis erörtert. Eine Polemik entzündete sich daran, ob die isolierte Revolution 1917 in Russland zeitgemäß war und einen Fortschritt darstellte. International sei diese kein Fehler gewesen, aber die Revolution sei durch Beschleunigung zu einer Fehlgeburt ausgewachsen. Die Experimente der Bolschewiki sind von den Volksmassen mit dem Bürgerkrieg, mit Millionen von Toten beim sozialistischen Aufbau und mit Repressionen bezahlt worden. Die Idee des Sozialismus kam in Misskredit und wird heute in Russland als Anbiederung an Stalin angepöbelt.

Als ein Symbol der Kultur erwies sich Rosa Luxemburg bei Analysen von geistigen und politischen Wechselwirkungen bzw. Beeinflussungen zwischen so unterschiedlichen Schriftstellern und Politikwissenschaftlern wie Rosa Luxemburg und A. Kollontai, O. Bauer, N. Bucharin, N. Ossinski, P. Kropotkin, M. Zwetajewa, A. Platonow und W. Abendroth.

Die Diskussion an beiden Tagen durchdrangen die unterschiedlichen Auffassungen Rosa Luxemburgs und Lenins zur Nationalitätenfrage und zur Autonomie. Zweifel erweckte die Hypothese, dass die angestrebte Zwei-Staaten-Lösung von Israel und Palästina im Nahen Osten nicht im Widerspruch zu den Auffassungen Rosa Luxemburgs steht.

Ein Höhepunkt der Konferenz war die Auszeichnung von Prof. Narahiko Ito, Vorsitzender der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft, mit dem Literaturpreis „Literati Network Award for Excellence 2011“, gestiftet vom Emerald Verlagshaus für seinen Aufsatz „Is the national question an aporia for humanity? How to read Rosa Luxemburgs`s ´The national question and autonomy`” [Ist die nationale Frage ein Widerspruch(Paradoxon) zur Menschlichkeit?] in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Research in Political Economy“, 2011, vol. 26.

Im Zuge der Vorbereitungsarbeiten von zwei Bänden zur Komplettierung der „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs wurden neue Forschungsergebnisse mitgeteilt. Zum einen betraf das ein Band mit den polnischen Schriften, die ¼ des Schriftgutes von ihr betreffen. Das Russlandbild Rosa Luxemburgs ergibt, dass für sie in dem Riesenreich nur ein gemeinsamer Kampf der verschiedenen Proletariate die einzige Aussicht auf einen erfolgreichen Sturz des Zarismus biete und eine Demokratisierung möglich sei. Bei der Vorbereitung der Edition eines neuen Bandes der deutschsprachigen Texte Rosa Luxemburgs wurden bisher unbekannte Polizeiberichte über Vorträge zur Popularisierung der Marxschen Ökonomie im Jahr 1907 vor insgesamt 4600 Berliner Sozialdemokraten aufgefunden, die vorgestellt wurden. Diese öffentlichen Vorträge waren eine Vorstufe und Grundlage zu ihrer Schrift „Einführung in die Nationalökonomie“, die zwar nur als Fragment überliefert ist, aber am umfassendsten Aufschluss über ihr Verständnis der politischen Ökonomie gibt. Insgesamt sind für diesen Band um die 300 Positionen aufgenommen worden.

In einem weiteren Beitrag über neue Forschungen wurden als Ursachen für die Zurückhaltung Rosa Luxemburgs zu den Bremer Linken im Ersten Weltkrieg und in der Novemberrevolution Differenzen in der Gewerkschaftsfrage, zum Problem der organisatorischen Selbständigkeit gegenüber dem Parteizentrum und ihr kompliziertes Verhältnis zu Karl Radek ermittelt.

Über die Umstände der Verhaftung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs am 15. Januar 1919 konnte als neues Dokument die Zeugenaussage von Erwin Marcusson, Sohn der Familie Marcusson aus Berlin-Wilmersdorf, aus Verhören  vor dem NKWD 1938 präsentiert werden. Erwin Marcusson war Mitglied der KPD und als Arzt und Kämpfer für Sozialhygiene in den Arbeitervierteln von Berlin tätig, 1933 für einige Monate in Haft und erhielt 1936 Asyl in der UdSSR. Unter den Beschuldigungen der Spionage und des Verrats an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war er 1938 gemeinsam mit seiner Frau verhaftet worden. Er konnte seine Unschuld zu beiden Anklagepunkten beweisen. Dank der Hilfe von Sophie Liebknecht wurde das Ehepaar 1940 aus der Untersuchungshaft entlassen, musste aber die UdSSR verlassen und wurde von den deutschen Behörden als Juden an der Grenze zu Polen abgeschoben. Die Kriegsjahre verbrachten sie in Kasachstan.

Die Debatten beider Tage setzten den theoretischen Diskurs aus den letzten beiden Jahrzehnten über das Erbe Rosa Luxemburgs fort. In die Diskussionen flossen immer wieder Informationen über Publikationen zu Rosa Luxemburg, wie z.B. die Bände über die Tagungen der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft, Bücher aus der Reihe „Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus“ des Karl Dietz Verlages Berlin und die Forschungsberichte der Rosa-Luxemburg- Stiftung Sachsen e.V., ein. Die internationale Aktualität Rosa Luxemburgs bezeugen der Anfang 2011 erschienene Auswahlband im Verso Verlag London mit Briefen Rosa Luxemburgs als erster von 14 Bänden im englischen Sprachraum, eine dreibändige Ausgabe mit Schriften Rosa Luxemburgs in Brasilien, geplante Ausgaben in Frankreich, Italien und Spanien.

Das Russische Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte lud alle Forscher ein, in seinen vielfältigen Beständen zu studieren. Eine große Resonanz sollte dieser Offerte sicher sein.

Das Moskauer Büro der RLS will alle gehaltenen Beiträge auf der Konferenz in einem Sammelband publizieren.